Es bleiben die "Arschlöcher" - Urteil Prozess Hess-Marsch vom 07.11.2019

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Verhandlung und Urteil

Die Richterin hatte es geschafft, den bei der Festnahme hochaktiven Praktikanten in Uniform, der alles so genau dokumentiert hatte, ausfindig zu machen und als Zeuge einzubestellen. Der, mittlerweile Student des Bauingenieurwesen, gab von sich aus bereitwillig und umfassend Auskunft über die Festnahmesituation nach seiner Erinnerung. Er bezeichnete die Angeklagte als äußerst aggressiv und widerständig. Er behauptete, es hätte keinerlei Fixierung gegeben und die Angeklagte hätte die Herausgabe der Personaldokumente verweigert. Er sei froh, nicht mehr bei der Polizei zu sein, weil die Demosprüche eine Zumutung gewesen wären. Die Angeklagte hätte beleidigt und sich massiv gewehrt. Erinnern könne er sich nicht mehr genau an den Spruch, dokumentiert hätte er damals "Faschistenbulle" entgegen der "Faschistenschwuchtel" seines Gruppenleiters, aber auch letzteres könnte gewesen sein.

Als ihm der Film der Festnahme gezeigt wurde, musste er kleinlaut zugestehen, dass all seine Erinnerungen komplett falsch waren. Er selbst hatte die Handschellen angelegt, wo sich mensch fragt, wie dann auch noch ein Praktikant bei der Polizei Uniform tragen darf und Menschen aktiv die Freiheit nehmen kann und die Angeklagte während der ganzen fast einstündigen Prozedur, ohne Notwendigkeit massiv an die Wand drücken durfte, was seine professionellen Kollegen nicht taten. Er gestand zu, dass er sich den Kollegen gegenüber "zeigen wollte", erinnerte sich aller verschiedenen Details komplett falsch und fands dann selbst krass, dass sein Gedächtnis offensichtlich so fehl ging. Auch die Aggressivität der Angeklagten konnte er nicht mehr so feststellen, als er sah, in welch sexuell übergriffigem Druck die Frau bei der Personendurchsuchung kam. Und das unter dem alleinigen lügenhaften Ausgangs-Vorwurf der Beleidung, der keine Fixierung vorsieht und der im Verlauf der Verhandlung immer unwahrscheinlicher wurde.

Der ehemalige Praktikant wurde von Richterin und Anwältin deutlich gerügt, dass seine Aussagen, ggf. unter Eid, komplett falsch gewesen wären, obwohl er doch anfangs sehr von sich und seinem Bild überzeugt war.

Erstaunlicherweise liess selbst die Staatsanwaltschaft in ihrem Plädoyer den, die ganze Festnahmeszenerie auslösenden Faktor der Beleidung, als ausserordentlich unwahrscheinlich fallen und plädierte in diesem Punkt, sowie in den Vorwürfen der zwei angeblichen Widerstandshandlungen, genauso wie die Richterin, für Freispruch. Den in höchster Zumutung von der Angeklagten getätigten und gefilmten Ausspruch "ihr seid so Arschlöcher" blieb dann der Gerichtsbarkeit als alleinig zu verurteilender Tatbestand übrig und wurde mit 15 Tagessätzen à 15,- € bestraft, als offenbar letztes Zugeständnis gegenüber einer Exekutive mit einem Gruppenleiter der Polizei, der hier indirekt klar der Lüge bezichtigt wurde.

Die, vergleichsweise differenziert auftretende Richterin ging auf das abschliessende Statement der Beklagten ein und äusserte sich fast flehentlich, man müsse doch, bei all der gesellschaftlichen Schieflage, trotzdem am Rechtsstaat festhalten.

