#1209HH - Aufruf - GOOD BYE DEUTSCHLAND
Am 12. September will ein Mob aus Neonazis, rechten Hooligans und Rassist_innen unter dem Label „Tag der deutschen Patrioten“ im großen Stil durch die Hamburger Innenstadt marschieren. Als Organisator der Veranstaltung fungiert der bekannte Hamburger Nazikader Thorsten de Vries. Vielen erscheint „Pegida“ und Dresden im sich weltoffen gebenden Hamburg fern. Ohne Grund! Oft genug wird bewiesen, dass rassistische Ideologie hier nicht weniger salonfähig ist als im Rest der Republik.
http://goodbyedeutschland.blogsport.eu/2015/08/31/aufruf-good-bye-deutsc...
Diese gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen gehen auch an Neonazis nicht vorbei. De Vries dockt mit der Veranstaltung politisch-konzeptionell an einen deutschlandweit erstarkenden rassistischen Grundtenor an. Die politischen Adressat_innen des Aufmarsches reichen so von Rechtspopulist_innen über „Pegida“-Sympatisierende bis hin zu Neonazis und nationalistischen Parteien. Letztere müssen jedoch laut Statement des Organisators, und hier zeigt sich das taktische Verständnis des Aufmarschs, auf ihre Parteiwerbung verzichten. Wie eng die Verbindungen zur NPD sind, zeigt sich unter anderem an einem kurzzeitig beworbenen Spendenkonto, welches auf Marius Edahl (Listenplatz drei der Hamburger NPD) eingetragen war. De Vries will den Schulterschluss aller Rassist_innen unter der Fahne, mit der sie sich auch alle Jahre wieder beim Fußball zu Deutschland bekennen. Glaubt man de Vries, soll es in Hamburg heiß hergehen, darum setzt er vor allem auf Hooligans, die nicht davor zurückschrecken Gegenproteste gewalttätig anzugehen.
Deutschland, du mieses Stück Scheiße!
Spätestens seit den diversen GIDAS bis „Hogesa“ muss sich die radikale Linke mit neuen Formen rassistischer und nationalistischer Aufmärsche auseinandersetzen. Gerade der von rund 4.000 Personen besuchte „Hogesa“-Aufmarsch 2014 in Köln zeigte deutlich, dass trotz der inhaltlichen Nähe zur Mitte der Gesellschaft, gewaltaffine Akteur_innen und bekannte Neonazis das Geschehen auf dem Aufzug dominierten. Dies ist auch am 12.09. in Hamburg zu erwarten. Rechter Populismus bis hin zu offen nationalsozialistischer Positionen, wie die der NPD, haben in Deutschland eine lange Kontinuität. Spätestens seit 2013 offenbart sich eine Entwicklung, in der organisierte Neonazis menschenverachtenden Ideologien direkt aus der vermeintlichen Mitte der deutschen Gesellschaft entgegenkommen. Dabei nimmt der rassistische deutsche Alltag hier eine Form an, welche die Erfolge eines „Kampfes um die Köpfe“ mit einem „Kampf um die Straße“ verbindet. Dies zeigt sich an den unverhohlenen Angriffen „ordentlicher“ Bürger_innen gegen vermeintlich „Nicht-Deutsche“ und am vorauseilenden Arrangement staalicher Akteur_innen mit angeblichen Ängsten – beides ist nichts anderes als Rassismus. Nicht allein die Indoktrinationsfähigkeit der Rechtspopulist_innen, sondern die offene gesellschaftliche Ideologie des Rassismus beweist sich in diesen Tagen im Besonderen. Das zunehmend rassistische Klima zeichnet sich auf verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen ab. Das sind erstens die deutschlandweit angestrengten, rassistisch motivierten Großaufmärsche wie „Pegida“, „Widerstand Ost-West“ oder auch „Hogesa“. Zweitens sind es die öffentlichen Mobilisierungen und Bürgerinitiativen à la „Nein-zum-Heim“-Kampagnen gegen konkrete, lokale Unterbringungsorte von Geflüchteten und drittens die klar gewaltförmigen Aktionen, wie Brandanschläge als Konsequenz eines aus den ersten beiden Organisierungen erstarkten rassistischen Selbstbewusstseins. Diese drei Erscheinungen kennzeichnen die Entwicklung der letzten Monate.
Die größten und erfolgreichsten Naziaufmärsche firmierten so 2014 und 2015 als bürgerlicher Protest unter dem Label herbei halluzinierter Ängste oder angeblich asylkritischer Positionen. Während der einst größte europäische Naziaufmarsch, welcher jährlich zum 13. Februar nach Dresden aufrief, aufgrund der Intervention eines breit aufgestellten antifaschistischen Bündnisses im Jahr 2014 auf 500 Nazis zusammen geschrumpft war, erreichten im gleichen Dresden die wöchentlichen antisemitischen, rassistischen und antifeministischen „Pegida“-Aufmärsche im Januar 2015 mit ca. 17.000 Teilnehmenden ihren Höhepunkt. Diesmal als Zug aus organisierten Neonazis und „ganz normalen“ Dresdner Bürger_innen. Seither versuchen Machtdemonstrationen neuerer Gruppierungen wie „Hogesa“, „Widerstand Ost-West“ und, „Gemeinsam sind wir Stark“, mit gewaltorientiertem Habitus an die rechtspopulistischen Positionen dieser Großaufmärsche anzudocken und sich selbst zur „Bürgerwehr“ des deutschen Volkes zu erklären.
