Es war unser Frühling

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Am 16. März 1978 verübten türkische Faschisten einen Anschlag auf die Istanbuler Universität, sieben Menschen starben. Die Folge: Die revolutionäre Linke erstarkte und vertrieb die Faschisten aus Istanbul. Ein Genosse, der den Anschlag überlebte, über eine Generation der Würde.

Damals gingen die Faschisten so vor – vermutlich, weil es militärischer Logik entsprach: „Zuerst das Zentrum erobern, dann von dort aus überall die Initiative ergreifen“. In den Auseinandersetzungen mit den Faschisten in Istanbul neigte sich das Kräfteverhältnis zugunsten der revolutionären Linken. Die meisten Viertel und Universitäten gehörten uns. Aber die Zentren hielten sie: die Rechts- und Jurafakultät der Istanbuler Universität, genau so die Zentren der Viertel Sişli, Zeytinburnu, Aksaray und Beyazıt. [1]

Wir beschlossen, diese faschistische Belagerung zu brechen. Die TIP, TSIP und die TKP [2]bezeichneten unser Vorgehen als „gauchistisch“ [3], es würde „den Faschismus provozieren“. Deshalb beteiligten sie sich nicht. Alle anderen Revolutionär*innen, inklusive derer, die seit Jahren nicht mehr die Universität besuchten, fingen mit Beginn des Semesters zum 1. März an, wieder kollektiv zur Universität zu gehen.

Weil die Universität ihnen gehörte, waren die Faschisten recht selbstbewusst. Sie waren „drinnen“, während wir von „draußen“ kamen. Aber innerhalb von zwei Wochen änderte sich das Kräfteverhältnis. Faschisten auf der einen Seite, revolutionäre Studierende auf der anderen Seite, die Polizisten dazwischen – und die demokratischen Studierenden, die in immer intensiveren Kontakt und in Solidarität mit den revolutionären Studierenden traten. Das war die Situation.

Der Wind dreht sich

Mitten durch die Polizei ging damals ein Riss hindurch. Es gab genau so viele linke Polizist*innen wie rechte. Aber die Einheit, die auf dem Hauptcampus stationiert war, bestand vollständig aus Rechten. Später wurde diese Sondereinheit zur Yıldız Universität geschickt, wo es am Mai desselben Jahres ebenfalls einen Anschlag gab. [4] Weil die demokratischen Studierenden anfingen, mit den Revolutionären zu sympathisieren, und die Revolutionäre anfingen, die zahlenmäßige Mehrheit zu erlangen, nahmen die Provokationen zu.

Die Faschisten, die von Nezih, Ahmet, Kazım – er war Kurde aus Elazığ, später wurde er Provinzchef der MHP [5] –, Mehmet – der wurde später Parlamentsabgeordneter – angeführt wurden, wurden immer aggressiver. Sie bekamen zwar stets die Antwort, die sie verdienten, waren aber frohen Mutes, da die Polizei immer auf ihrer Seite stand. Unter den Revolutionär*innen machte sich Wut und Frustration, aber auch die Überzeugung breit, dass die Belagerung zu brechen sei. Unter den revolutionären Studierenden taten sich Osman, der später inhaftierte Revolutionäre verteidigen und Chef der Anwaltskammer werden sollte, und Seyfi hervor, der heute zum Vorstand der SDP [6] gehört. Einige TKP’ler, TIP’ler und TSIP’ler fingen nun auch an, zur Universität zu kommen.

Am 16. März war die Luft wortwörtlich schwer wie Blei. Am Morgen desselben Tages war im Viertel Şehremini ein Attentat auf den damals berühmt-berüchtigten Polizeioffizier Uğur Gür, Chef der Istanbuler Politischen Polizei, verübt worden, die TIKKO bekannte sich dazu [7]. 13 Kugeln des TIKKO-Militanten trafen Uğur Gür, der verblüffenderweise überlebte; danach zog sich der Militante im permanenten Feuergefecht mit den Polizisten etwa eineinhalb bis zwei Kilometer bis nach Fatih zurück und wurde erst festgenommen, als ihm die Munition ausging. [8] Auf dem Weg zur Universität wurde ich zufällig Zeuge, wie die Polizisten ihn abführten; ich war wie vom Blitz getroffen. Vor Ort war mir zwar nicht genau klar, um was es ging; ich hörte aber die Slogans, die der Verhaftete rief und erkannte daran, dass er ein Linker war. Als ich in Süleymaniye [9] ankam, wo wir uns immer trafen, um gemeinsam zur Universität zu gehen, erfuhr ich dann den Rest. Alle waren angespannt.

