Chile ist aufgewacht! Das Militär raus aus der Straße

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Chile erlebt gerade die heftigsten sozialen Kämpfe seit Jahren. Ausgelöst von relativ harmlosen Protesten von Schülern gegen Fahrpreiserhöhungen, haben sich mit zunehmender Repression auch die Proteste hochgeschaukelt und sich zu einem Flächenbrand entfacht. Am Samstag rief die Regierung den Ausnahmezustand aus. Zunächst beschränkt auf die Hauptstadt Santiago, ist er inzwischen ausgeweitet auf fast das gesamte Land. Seit dem kontrolliert das Militär wieder die Straßen in Chile, verhängt Ausgangssperren und schießt scharf. Dabei kam es bereits zu Toten und vielen Schwerverletzten.
Doch anstelle die erhoffte Schockwirkung zu entfalten, fachte das die Proteste erst recht an. Für Mittwoch und Donnerstag kündigten Gewerkschaften Generalstreik im ganzen Land an: Das Militär raus aus der Straße!

Wie alles anfing
Es fing harmlos an: Schülerinnen und Schüler stürmten die Metro und übersprangen die Absperrungen ohne zu bezahlen. Damit protestierten sie gegen die Fahrpreiserhöhung, die die Regierung im Gegenzug für neue Kredite des IWF durchsetzen wollte.
Während die Schülerinnen und Schüler brutal angegangen wurden, übergingen die Regierung die Forderungen komplett und machten sich über sie lustig: Wer sich die Fahrpreiserhöhung nicht leisten könne, könnte doch früher aufstehen und den Früh-Tarif nutzen.
Als dann um erneute Flashmobaktionen der Schülerinnen und Schüler zu unterbinden, Metrostationen abgeschlossen waren, verlagerte sich der Protest auf die Straße. Dort schlossen sich schnell immer mehr Menschen den Protesten an und es kam zu massenmilitanten Aktionen gegen die Metrostationen. Fahrkartenautomaten wurden zerstört, Eingänge aufgebrochen um ohne Kontrolle rein und raus zu kommen und manche Station erlitt schweren Schaden und auch die ein oder andere Plünderung begann.

Die Reaktion der Regierung: Repression, Ausnahmezustand
Die Regierung reagierte, wie rechte Regierungen meist reagieren, wenn Repression nicht hilft: Sie versuchen es mit mehr Repression.
Die Metro wurde bis mindestens Montag, 21. Oktober, eingestellt, öffentlicher Verkehr stillgelegt und gedroht. Half nicht, längst war etwas gestartet. Schließlich wurde am Samstag der Ausnahmezustand ausgerufen und angekündigt, dass das Militär nach Santiago gerufen wird. Militär gegen soziale Proteste!
Spätestens hier brachen alle Dämme. Es kam zu Solidaritätsdemonstrationen in vielen Städten Chiles, darunter Concepción, Temuco, Talca, Talcahuana und Valparaiso. Dabei kam es zu ersten Konfrontationen mit Militärs, aber auch zu einer ungeahnten Massenmilitanz. Der Kontrollverlust der entstand, wurde ausgenutzt um die großen Supermärkte zu plündern, Banken und Filialen großer Multis dürfen sich neu einglasen und Apotheken wurden gestürmt und geplündert. Wohlgemerkt im ganzen Land, nicht nur in Santiago.

Als das Militär in Santiago eintrifft wird es von Kochtopfdemos "begrüßt". Tausende Menschen, teilweise mit Kindern, versammeln sich auf zentralen Plätzen und fordern, dass das Militär verschwindet. Ihre Forderung unterstreichen sie mit dem Schlagen auf leere Kochtöpfe - eine traditionelle Form des Protestes gegen die Militärdiktatur. Schwer bewaffnete Soldaten in ihren Panzern, bereit, in den Krieg zu ziehen, stehen dieser feiernden, aber auch wütenden Menge gegenüber, deren einzige Bewaffnung ihre Kochtöpfe sind. Bilder, die wir in Chile eigentlich überwunden glaubten.

