OLG-Beschluss mit Trick 17
Dass das Oberlandesgericht (OLG) Stuttgart – nach zuvor gegenteiliger Entscheidung des Landgerichts (LG) Karlsruhe – das Hauptverfahren jetzt doch eröffnet hat (s. z.B. golem.de und heise.de – jeweils vom 13.06.2023), kommt schon recht überraschend. Wir hatten zwar schon nach dem Beschluss des LG vor allzu viel Euphorie gewarnt [1], aber das ändert nichts daran, dass das Ganze ein ziemlich ungutes Geschmäckle hat.
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[*] Achim: Die einleitenden ca. 10 % des Textes, der Schlussabschnitt und politische Bewertungen sowie ein Teil der weiteren Formulierungen; dg: juristische Recherche und Formulierungen.
1 Siehe dazu
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von Achim in EmRaWi vom 20.05.2023 (Abschnitte „Problematische Punkte in der Landgerichts-Entscheidung“ und „Resümee“) sowie in kontrapolis vom 19.05.2023 (Ein erfreuliches Ergebnis mit ein paar Wermutstropfen)
und
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von dg in de.indymedia vom 19.05.2023 (Eine Warnung vor voreiliger Entwarnung und eine (weitere) erfreuliche Neuigkeit) und am 19.05.2023 in der Freitag-Community (Abschnitt „Die Staatsanwaltschaft kann Beschwerde einlegen“).
Ein OLG-Beschluss mit dünner Argumentation / Tatsachengrundlage
Auffällig ist vor allem, dass das OLG auf die sehr ausführlichen Begründungen für die Nicht-Eröffnung des LG kaum eingegangen ist (es beschäftigt sich zwar teilweise mit denselben Fragen wie das Landgericht; nimmt auch teilweise abweichende Bewertungen vor, aber geht kaum auf die Gründe ein, die das Landgericht für seine Bewertung anführte [1]). Es werden im Prinzip nur zwei ‚Argumente‘ vorgebracht, die man nur mit viel Wohlwollen überhaupt als Argumente gelten lassen kann.
Das OLG ist der Ansicht, es sei überwiegend wahrscheinlich, dass Kienert am Ende verurteilt werden müsse. Dies sei deshalb überwiegend wahrscheinlich, weil zum einen ebenfalls überwiegend wahrscheinlich sei, dass der unterstütze verbotene ‚Verein‘ noch existiere und zum anderen wiederum überwiegend wahrscheinlich, sei dass Kienert diesen ‚Verein‘ durch Verbreitung (nämlich Verlinkung) dessen „Gedankenguts“ (sic!) unterstützt habe.
Das OLG untermauert seine Prognose kaum mit Tatsachen oder auch nur Anhaltspunkten, wie auch Kienerts Anwältin Angela Furmaniak in einen Interview kritisiert (https://www.freie-radios.net/122659; ab Min. 5:11).
Angeblich überwiegende Wahrscheinlichkeit, dass der unterstützte ‚Verein‘ (= alter BetreiberInnenkreis von linksunten.indymedia) noch existiert
So stützt sich das OLG zum einen hinsichtlich seiner These, dass die verbotene „Vereinigung ‚linksunten.indymedia‘“ wahrscheinlich nach wie vor existiere, vor allem darauf, dass die alte URL seit 2020 wieder mit Inhalten bestückt ist, ohne der Frage nachzugehen, welche Leute – dankenswerterweise – dafür gesorgt haben, dass dort wieder Inhalte zu lesen sind. Letzterer Aspekt ist aber entscheidend, wenn es um die Frage geht, ob der alte BetreiberInnenkreis weiterhin existiert.
Was hat es nur mit der angeblichen ‚Straftat‘ von Kienert auf sich?
Das OLG hält es zum anderen für überwiegend wahrscheinlich, dass für Kienert „die Information der Öffentlichkeit über Propagandatexte“ einer verbotenen Vereinigung (d.h.: über die URL des linksunten-Archivs) „nur ein Vorwand“ war, „um in Wahrheit die mit den Texten angestrebte propagandistische Wirkung für die dem Verbot unterliegende Vereinigung zu erzielen“ (S. 15 unten / 16 oben des OLG-Beschlusses[2]).
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Verlinkung ist keine Verbreitung
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Ist Fabian Kienerts Artikel identifikatorisch?
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Sind die beiden Kriterien des Oberlandesgerichts überhaupt ausreichend als juristische Voraussetzung für eine Bestrafung?