„Kommunisten nach Moskau!“

Als mittags die Kurse an der Universität zu Ende gingen und die Studierenden anfingen, die Gebäude zu verlassen, griffen die Faschisten im unteren Stockwerk der Rechtsfakultät an. Die Polizisten ließen sie bewusst gewähren. Als sich die revolutionären Studierenden gerade sammelten, um zum Gegenschlag auszuholen, da gingen die Polizisten natürlich sofort dazwischen, um „eine Eskalation zu verhindern“. Das alles geschah innerhalb von zwei, drei Minuten. Wir hatten zwar nicht allzu viel abbekommen, aber alle waren wütend und hoch agitiert. Ich denke, wir waren so an die 300 bis 400 Personen und wir fingen an, Slogans zu rufen.

In Reih und Glied marschierten wir zum Hauptausgang. Der Polizeioffizier vor Ort hieß Behzat und er war irgendwie nervös. Es war, als ob seine Hände zitterten. Und er war viel freundlicher zu uns als sonst, denn normalerweise ließ er uns nicht ohne ordentliches Gerangel gehen. Das war diesmal anders. Ich glaube ehrlich gesagt nicht, dass er wusste, was gleich passieren würde. Aber dennoch – manchmal erscheinen einem Dinge im Rückblick als unheimliches Omen.

Als wir aus dem Hauptausgang heraustraten, wunderten wir uns, dass nicht wie sonst immer Polizisten zwischen uns und den Faschisten standen. Die Faschisten unter Führung von Kazım und Mehmet schrien uns entgegen: „Verdammt seien die Kommunisten“, „Kommunisten nach Moskau!“. Welch Ironie, dass sich gerade die „moskautreuen“ Kommunisten nicht an der Aktion zur Brechung der faschistischen Belagerung beteiligten, weil sie diese als „Provokation“ einstuften. Wie dem auch sei: Wie immer wollten wir uns nach rechts Richtung Pharmazeutische Fakultät wenden, um von dort in die kleine Seitenstraße, die die Faschisten „Kleinmoskau“ nannten, Richtung Süleymaniye einzubiegen. In den 16 Tagen unserer Aktion zur Brechung der faschistischen Belagerung hatten wir stets bewaffnete Genoss*innen an den Fenstern mit Blick auf die Pharmazeutische Fakultät positioniert – für den Fall eines bewaffneten Angriffs. Sobald wir die kleine Seitenstraße erreichen würden, gab es sowieso keine Probleme mehr. Ab dort war es unser Gebiet.

Als wir uns gerade zur Seitenstraße drehten, hörte ich eine Stimme rufen: „Eine Granate!“ Ich drehte mich um, sah die Granate in meine Richtung fliegen und dachte einen kurzen Augenblick daran, sie zurückzuwerfen. Dann entschied ich mich dagegen und warf mich, wie ein Freund es mir zuvor beigebracht hatte, mit den Füßen Richtung Granate auf den Boden. Sie explodierte, bevor ich auf dem Boden lag. Außer einem lauten Knall und meinen tauben Ohren fühlte ich erstmal nichts. Kaum gratulierte ich mir selber – „Junge, Junge, auch das hast du überstanden“ –, da füllte sich mein Mund mit Blut. Als ich mich aufrichtete, um mich vom Ort des Geschehens zu entfernen – um mich herum sah es schrecklich aus –, da prasselte eine Serie an Salven aus 15er-Reihenfeuerpistolen auf uns nieder. Ich duckte mich vor den Kugeln, mir wurde schwindlig, kalter Schweiß trat aus meinem Körper aus.

Ich dachte, ich sterbe, und versuchte einen letzten Slogan zu rufen, als ich merkte, dass ich kaum mehr eine Stimme hatte und das Blut immer mehr meinen Mund füllte. Als die Salven aufhörten – ich denke, das ging in etwa eine Minute –, stand ich auf und versuchte, mich ins Esnaf Krankenhaus zu retten [welches an den Campus angrenzt, Anm. Red.]. Ich schaffte es etwa bis zur Fakultät für Fremdsprachen, als ich merkte, dass ich nicht mehr konnte und hinfallen würde. Da kamen Polizisten aus der Richtung von Süleymaniye angerannt und zogen mich an meinen Armen hoch. Es waren linke Polizisten von Pol-Der [antifaschistische Polizeivereinigung der 1970er; Anm. d. Red.], die zuvor vom unmittelbaren Umkreis der Universität abgezogen worden waren und in der entfernteren Umgebung Dienst leisten mussten. Sie riefen mir zu: „Halte durch, Freund!“, und trugen mich. Einer, ich werde es nie vergessen, hatte Tränen in den Augen. Die beiden Freunde von der Pol-Der haben maßgeblichen Anteil daran, dass ich heute noch lebe.