Ein Staat unter Militärkontrolle: Ausgangssperren
Das Militär übernimmt Stück für Stück die öffentliche Ordnung in Chile, ist dabei aber genau wie die Polizei überfordert von der schieren Größe der Proteste im gesamten Land. Denn der Ausnahmezustand wird pro Region und/oder Stadt verhängt. So wurde und wird weiterhin der Ausnahmezustand über verschiedene Regionen ausgerufen - überall dort, wo sich Proteste bilden. Darunter die gesamte Metropolregion um Santiago, die Städte Antofagasta, Valdivia, Valparaiso, Talca, Chillan, Chillan Viejo, Temuco, Padre Las Casas und Punta Arenas.

Hauptrepressionsmittel des Militärs ist, eine Ausgangssperre zu verhängen. Ja, richtig gelesen: eine Ausgangssperre. Wie in der Diktatur.
Ab Eintritt der Ausgangssperre bis Ende der Ausgangssperre ist es verboten, sich auf der Straße aufzuhalten. Ausnahmen sind bei der nächsten Polizeistation zu beantragen. Wer sich nicht daran hält, kann festgenommen oder erschossen werden.
Diese Machtdemonstration bleibt nicht unbeantwortet und überall kommt es gegen diese Ausgangssperren zu Demonstrationen mit zivilem Ungehorsam.
Wo er kann, reagiert der Staat mit Repression: Tränengas, Wasserwerfer, Warnschüsse, Gummischrot. Wo er nicht kann, tanzen die Mengen und feiern ihren Sieg über die Angst.

Zwischenbilanz der Regierung
Es ist nun Dienstag, Zeit, Bilanzen zu ziehen.
Die Regierung spricht inzwischen von 15 Toten, versucht jedoch zu relativieren, indem sie behauptet, dass diese "in Anzündungen und Plünderungen" gestorben seien. Dem wiedersprechen Menschenrechtsorganisationoen, die auf mindestens 4 dokumentierte Fälle verweisen, in denen die Opfer an Militär- bzw. Polizeigewalt gestorben sind. Darunter Schusswunden und Schläge.
Das Militär spricht zynisch von 7 Toten. Die seien aber selbst schuld gewesen, weil "sie sich am Ort des Vandalismus befunden haben und durch den dort entstandenen Rauch gestorben seien". Na da zählte der 25 Jährige junge Aktivist wohl nicht dazu, der bei Protesten auf der B5 in Curicó vom Militär erschossen wurde. Das Video dazu kursiert in den sozialen Netzen und ist auch von Menschenrechtsorganisationen bestätigt.
Aber vielleicht, weil Curicó offiziell noch garnicht Ausnahmezustand hatte und ein Militäreinsatz dort genau genommen nicht legal war?
Inzwischen kursieren auch im Fernsehen Videos aus sozialen Netzwerken, die die Brutalität der Polizei und des Militärs zeigen.

Supermarktplünderungen
Ein besonderes Merkmal des Protestes sind die vielzähligen Plünderungen:
Immer noch werden landesweit Filialen der großen Supermarktketten geplündert. Das geht teilweise über Stunden und in Wellen:
Ein Supermarkt wird geöffnet und angefangen zu plündern. Polizei oder Militär kommen und gehen brutal vor bis hin zu Schusswaffeneinsatz. Leute fliehen oder werden festgenommen. Nachdem Polizei oder Militär wieder verschwunden sind kommen Leute wieder oder neue Leute und plündern weiter. Einige der Supermärkte werden auch anschließend angezündet - mit teils tödlichem Ergebnis.
Dabei verwundert manchen, wie professionell und dreist die Plünderungen inzwischen ablaufen: Es wird mit dem Auto vorgefahren, vollgeladen, weggefahren. Wer sich aber klar macht, dass die Hälfte der Bevölkerung von weniger als 700€/Monat leben muss, hoch verschuldet ist und das bei größtenteils europäischem Preisniveau und privatisierter Bildung und Gesundheitsversorgung versteht vielleicht die "einmalige Chance", die Otto-Normal-Bürger im proletarisch Einkaufen sieht.
Babyklamotten, Pampers und andere teure Alltagsgegenstände sind gern gesehene Beute (auch wenn natürlich Flachbrettbildschirme, Computer und Co.
nicht verachtet werden). Das Unschuldsbewusstsein für solch eine Tat ist dementsprechend gering. Schusswaffeneinsatz gegen diese Menschen eine harte Überreaktion seitens des Staates.
Als Reaktion auf die vielzähligen Plünderungen haben viele Supermarktketten nicht mehr auf, nur mit schwerem Militärschutz oder nur begrenzt nach Uhrzeit (bis 14 Uhr) und mit Einlasskontrolle und nicht mehr als 30 Personen gleichzeitig rein. Es bilden sich lange Schlangen.
Freuen tut das die lokalen kleineren Läden, die einen deutlich gesteigerten Umsatz erfahren.