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Sieben Einwände gegen den Eröffnungs-Beschluss des OLG Stuttgart
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Die Entscheidung des OLG: Ein rechtspopulistischer Warnschuss vor dem Bug der Medienschaffenden?
Was die politischen Konsequenzen aus dieser – mir (Achim) fällt leider kein besseres Wort dafür ein, trotz des ernsten und eigentlich traurigen Hintergrunds – Justizposse sein könnte, dafür möchte ich abschließend dg aus seiner/ihrer akribischen juristischen Analyse des OLG-Beschlusses zitieren:
„(Auch) Personenkreise, die Medien herausgeben bzw. verlegen, als Vereine zu verbieten, bedroht in der Tat alle Medienschaffenden: Auch bspw. die Süddeutsche Zeitung GmbH ist ein ‚Verein‘ im Sinne von §§ 2 und 14 Vereinsgesetz – nur, daß die von der Süddeutsche Zeitung GmbH verlegten Medien eine etwas andere politische Tendenz haben, als sie die internet-Zeitung linksunten.indymedia hatte. Aber können wir uns sicher sein, daß ein hypothetisch künftig AfD-geführtes Bundesinnenministerium keinen Bedarf sehen wird, die Süddeutsche Zeitung GmbH zu verbieten? Und wer/welche weiß wie dann Bundesverwaltungsgericht und Bundesverfassungsgericht zusammengesetzt sein werden…“
(https://blogs.taz.de/theorie-praxis/olg-stuttgart-blosse-sympathiewerbung-ist-nicht-strafbar/)
Dass nebenbei auch alle Medienschaffenden von dieser Entscheidung einen Einschüchterungseffekt erhalten, darauf hat auch schon der Kollege Kienert hingewiesen:
„Die Kriminalisierung belastet nicht nur mich, sondern verunsichert Journalist:innen in der ganzen Republik. Es muss möglich sein, kritisch über Vereinsverbote zu berichten, ohne sich direkt dem Vorwurf auszusetzen, eine verbotene Vereinigung zu unterstützen.“
Aber offensichtlich wird aktuell die Grenze zwischen [angeblich] (staatlich) akzeptiertem politischen Spektrum und Kriminalisierungspotential einem brisanten Stresstest unterzogen. [3] Man darf gespannt sein, ob diejenigen, die in der Gefahr stehen, als grenzwertig eingestuft zu werden, darauf anders als mit Angst reagieren werden.
Die vollständige Fassung dieses Artikels ist als .pdf-Datei (18 Seiten) angehängt.
1 So wies das Landgericht zur Bebilderung von Fabian Kienerts Artikel auf folgendes hin: Die „Bebilderung [wird] – wenn auch in einer kleingeschriebenen, in der Presse aber üblichen Bildunterschrift – dadurch relativiert, dass hinsichtlich des auf der Hauswand zu lesenden Schriftzugs ‚Wir sind alle linksunten‘ angemerkt wird: ‚ob dem so ist, war auch ein Streitpunkt auf der Podiumsdiskussion über das Verbot der Internetplattform.‘ Eine eindeutig unterstützende Zielrichtung kann folglich auch insoweit nicht konstatiert werden.“ (S. 26 des Landgerichts-Beschlusses)
Diese Bild-Beschriftung und deren Bewertung durch das Landgericht wird aber an keiner Stelle des OLG-Beschlusses erwähnt.
2 „Die Grenze zur Strafbarkeit bei der Wiedergabe fremder Texte ist aber überschritten, wenn die Information der Öffentlichkeit über Propagandatexte verbotener Vereinigungen nur ein Vorwand ist, um in Wahrheit die mit den Texten angestrebte propagandistische Wirkung für die dem Verbot unterliegende Vereinigung zu erzielen (BGH, Urteil v. 09.04.1997, 3 StR 387/96). Es ist überwiegend wahrscheinlich, dass der Artikel als eine solche Propaganda anzusehen sein wird.“
[3] Vergleiche: https://taz.de/Gefahr-antidemokratischer-Tendenzen/!5937734/ (vom 16.06.2023) sowie von mir und TaP: https://de.indymedia.org/node/283282 (vom 03.06.2023).
Ergänzungen
Vor welchem Gericht wird das
Vor welchem Gericht wird das Verfahren stattfinden & wird es eine solidarische Prozessbegleitung geben?
Antwort an joon
Gericht: Landgericht Karlsruhe.
Prozessbegleitung: Wäre wünschenswert, ist mir aber bisher nichts zu bekannt. - Vielleicht da: karlsruhe {aett} rote-hilfe.de (https://rote-hilfe.de/ueber-uns/adressen) fragen bzw. anregen.