Cemil, unser herzallerliebster Cemil

Da es keinen Platz mehr im Esnaf Krankenhaus gab, schulterten sie mich wieder – ich konnte nicht mehr allein laufen – und brachten mich in ein Taxi: „Sofort nach Çapa [10]!“ Sie fuhren mit. Im Taxi war noch eine verwundete Genossin, ich glaube sie hieß Nilüfer, und sie rief Slogans: „Verdammt sei der Faschismus“, „die Revolution ist der einzige Weg“ oder so ähnlich; ich kann mich nicht mehr genau erinnern. Mein Mund war mittlerweile richtig voller Blut, ich hatte Schwierigkeiten beim Atmen und wurde immer wieder ohnmächtig. Ich versuchte mich an den Slogans zu beteiligen, aber ob mehr als ein Röcheln dabei rauskam, das weiß ich nicht mehr. Ich drückte ihre Hand und sie die meine und so hielten wir uns fest aneinander.

Als wir nach schweren Notfalloperationen wieder zu Bewusstsein kamen und sofort einen Blick in die Zeitungen warfen, lernten wir, dass Revolutionär*innen die Universität besetzt hatten und 50.000 Menschen zum Beerdigungszug der sechs verstorbenen Freund*innen kamen, wobei sich auch viele Arbeiter*innen beteiligten. Wir waren sechs Schwerverwundete im Krankenhauszimmer und wir weinten alle vor Freude. Die faschistische Belagerung war gebrochen worden und die Arbeiter*innen hatten die Fabriken verlassen, um zum Begräbniszug unserer Genoss*innen zu kommen.

Cemil war einer der Verletzten, die vor Freude weinten. Obwohl die Aydınlık-Bewegung – heute Vatan Partisi (VP) [11] –, der er angehörte, gegen Avantgarde-Aktionen war, hatte er sich mit uns an der Brechung der Belagerung beteiligt. Er bereute nichts, im Gegenteil. Die Wunden von uns restlichen fünf im Zimmer waren viel schwerer, er hatte nur oberflächliche Schrapnell-Wunden, davon aber viele. Die Faschisten hatten an die Granate noch einige größere Eisenstücke befestigt; als die Granate explodierte, flogen sie wie Geschosse durch die Gegend. Zum Glück explodierte die Granate erst, als sie schon auf dem Boden gelandet war; wäre sie in der Luft explodiert, die Zahl der Verwundeten und Toten wäre viel größer gewesen. Der Feind war niederträchtig, und er war entschlossen.

Cemil, unser herzallerliebster Cemil. Während er noch Volkslieder sang und unsere Seelen aufmunterte, ging es plötzlich bergab mit ihm. Eines der Schrapnelle hatte zu Wundbrand an einem Bein geführt. Sie nahmen ihn sofort mit zur Notfall-OP. Als sie ihn wegführten, rief er noch: „Den Hunden zum Trotz werde ich leben, ich werde wieder kommen und ich werde wieder singen“. Einige Zimmer weiter – damals gab es kaum Narkosen, wir wurden alle mehr oder minder ohne Narkose operiert – amputierten sie ihm das Bein. Seine Schreie kann ich noch immer hören. Wir alle erstarrten zu Eis. Hätte es doch nur einen Gott gegeben, zu dem wir hätten beten können. Cemil, unser herzallerliebster Cemil, er starb leider am darauffolgenden Tage. Und der Toten wurden sieben. 40 Menschen waren verwundet worden, davon, ich glaube, neun schwer.

Eine Generation der Würde

Die Ereignisse vom 16. März 1978 stehen für eine gesamte Periode. Diese Art von Ereignissen, die den Jüngeren heute wie ein Film erscheinen mag, waren damals Normalität. Es wurde ein Bürgerkrieg geführt von Kräften des tiefen Staates mit Unterstützung des Kapitals und der USA, bei dem von der MHP aufgehetzte arme, bemitleidenswerte Jugendliche verheizt wurden. Ein von allen seinen Ketten losgelassener faschistischer Terror wütete im Land und versuchte, das Erwachen des revolutionären Willens Anatoliens in Blutbädern zu ertränken. Die 78er versuchten, inmitten solcher Zeiten standhaft zu bleiben. Sie vertraten und verteidigten den Willen der Armen und die Ehre des Landes.