Biedermänner als Brandstifter
Richten sich die Großaufmärsche rassistischen Tenors gegen abstrakte Schlagworte wie angebliche Überfremdung, den vermeintlich bevorstehenden Volkstod oder auch den herbeihalluzinierten Untergang des sächsischen Abendlandes, verdeutlicht sich die Gefahr dieser neuen rassistischen Massenbewegungen besonders an den Orten der Unterbringung Geflüchteter. Die Liste von Orten, in denen öffentlich gegen Geflüchtete mobil gemacht wird, ist lang. Für das Jahr 2014 zählte die Amadeu-Antonio-Stiftung 292 angemeldete Veranstaltungen. Auch in Hamburg kam und kommt es immer wieder zu Versuchen, die lokale Unterbringung von Geflüchteten zu verhindern. Im feinen Stadtteil Harvestehude verhinderten Anwohner_innen per Eilantrag die Einrichtung von Unterbringungen. Im weniger noblen Jenfeld wird selbst zugepackt: Hier blockierten anliegende Jenfelder_innen den Aufbau einer Zeltstadt für 800 Geflüchtete so massiv, dass dieser vorerst abgebrochen wurde. In Escheburg nahe Hamburg kann Bürger beides: Im Februar 2015 bewies ein Finanzbeamter, dass er sowohl zum Zupacken als auch zum Beschreiten des Rechtsweges in der Lage ist. Nachdem er „zum Wohle der Frauen und Kinder des Ortes“ eine geplante Unterbringung für sechs irakische Männer angezündet hatte, suchte er einen Anwalt auf, um mit diesem eine Klage gegen eben jene Unterkunft vorzubereiten. Seine Nachbar_innen zeigten sich beim Prozess besorgt; um den Brandstifter wohlgemerkt. Er habe schließlich „nur ein bisschen Laminat angekokelt“, und sei deswegen einer „solchen Hetze“ ausgesetzt.
Das Klima, welches an den Orten der Unterbringung schon vor deren Bezug entsteht, ist erfüllt von Ablehnung und Gewalt. Niemand sollte in abgeschotteten Zeltstädten oder Containerdörfern untergebracht sein. Noch weniger, wenn diese in Drecksnestern stehen, deren Bürger_innen den ankommenden Geflüchteten ihre Ablehnung entgegen schreien. Welche drastischen Mittel die Sicherheit des „Wir-Gefühls“ befördert, zeigt sich unter anderem in zahlreichen Brandanschlägen gegen Flüchtlingsunterbringungen. Für das Jahr 2014 zählte die Amadeu Antonio Stiftung 247 Angriffe, davon 36 Brandanschläge auf die Unterbringungen von Geflüchteten.
Wenn der Kopf den Geist aufgibt
Wenn heute ganze Orte in Sachsen, Thüringen und Mecklenburg-Vorpommern in Anlehnung an `89 bei rassistischen Kundgebungen „Wir sind das Volk“ rufen, führen sie den immer bis zum Erbrechen aufgewärmten Slogan letztlich seiner konsequenten Bestimmung zu. Demokratie und Volksherrschaft im widerlichsten Sinne werden so im bürgerlichen Staat des Kapitalismus gegeneinander austauschbare Begriff. Das Volk, als exklusives Projekt, als Pfeiler der Nation, wird selten so offensichtlich, wie wenn sich die „Wir sind das Volk“-Chöre, auf den „MV-Gida“-Aufmärschen in Schwerin mit den in die Jahre gekommenen „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus“-Rufen abwechseln.
Rassismus scheint momentan in den Orten der Unterbringung von Geflüchteten zum schützenswerten „demokratischen“ Bürgerrecht zu geraten. „besorgte Bürger“, vermeintliche Ängste und angebliche Asylkritiker_innen belegen durch alle Schichten hinweg, dass nichts mehr verbindet als nach unten zu treten, egal wie viel oder wenig Klasse man selbst hat. Das beweist sich in der Kuhstallwärme der Provinz-Kleinstadt wie auch im Hamburger Nobel-Stadtteil.