Die Medien
In den Medien ist ein deutlicher Wandel spürbar. War der Fokus in den ersten Tagen noch auf die Gewalt gerichtet und wurden Bürgerwehren gepuscht, die sich aus der Angst vor Plünderungen bildeten (zunächst Ladenbesitzer, dann eine Nachbarschaft, die von einem Gerücht gehört hatte, dass jetzt private Häuser geplündert werden sollten in ihrer Straße) schwenkte es mit dem Einsatz des Militärs langsam um. Insbesondere mit der Äußerung, dass sich "Chile in einem Krieg gegen einen mächtigen Gegner" befinde auf einer Pressekonferenz am Sonntag Abend, machte sich Präsident Piñera keine Freunde. Seit dem werden vermehrt friedliche Demos gezeigt, Bilder von Kochtopfdemos und feiernden Menschen und Erklärungsversuche für die Wut hinter diesen sozialen Protesten. Dabei macht sie die soziale Ungleichheit als Hauptursache aus.
Angesichts der verheerenden Bilanz bisher zeichnet die Regierung kein gutes Bild. Die sozialen Forderungen sind nicht mehr zu übergehen und es scheint klar, dass erst das Eingehen auf diese die Situation im Land beruhigen kann.

Internationale Solidarität
Mittlerweile gibt es kleinere und größere internationale Solidaritätsdemonstrationen, unter anderem in Rio (Brasilien), Buenos Aires (Argentinien) , Mendoza (Argentinien), Lima (Peru), Toronto (Kanada) und Dublin (Irland). Und das waren jetzt nur die, die es in die chilenischen Nachrichten geschafft haben. Es ist gerade eine gute Zeit, um Solidarität mit den chilenischen Kämpfen zu zeigen. Und wenn nur 5 Leute vor der nächsten chilenischen Botschaft auf Kochtöpfe schlagen - alles hilft. Weg mit dem Militär aus der Straße, Ausnahmezustand sofort beenden! Aufklärung der Staatsverbrechen sofort!

Ausblick
Für Mittwoch und Donnerstag haben mehrere Gewerkschaften, unter anderem die CUT, landesweit zum Generalstreik aufgerufen. Der Präsident ist heute abend zurück gerudert und hat einen 10-Punkte-Plan veröffentlicht, mit dem er die soziale Ungleichheit bekämpfen will. Diese sehen vor allem eine Erhöhung von Renten und zuschüssen zu Medikamenten vor. Darüber hinaus werden die Strompreiserhöhungen zurück genommen, eine Reichensteuer angekündigt und die Parlamentarierdiäten gekürzt werden. Die Erhöhung der Fahrpreise nahm er bereits Samstag zurück.
350 Millionen Dollar sollen überdies für den schnellen Wiederaufbau Chiles bereit gestellt werden.
Ob das reicht, um die Proteste zu beruhigen? Die Forderungen gehen inzwischen hin zu einer Verfassungsänderung und natürlich dem Rücktritt der Regierung, insbesondere des Präsidenten. Aber auf die Hauptforderung ist die Regierung noch nicht eingegangen und die ist Bedingung für alles weitere:
Sofortige Beendigung des Ausnahmezustands, Rückkehr zur Demokratie, Militär raus aus der Straße!
No Pasaran - Venceremos!
Chile despertó.

Videos mit Einblicken

Chile despertó octubre 2019 - Zusammenschnitt
https://www.youtube.com/watch?v=QtDUkgLpeWg

Talca se Moviliza 22.oct.2019
https://www.youtube.com/watch?v=ybTcWZx2DYE

Ausgangssperre beginnt in Santiago Samstag (livemitschnitt)
https://www.youtube.com/watch?v=CP78KLm-xb0

Zusammenschnitt Santiago Samstag, Ausgangssperre
https://www.youtube.com/watch?v=M88nB15IcaQ

Telesur: Ausgangssperre in Santiago, Samstag Nacht
https://www.youtube.com/watch?v=D0PJ11IlnUA

Weiterer Artikel mit Übersetzung und vielen Infos:
Über die aktuelle Revolte in Chile
https://de.indymedia.org/node/41563

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