Es gelang den Faschisten nicht, sie konnten nicht siegen. Sie wurden nach dem 16. März zuerst von allen Universitäten und dann von allen Vierteln vertrieben. Letztlich konnten sie sich in Istanbul überhaupt nicht mehr halten. Und wo ihre Kraft nicht ausreichte, da blieb ihnen nur mehr der 12. September 1980 [12]. Die, die die USA „our boys“ nannten [13], taten, was ihnen befohlen wurde.

Entschuldigt bitte, dass ich die Geschichte so erzähle, als ob sie meine ist. Ich spiele keine Rolle, wirklich. Was wie meine Geschichte klingt, ist in Wahrheit die Geschichte der 78er-Generation. Tausende Jugendliche machten damals ähnliches durch und dachten ähnliches. Wir gaben nie auf. Auch wenn wir fielen, standen wir wieder auf und gingen den aufrechten Gang. Die 78er sind eine Generation der Würde und des Widerstandes. Ich bin stolz darauf, Teil dieser Generation zu sein.

Der Text ist die überarbeitete Form eines Texts aus den 1980ern und wurde zu erst auf Türkisch auf der Seite Sol Defter am 16. März 2011 veröffentlicht. Er wurde leicht modifiziert ins Deutsche übertragen und mit Anmerkungen versehen von Alp Kayserilioğlu.

Anmerkungen der Redaktion:

[1] Alles Viertel auf der europäischen Seite Istanbuls, nicht alle in der historischen Altstadt gelegen, teils weit voneinander entfernt.

[2] Türkiye İşçi Partisi (TİP), Arbeiterpartei der Türkei; Türkiye Sosyalist İşçi Partisi (TSİP), Sozialistische Arbeiterpartei der Türkei; Türkiye Komünist Partisi (TKP), Kommunistische Partei der Türkei.

[3] Goşizm, vom Französischen gauche (links); bezeichnete im damaligen Sprachgebrauch der türkischen Linken „Linksradikalismus“.

[4] Yıldız Teknik Universitesi, technische Universität Istanbuls, 1911 im Osmanischen Reich alsKonduktör Mekteb-i Âlîsi in Anlehnung an die Pariser Ingenieurshochschule gegründet. Am 9. Mai 1978 gab es einen faschistischen Anschlag auf die Universität, bei der drei Menschen starben und 12 Menschen verletzt wurden.

[5] Milliyetçi Hareket Partisi (MHP), Partei der Nationalistischen Bewegung; faschistisch-nationalistisch ausgerichtet, derzeit Hauptbündnispartner von Erdoğan.

[6] Sosyalist Demokrasi Partisi (SDP), Partei der Sozialistischen Demokratie.

[7] Türkiye İşçi Köylü Kurtuluş Ordusu (TİKKO), Befreiungsarmee der Arbeiter und Bauern der Türkei, illegaler militärischer Arm der maoistischen Türkiye Komünist Partisi/Marksist-Leninist(TKP/ML), Kommunistische Partei der Türkei/Marxistisch-Leninistisch.

[8] Şehremini: Kiez am westlichen Ende der Istanbuler Altstadt; Fatih: Zentrum der Istanbuler Altstadt, bezeichnet heute zugleich verwaltungstechnisch zugleich die gesamte Altstadt. Der Name Fatih, dt.: der Eroberer bezieht sich auf den Beinamen des Sultan Mehmet II. (1432-1481), unter dessen Regentschaft am 29. Mai 1453 Konstantinopel/Istanbul von den Osmanen erobert wurde.

[9] Süleymaniye: direkt nördlich vom Hauptgebäude der Istanbuler Universität gelegenes historisches Moscheenviertel, bezieht seinen Namen aus dem großen Moscheenkomplex namens Süleymaniye, errichtet vom berühmten Architekten Sinan 1550-57 für Sultan Süleyman I. (1495/96?-1566), den Prächtigen.

[10] Medizinische Fakultät mit Krankenhaus im nahegelegenen Şehremini-Viertel.

[11] Vatan Partisi (VP), Vaterlandspartei; schon damals fragwürdig und national-revolutionär, heutzutage klar nationalchauvinistisch, derzeit Bündnispartner von Erdoğan.

[12] 12. September 1980, blutigster Militärputsch der modernen Türkei, führte zur Zerschlagung der Linken und zur Umsetzung des Neoliberalismus.

[13] Nach Aussagen des Journalisten Mehmet Ali Birand kabelte der CIA-Verantwortliche in Ankara, Paul Henze, als er vom Erfolg des Militärputsches erfuhr, nach Washington: „Our boys did it.“ Henze bestritt dies später; Birand pochte darauf, dass Henze selbst ihm das so gesagt habe.

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