Der revolutionäre 1. Mai in Paris – L’acte ultime?/Der ultimative Akt?
Die 1.Mai-Demo in Paris galt dieses Jahr wohl als die gewalttätigste in Europa. Tage zuvor haben sich noch viele eine revolutionäre Situation von ihr erhofft, jedoch lief der Protest anders ab als erwartet. Woran lag das? Eine Perspektive des Geschehens mit kurzem Kommentar über Polizeitaktiken und Widerstandsorganisation.
In Paris wurde am 1. Mai zu mehreren Demonstrationen aufgerufen. Während die Klimademo am Panthéon wegen fehlender Genehmigung wegfiel und die libertäre Zug beim Place de la République ruhig blieb, began die Großdemo am Quartier Montparnasse [1], die wohl im Vorfeld für viele Radikale als die Vielversprechendste galt. Dort versammelten sich ca. 55.000 Menschen, die gegen Herrschaft und Ausbeutung auf die Straße gegangen sind, darunter Gelbwesten aus ganz Frankreich und internationale Aktivisti. Um dort hinzugelangen, mussten sich Menschen mehrfache Taschenkontrollen unterziehen, vereinzelt mit Abtasten. Etwa 18.000 sogenannte Präventivuntersuchungen wurden durchgeführt. Dabei wurden nicht nur Gegenstände wie Benzin, Gaskartuschen und Bolzenschneider sichergestellt, sondern auch Plastikflaschen, Mundschutze und Besenstiele von Demoschildern. Es kam es zu Identitätskontrollen, die mehrere Minuten andauerten und bis zu 2km vom Startpunkt entfernt stattfanden.
Während in Frankreich dieser Tag traditionell von Gewerkschaften angeführt wurde, waren diesmal vor allem die Gilets Jaunes und der Black Block tonangebend. Beeindruckenderweise halfen die Demonstrierenden durch Abschirmungen das Bilden des Black Blocks, der noch zusätzlich angefeuert wurde. Bereits über eine Stunde vor dem offiziellen Beginn um 14:30 wurde Tränengas eingesetzt; vielleicht als eine Folge darauf. Anscheinend war die Taktik, die Demonstrierenden durch hin und her Scheuchen möglichst schnell zu ermüden und potentielle Teilnehmende davon abzuhalten mitzulaufen. Obwohl in Frankreich seit euestem Schutzmasken auf Demonstrationen illegal sind und einige konfisziert wurden, war dennoch eine erstaunliche Mehrheit gegen die Gasattacken vorbereitet. Frühzeitig versuchten einige Agents provocateurs Eskalationen herbeizuführen. Es konnten über die ganzen Marsch hinweg mehrere Zivilpolizisten enttarnt werden, die anschließend von einem einprügelnden Stoßtrupp aus dem Block herausgezogen worden sind.
Insgesamt waren über 7.400 Polizeikräfte vor Ort; alle Sichtbaren waren aufgerüstet. Keine Pferde, keine Hunde, keine Helis – stattdessen Motorräder, Wasserwerfer und Drohnen. Wenn der Zug an größeren Kreuzungen vorbeikam, an denen meist mehrere Polizisten standen, wurde mit dem Demospruch „Tout le monde déteste la police!“ („Die ganze Welt hasst die Polizei!“) geantwortet. Die Feuerwehr hingegen bekam Applaus. Zehntausenden von Menschen proklamierten gemeinsam Parolen wie „Révolution!“ oder „A-Anti-Anticapitalista!“. Hoffnung machte sich breit. Progressive und antiautoritäre Stimmen überwiegten bei Weitem. Im Vorfeld forderten Macron und Innenminister Castaner eine sehr bestimmte Antwort gegen den Black Block und wollten einen Aufstand mit aller Härte verhindern. Wie befohlen gehorchte die Polizei, indem sie versuchten den Black Block und sich weitere radikale Demonstrierende zu isolieren. Dies gelang auch immer mal wieder. Zum Beispiel wurden 50 bis 80 Menschen, großteils schwarz gekleidet, durch eine Kombination auf Polizeivorstößen und Tränengasgranaten in eine Seitenstraße der Boulevarde de l‘Hôpital gedrängt. Glücklicherweise konnte sich überwiegender Teil in den Innenhof eines Wohnhauses retten. Aufgrund der Polizeiwagen und der Tränengasschwaden misslang es der Polizei sie weiter zu verfolgen. Ein weiteres Beispiel dafür entlarvte abermals die mangelnde Quellenkritik des Mainstreamjournalismus: Viele etablierte Medien gaben eine Lüge von Castaner wieder, der behauptete, das Krankenhaus Pitié-Sapétrière sei verwüstet worden.[2] Der Krankenhausdirektor bedankte sich sogar bei der Polizei, weil sie einen Brandanschlag verhindert hätten. Tatsächlich flüchteten die Demonstrierenden aber auf das Krankenhausgelände, um der Polizeigewalt zu entkommen.[3]
