Von Raoul Hamlet
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Haupt- und Grundwiderspruch
In jüngster Zeit sind einige Texte zum Thema Klassen- und Identitätspolitik erschienen (z.B. Dowling/van Dyk/Graefe 2017 und Mezzadra/Neumann 2017). In dieser Debatte ist auch der Begriff des Hauptwiderspruchs aufgetaucht. Unseres Erachtens müssen wir zunächst klären, was ein Hauptwiderspruch ist, und diesem vom Grundwiderspruch unterscheiden, mit dem hier möglicherweise eine Verwechslung vorliegt. Das (Haupt-)Widerspruchsdenken geht auf Mao und seine Schrift „Über den Widerspruch“ zurück (Mao 1968) und damit auf einen politisch-strategischen Ansatz, der primär an der revolutionären Praxis der Gesellschaftsveränderung interessiert ist. Das bedeutet, im Gegensatz zu einem theorieimmanenten Ansatz, der analytisch verschiedene Widersprüche gleichrangig betrachten kann, eine gewisse Priorisierung anhand einer „Hauptkampflinie“, weil im konkreten Kampf und seinen jeweiligen historischen Bedingungen nicht alle Widersprüche gleich entwickelt sind und mit den vorhandenen revolutionären Kräften auch nicht zu allen Zeiten gleichrangig behandelt werden können. Die Widerspruchsbestimmung und -bearbeitung seitens der revolutionären Organisation ist entsprechend eine andere, je nachdem, in welchem Umfeld und Kontext sie operiert. Davon zu unterscheiden ist der Begriff „Grundwiderspruch“, der auf Marx zurückgeht (Marx 1983: 250), sich auch bei Engels (1962: 227) findet und der eine analytische Kategorie darstellt. Grundwiderspruch meint die basale Strukturierung einer gegebenen Gesellschaft anhand der systemischen und polarisierenden Spaltungslinie in Klassen, die im Kapitalismus durch Enteignung der Arbeitenden von den Produktionsmitteln, also den Gegensatz zwischen Arbeit und Kapital gekennzeichnet ist. Ein Beispiel: Droht eine hochgerüsteter Staat mit imperialistischem Krieg, könnte die Frage von Krieg und Frieden zum Hauptwiderspruch werden. Dieser ließe sich analytisch zwar auf die Kapitalakkumulation zurückführen, politisch-strategisch wäre aber auf die Kriegsfrage zu orientieren. Im Gegensatz zum Hauptwiderspruch, der durch praktische Erwägungen bestimmt ist und sich an ebensolchen orientiert, sich folglich in verschiedenen Kampfphasen auch ändern kann, ist der Grundwiderspruch innerhalb eine Produktionsweise unaufhebbar, d.h. er ändert sich nicht, solange diese besteht (auch wenn seine Erscheinungsformen unterschiedliche Gestalt annehmen können). An diesem Begriff gilt es unbedingt festzuhalten, weil sonst die Analytik der Gesellschaftsformation insgesamt ihre Tiefenschärfe verliert. Wie werden noch sehen, ob und inwiefern der Begriff eine Integration anderer Unterdrückungsverhältnisse ermöglicht. Des Weiteren sind die Begrifflichkeiten zu klären, mit denen der Ausdruck der gesellschaftlichen Widersprüche zu bestimmen ist.