Begleitet, befeuert und legitimiert wird dieses gesellschaftliche rassistische Hintergrundrauschen von einer Melange aus politischen Akteur_innen, die Parteimitglieder ebenso umfasst wie die Exekutive. Horst Seehofer verwendet zwar 2015 nicht mehr explizit das Bild vom „vollen Boot“. Der Kampfbegriff des „massenhaften Asylmissbrauchs“ durch Geflüchtete vom Balkan geht ihm aber auch heutzutage leicht über die Lippen. Der Hamburger Bürgermeister Olaf Scholz bekommt wegen des Verzichtes auf derart griffige Parolen weniger medialen Zuspruch, in der Sache ist er sich mit Seehofer aber einig. „Es geht um schnellere, unbürokratische Entscheidungen“, bekräftigt Scholz im „Stern“. „Dazu gehören auch spezialisierte Aufnahmeeinrichtungen für Flüchtlinge ohne Bleibeperspektive“. Die Sorge um den „besorgten Bürger“ ist bei der Parteipolitik aller Couleur um einiges weiter verbreitet als die Solidarität mit Geflüchteten. Auch die Exekutive empfiehlt sich als Spezialistin fürs Klassifizieren, Einsortieren und Diskriminieren. „Racial Profiling“ ist gang und gäbe, sei es durch die Menschenjäger_innen der Bundespolizei an Bahnhöfen und in Grenznähe oder durch die „Dealer“-jagenden Bereitschaftsbullen in Hamburg und Berlin. Die rassistische Praxis der Schikanen, Kontrollen und Übergriffe auf Menschen „nicht-deutschen“ Aussehens ist ausgefeilt und folgt einem klaren Ziel: Geflüchtete und illegalisierte Menschen mit Repression zu überziehen und letztlich abzuschieben.
Unisono verkünden alle Akteur_innen: Willkommen sind die Geflüchteten, wenn sie vor „echten Krisen“ fliehen und wenn es nicht „zu viele“ sind. Handelt es sich bei ihnen um gut ausgebildete, angepasste, leistungsbereite Menschen, dann können sie sogar auf eine längerfristige Perspektive hoffen. Ungewollt sind hingegen diejenigen, die vor Elend und Perspektivlosigkeit fliehen. Oder gar die „Frechheit“ besitzen, sich einfach ein besseres Leben zu wünschen. Diese werden am besten in separaten Lager untergebracht, bzw. sorgt die EU weit jenseits ihrer Grenzen, mit Hilfe von Frontex, bereits dafür, dass sie die Grenzen Europas niemals erreichen.
Harvestehude, Jenfeld und Escheburg zeigen wie viele andere Orte, dass Rassismus in diesem Klima nicht zwingend Demagog_innen und Rattenfänger_innen braucht. Zwar ist die enorme Gefahr durch organisierte Nazis unter keinen Umständen zu vernachlässigen, doch sind diese nicht der Grund von Rassismus. An vielen Orten sind sie lediglich die organisierende Kraft der „Asylkritiker_innen“. Eine Würdigung von antirassistischer Praxis in den Orten und Stadtteilen ist ebenso wichtig wie eine Kritik der gesellschaftlichen Verhältnisse. Genau diese Verhältnisse werden letztlich durch die Situation bestimmt, der sich die Geflüchteten aussetzen müssen. Der „good will“ einer Willkommenskultur kann dabei die breiten rassistischen Anfeindungen nicht aufheben, sondern maximal ertragbarer machen. Progressive Initiativen vor Ort gilt es somit zu unterstützen, dies hat aber nur solange Potential, wie vor den realen Kräfteverhältnissen und rassistischen Hegemonien die Augen nicht verschlossen werden.
Nichts führt an einer klaren Position für bedingungslose globale Bewegungsfreiheit vorbei. Es ist egal, ob Menschen vor Krieg oder ökonomischen Bedingungen fliehen müssen oder ob andere Motive sie antreiben. Unsere Solidarität gilt den Geflüchteten wie auch allen anderen Menschen, welche als Projektionsfläche angeblicher Ängste „besorgter Bürger“ dienen müssen. Sie gilt denen, die es nicht schaffen, die europäischen Außengrenzen zu bezwingen – wie auch denen, die es schaffen und sich hier in die perspektivarme Mühle der Asylbürokratie begeben. Unser Widerstand gilt deshalb den rassistischen Verhältnissen: ob in deutschen Amtsstuben, in Form „besorgter Bürger“ oder als organisierte Nazis.
Finger und Fäuste
Am 12.09. wird es eine Vielzahl von Aktionen und Ausdrucksmitteln gegen den „Tag der deutschen Patrioten“ in Hamburg geben. Wir sind solidarisch mit allen Aktionen, die an diesem Tag das Ziel haben, den Naziaufmarsch zu verhindern. Dass Interventionen aller Art nicht frei von Risiken sein werden, sollte dabei allen bewusst sein. Weder Hools und Nazis noch Bullen werden ambitionierten Antifaschist_innen an diesem Tag freundlich gesonnen sein. Organisiert euch zu eurem eigenen Schutz und setzt euch mit Aktionsformen und Repression im Vorfeld auseinander. Wir als autonome Antifaschist_innen sind uns bewusst, dass die Gewalt der Verhältnisse auch der Kritik des Handgemenges bedarf. Deshalb heißt es für uns, sich dem deutschen Mob mit allen Mitteln und auf allen Ebenen entgegen zu stellen und ihn, egal ob er sich „patriotisch“ oder „nationalistisch“ nennt, anzugreifen.
Mit allem und allen gegen den deutschen Mob – nicht nur am 12.09.2015