Überraschend war, dass fast keine Molotovcocktails geworfen, wenige Fenster eingeschlagen, nur einige Autos beschädigt wurden. Dafür flogen zahlreiche Steine, Asphaltbrocken, Glasflaschen und dergleichen in Richtung Polizei.[4] Neben LBD-Feuer schmiss ein Polizist sogar einen Stein zurück.[5] Mehrere Gegenstände wie Mülltonnen und Straßenschilder wurden angezündet, die zu großen, schwarzen Rauchbildungen beigetragen haben und für Verwirrung unter den Demonstrierenden sorgten.[6] Die Barrikade vor einer Polizeistation wurde leicht beschädigt [7]; die Pressspanplatten der Banken oft entfernt, um die Gebäude etwas zu demolieren [8]; die Barrikade um den Park des Place d’Italie, den Ziel des Menschenzuges, wurde demontiert. Wäre letzteres nicht geschehen, hätten alle ankommenden Menschen jedoch nicht ausreichend Platz gefunden.
Die Polizei blockierte den Zugang vom Boulevard de l’Hôpital zum Endpunkt, wahrscheinlich um die vormarschierten schwarz vermummten Menschen mit aller Härte verfolgen zu können. Denn äußerst wenige Pressemenschen schafften es rechtzeitig dorthin, um die Gewalttaten dokumentieren zu können. Ein regelrechtes Katz-und-Maus-Spiel entwickelte sich. Die Polizisten jagten Menschen in diesem großen Kreis. Einige Aktivisti konnten abgeführt und niedergeschlagen werden. Es wurden kleinere Gruppen von 30 bis 50 Menschen in Ecken gedrängt. Die Polizei reihte sich meist in drei Reihen auf, um das Geschehen abzuschirmen, und präsentierten sich gewaltbereit. Schnell entledigten sich Angehörige des Black Blocks ihrer Kleidung und Schutzmasken unter dem Sichtschutz der anderen. Ältere Menschen wurden schnell aus den Kessel entlassen. Bei einem Fall schaffte es ein solidarischer Mensch aus einem Wohnblock, einen Fluchtweg zu ermöglichen, indem er ein Tor des direkt an der eingekesselten Gruppe stehenden Zauns öffnete. Hier zeigten sich abermals die Unterstützung für den Black Block, denn die vormals Vermummten wurde der Vortritt zum Entkommen gewährt.
Als die Massen den Place d’Italie erreichen konnten, beruhigte sich die Situation nach und nach. Interessanterweise schaffte es eine Gruppe um die CGT-Wägen die Polizeisperre zu umgehen und in sich in eine der abgehenden Straßen zu begeben. Ohnehin waren die CGT-Umgebung eher ein sicherer Hafen, als dass sie revolutionäres Potential gezeigt hätte. Inwiefern diese Gewerkschaft mit dem Staat kooperiert, um so eine Sonderbehandlung zu bekommen, kann spekuliert werden. Jedenfalls wird sie von vielen Gelbwesten kritisch beäuft, vor allem nach dem gescheiterten Versuch der CGT sie für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Vielleicht wurde zum Abschluss auf Deeskalation gesetzt, nach dem der CGT-Generalsekretär auch etwas Tränengas abbekommen hatte. Was sich wie die Ruhe vor dem Sturm anfühlte, läutete eigentlich das Ende auf der offiziellen Route ein. Gegen Ende war der Platz von ca. 400 Polizeivans umzingelt und wurde gegen zwanzig Uhr ohne großen Widerstand geräumt. Es befanden sich ohnehin nur noch 1000 bis 2000 Menschen dort. Am Place de la Contrescarpe wurde bereits mit Essen, Alkohol und Musik der Jahrestag der Eskapade von Macrons ehemaligem Bodyguard Benala gefeiert. Nicht weit davon entfernt setzten wilde Proteste fort, die aber bereits polizeilich abgeriegelt und somit nicht mehr betretbar waren. Bislang ist von der ausgerufenen Gelben Woche, welche mehrere direkte Aktionen versprach, nichts zu hören.