 

Das Abschluss-Statement der Beklagten, die also mit fast vollständigem Freispruch gehen konnte, ist im Folgenden dokumentiert:

Im Kapitalismus bist du weitenteils nur etwas wert, wenn du konsumierst.
Funktionieren solltest du, mußt du in diesem Kontext. Wenn du das nicht tust oder wenig kannst, bist du in der Leistungsgesellschaft weniger wert oder fällst im sozialen System immer weiter runter, auch und v.a. in der Wertigkeit und Anerkennung seitens der Anderen. Strahlend perfektionierte Menschen, mit perfektem Gebiß, durchtrainierten Körpern und einem Mainstream-Modeverständnis gehören zu wesentlichen Auswahlkriterien, um Mitreden zu können. So funktioniert Ausgrenzung. Es gibt heute genug Menschen, die nicht genug zu essen haben, in Deutschland. Es gibt in Berlin über 50.000 wohnunglose und mindestens 10.000 obdachlose Menschen, weil das kapitalistische Verwertungssystem es so will. Eine auf Expansion ausgelegte Wirtschaft kann nur diskriminieren, weil sie auf Wettbewerb basiert. Zum Nachteil von schwachen Ländern und Menschen weltweit. Und zur eigenen Erhebung von was Besseren hierzulande. Wir sind die tollen und großartigen Leistungsträger*innen der globalen, expansiv funktionierenden, Wirtschaftslokomotive. Mann darf nur nicht schwächeln, niemals. Das ist unverzeihlich. So wird diesem faschistoid kapitalistischen System eine Aggressivität zugrunde gelegt, die alles, was nicht mitkommt, neben sich liegenläßt. Auch, wenn der sich selbst bezeichnende Sozialstaat, etwas anderes suggeriert, so bleiben doch immer mehr Menschen auf der Strecke, finden nicht Teilhabe und Sozialisation, kaum Anerkennung ausserhalb allem, was sich über Geldwert definieren lässt. Das eigene Ego wird durch den Konsumrausch permanent gepudert, in Abhängigkeit gebracht, wie ein Säugling, der ohne Mutterbrust verhungern würde. Dieses System infantilisiert die Menschen und brutalisiert sie gleichermaßen. Survival of the fittest im Kapitalismus bedeutet, dass die, die dieses System am meisten verinnerlich haben und ihm am stärksten dienen, sich am stärksten auf Kosten der anderen bereichern, mächtiger werden, in einem sich selbst verstärkenden System zu einer global alles entscheidenden Elite werden. Und die anderen, die hinten runterfallen, habens nicht anders verdient. Die anderen, das sind die aus anderen Nationen, im globalen Ränking, die es nicht so weit gebracht haben und hier Nektar schlürfen wollen, die anderen sind die, wie auch immer religiös Irrgläubigen, weil doch der Mammon der Gott ist, die anderen sind Frauen, die sich wieder immer mehr mit ihrem Körper gefügig zeigen sollen in einem Schönheits-Markt, der bedient werden will und Zeit in Anspruch nimmt. Ich höre zuweilen Gespräche mit, in denen klar geäussert wird, dass Frauen sich unterordnen sollen und zu funktionieren haben, den Mund in relevanten Gesellschaftsfragen bestenfalls nicht aufmachen sollen von der Kleinfamilie angefangen. Nein, es ist nicht nur so, doch die Tendenzen in diese Richtung sind erschreckend und sie werden erschreckend offen geäussert. Ich sehe Polizisten im Einsatz, die bei, auch dieser Anti-Hess-Demo, Frauen gerne in Brusthöhe gewaltsam wegschubsen oder sie mit ihren kurzen Hosen mit gespreizten Beine in die Gesa schleppen, weil sie durch Blockierungen gegen die Nazipest zivilen Ungehorsam geleistet haben. Zuletzt gab es eine Meldung, dass eine Mitaktivistin in Gewahrsam mit Vergewaltigung bedroht wurde, andernorts ist es wohl mutmaßlich sogar passiert. Mir sind Diskriminierungen aufgrund von Alter und meines Sexus im Polizeikontext schon oft passiert, verbale Gewalt vorneweg. Aber auch Meinungsäusserungen wurden von Seiten der Staatsmacht damit konnotiert, dass ich doch das Land verlassen sollte. Was ist das für ein Selbstverständnis, ob als Cop oder Mann oder Mensch in einem vorgeblich demokratischen Gesellschaftsgefüge, was allerdings meint durch Hierarchien bestehen zu können? Es werden Journalist*innen auch und gerne von der Polizei bedrängt, - weil ihnen die Macht zusteht? Bei dieser Anti-Hess-Marsch-Demo habe ich beobachtet, wie der Photojournalist Björn Kiezmann beim Ausüben seiner sogenannten vierten Staatsgewalt von Einsatzkräften mehrfach massiv weggeschubst wurde, leider Standard bei Demos. Dieser Journalist hat bei G20 keine Akkreditierung bekommen, weil es diesem Staat nicht gefiel. Was ist das nun für ein Herrschaftssystem, das hier meint über mich urteilen zu können, wenn es solche Strukturen zulässt? Ein Staat, der seinen Bewohner*innen immer weniger traut. Als potentieller Dieb im Super-Markt, als Schwarzfahrer*in im öffentlichen Bewegungs-Markt, als Gefährder*in im politischen Diskurs-Markt. Vertraut wird auf populistisch Sicherheit vorspiegelnde Kameraüberwachung oder Aufzeichnung im Demokontext, statt sich anzusehen, was wirklich passiert oder passiert ist. Als ob der angeschaltete Kameraknopf auch nur irgendwas mit der Wahrheit zu tun hätte. Die Macht hat die Wahrheit gepachtet, die Macht hat den Finger am Aufzeichnungsknopf, an dem der Kamera, wie der Geschichtsschreibung. Mitunter wären die hier anhängigen Vorwürfe gar nicht passiert, wäre der Kameraknopf früher eingeschaltet gewesen. Vielleicht wären noch ganz andere Dinge erzählenswert ausserhalb des Kameravisus, erzählens- und erwähnenswert, was uns in dieser Geschichte, in der Geschichte des Umgangs mit Faschismus und faschistoiden Strukturen, wirklich weiterbringt. Das Abspielen/Vorführen von Menschen in demütigenden Situationen zählt jedenfalls zu den weiteren Zumutungen, die der auf Hierarchien basierende Staatsapperat im Prozessgeschehen bereit hält.