Über 40 Demonstrierende haben beachtliche Verletzungen erlitten, darunter Schnitt-, Schürf- und Platzwunden, sowie tiefere Fleischwunden durch Detonationen und Metallknüppelschläge. Prügeln auf Kopfhöhe stand auf der Tagesordnung. Die bei Salpêtrière verhafteten Menschen wurden nach ungefähr 30 Stunden aus dem Gewahrsam entlassen. Ein deutschsprachiger Journalist, der unter dem Psydonym @RoteAnarchie seit längerem über die Gilets Jaunes berichtet, wurde inhaftiert und in der Nacht von Samstag auf Sonntag entlassen.[9] Dem Menschen wird vorgeworfen, dass sein Verhalten eine Bedrohung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit darstelle und er die Kriterien, die einen längeren EU-Auslandsaufenthalt über die üblichen drei Monate, nicht erfülle. Ein Aufenthaltsverbot in Frankreich von 24 Monaten wird als Strafe gefordert.
Der Mangel an Organisation für einen wirklich revolutionären 1. Mai war offenkundig. Menschen rannten panisch vor der aggressiv auftretenden Polizei weg und sorgten so manchmal für gefährliche Quetschsituationen. Außerdem konnten mehrere Menschen in Gewahrsam genommen werden, weil es an solidarischem Schutzkreisen fehlte. Die Tatsache, dass viele des Black Blocks die gleichen Kleidungsstücke trugen, ist lobenswert hervorzuheben. Dazu kommt die Kreativität mancher militanten Aktivisti, welche verschiedene Utensilien benutzten, die sie auf dem Weg gefunden hatten, um sich zur Wehr zu setzen. Jedoch hätten mehrere Fluchtwege und Soliwohnungen geplant werden können. Eine Nummer des Défense Collective [10] (entspricht einem Ermittlungsausschuss) konnte u.a. von den Medics erfragt werden, doch sie wurde nicht über Lautsprecher durchgegeben. Es gingen zudem wenige Flyer herum, die gerade bei einem internationalen Protesttag auch in Englisch hilfreich wären. Nichtsdestotrotz konnte das Kollektiv mit ~100 von den ~380 gefangenen Menschen Kontakt aufnehmen. Darüber hinaus hätten fernab direkte Aktionen durchgeführt werden können, die wahrscheinlich größere Effekte als diese Demonstration gehabt haben könnten. In den Jahren zu vor standen viele Polizisten in Flammen und gegen Abend lieferten sich gewaltbereite Aktivisti einen abschließende Schlacht. Die Wege des Place d’Italie waren bereits einmal löchrig wie ein Schweizer Käse. 2018 wurden bei der 1.Mai-Demo über 30 Geschäfte angegriffen oder gebrandtschatzt und sechs Autos völlig entflammt. Das es dieses Jahr seitens der Demonstrierenden etwas friedlicher ablief, lag insbesondere an den von Anfang an harschen Übergriffen und der taktischen Vorbereitung der militarisierten Polizei, die die Massen eingeschüchtert hat. Doch die klare Überzahl der Demonstrierenden hätte auch einen größeren Widerstand ermöglichen können. Eventuell mangelt es in Paris nicht am Willen zur Revolution, sondern an revolutionären Strukturen und Strategien. Paris, debout! Soulève-toi! („Paris, steh auf! Erheb dich!“)
[1] https://paris.demosphere.net/rv/69136
[2] https://twitter.com/CCastaner/status/1123664392011304961
[3] https://twitter.com/davduf/status/1123886128422170624/video/1
[4] https://www.youtube.com/watch?v=begkJJE3JCg
[5] https://twitter.com/PartisanDE/status/1123619580545572864
[6] https://twitter.com/sophiacmcbride/status/1123600864797761539
[7] https://www.youtube.com/watch?v=Rv6YmYI_j7s
[8] https://www.youtube.com/watch?v=FzGb7i7jO28
[9] https://twitter.com/RoteAnarchie
[10] https://paris-luttes.info/ oder https://defensecollective.noblogs.org/
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