Bin ich Links? Bin ich Radikal, was schlicht bis zur Wurzel denkend hieße. Bin ich abgestempelt Linksextremistisch, wie mir unlängst vorgehalten wurde von einem Beamten dieses Staatsapperates, was sich Demokratie nennt und sich vorheuchelt mit den Menschen auf Augenhöhe zu stehen. Wie kann ein System, was vorgibt auf Diskurs, auf Parlamentarismus, also auf Reden miteinander zu setzten, andere willkürlich und absurderweise als extremistisch, also als ausserhalb von allem bezeichnen und Menschen, die hier leben per se und Exempel nicht am Diskurs teilnehmen lassen, da Extrem, also per Definition Außenstehend? Also doch ein System der Ausgrenzung, in der nur die Profitmaximierung zählt und wer sich zu stark gegen Kapital und Profitinteressen äußert, wird ausserhalb gestellt, weil das System mit seinen ausgrenzenden faschistoiden Eigenschaften mehr Rendite bringt als ein fragiles, ständig neu zu definierendes Miteinander.

Schablonisieren, schubladisieren, uniformieren, alles systemkonform passend machen, gleichschalten, auf einer Erde, die schreit, weil wir jedes Maß verloren haben an Achtsamkeit und das Denken in Zusammenhängen nicht mehr verstehen, vielleicht nie verstanden haben. In der Glattheit der menschlichen Oberflächlichkeit spiegeln wir unser aufgeblähtes Ego, die Architektur unseres Zeitgeistes dokumentiert diesen Wahn. Die spielerische Kraft des Enteckens verliert sich in diesem faschistoiden Mainstream, der uns alle jeden Tag mehr in den Abgrund reißt. Das spannende Berlin der Wendezeiten ist passé, es ist statisch geworden, uniform, gähnend langweilig. Die Destruktivität des Ausgrenzens wird übertüncht von der Reinheit der Oberfläche. Nur hier und da zuckt noch die Lebendigkeit von Freiräumen einer kurzen Zeitspanne hevor, die wir uns gegönnt haben, aber anscheinend nicht aushalten können. Weil uns bunt, laut, dreckig und anders zu sehr in einen Alarmzustand versetzt, der introspektiv gefährlich sein und für sich selbst und der Gesellschaft Konsequenzen nach sich ziehen könnte, die mindestens unbequem sind. Und das wollen wir ja nicht, das konsequente Sein, das aufrührerische Ich, das gefährliche andere.

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