Die Zusammenfassung: Schwarzfahr-Aktionstage vom 2. bis 5.3.2015

Direct-Action nach Bilderbuch: Mit einer 30-stündigen Aktionserie haben einige Aktivist_innen eine Debatte angezettelt um den Unsinn des Bestrafens von Schwarzfahrer_innen, von Fahrkarten überhaupt und gleich noch für eine andere Verkehrspolitik geworden. Start war in Kempten, es folgte eine erste Aktions-Zugfahrt nach München, dort Aktionen, Demos und ein Strafprozess. Die nachfolgende Aktions-Zugfahrt nach Frankfurt war am aufreibendsten, aber nötig. Denn am 3.3.ging es - wieder per Aktionszugfahrt - nach Gießen und dem Prozess dort. Richtig toll: Unabhängig organisierten Aktivist_innen abends eine weitere Aktionszugfahrt ab Göttingen. Nach einem Tag Pause folgte am 5.3.2015 in Gießen dann noch ein weiterer Strafprozess (Überblick über alles).

Der Hintergrund: Mobilität für alle & Nulltarif in Bussen und Bahnen - weg mit dem Autowahn!

Es ging von Anfang an um mehr als "nur" die Kritik an der Kriminalisierung des Fahrens ohne Ticket. So wurde auf dem dann während der Aktion genutzten Flugblatt (welches zeitlos ist, also bei Aktionen und z.B. auch beim offenen Schwarzfahren weiterhin eingesetzt werden kann). Dort wurde das gesamte Fahrkartensystem und überhaupt die Unterwerfung der Mobilität unter Kapitalzwänge kritisiert. Auszug:

•  Wer sich kein Ticket leisten kann oder will, tut das oft aus Mangel an Geld. So sind die arm gehaltenen Menschen weniger unterwegs, leben sozial isolierter und sind in ihren Möglichkeiten erheblich eingeschränkt. Für Menschen mit sehr wenig Geld bleibt nur die Qual der Wahl zwischen Schwarzfahren oder dem Verzicht auf Fortbewegung.
•  Wenn etwas richtig viel Geld verschwendet, dann das Fahrkartenwesen selbst. Ungefähr ein Fünftel der Einnahmen werden von Buchhaltung, Automaten, Preisberatung, Kontrollen und der Werbung für Fahrkarten aufgefressen. Dabei sind die Kosten für Gerichtsverfahren und Gefängnisse noch gar nicht mitgerechnet.
Fazit: Wenn Sie mit Ticket in einer Bahn sitzen, neben Ihnen jemensch schwarz fährt oder sein_ihr Ticket teilt, dann ist Ihr Fahrpreis dadurch nicht höher geworden. Stattdessen müssen Sie aber nicht die Kontrolleur _innen mitbezahlen, sondern den_die Kontrolleur_in.

Es geht auch anders! Wir fordern eine Abkehr vom Fahrkartenwesen. Mobilität ist Menschenrecht. Daher: Nulltarif für alle!
Fahrpreise halten Menschen davon ab, den öffentlichen Verkehr zu nutzen. Würden jedoch mehr Menschen Busse und Bahnen nutzen, müssten mehr Linien in dichterem Takt fahren – auch in abgelegene Bezirke und Regionen. Das wäre doch gut, oder? Das verbessert die Mobilität für alle. Und hat noch weitere Vorteile:
•  Freiflächen und sichere Aufenthaltsräume in Dörfern und Städten verschwinden durch den massiven Autoverkehr. Wenn mehr Menschen mit Bussen und Bahnen unterwegs sind, könnten Tiere, Kinder oder Erwachsene viele der bisher für den Autoverkehr genutzten Parkplätze und Straßen zurückerobern als ruhige und kreative Spiel-, Flanier-, Erholungs- oder Gestaltungsräume direkt am Wohnort.
•  Ob Millionär_in oder HartzIV – das Ticket von A nach B kostet für beide gleich viel. Ist das nicht völlig ungerecht? Mit einem Nulltarif können alle Menschen in gleicher Weise mobil sein.

 

Der Anlass: Prozessserie gegen Schwarzfahrer (trotz Hinweisschild)

Geboren wurde die Idee der Aktionstage aber durch den Versuch des Staates, ein Schlupfloch zu schließen, mit dem Schwarzfahren straffrei war - jedenfalls nach Gesetzestext, einschlägigen Kommentaren und höchstrichterlichen Urteilen. So fuhren etliche Menschen schon länger mit offener Kennzeichnung ohne Ticket - und nutzten das noch zu Werbung für ein Nulltarifsystem im öffentlichen Personenverkehr. Entsprechende Erklärungen standen immer wieder auf den Schildern, die die Freifahrer_innen an Jacke, Hut oder an anderen Stellen befestigten und die oft hohe Aufmerksamkeit erregten. Doch Verkehrsunternehmen, viele Kontrolleur_innen (aber längst nicht alle ...), Staatsanwaltschaften und Gerichte rückten mit vereintem Potential gegen die kreativen Schwarzfahrer_innen an. Es kam zu Prozessen und extrem unterschiedlichen Urteilen, bei denen allerdings alle anerkannten: Im Prinzip ist gekennzeichnetes Schwarzfahren tatsächlich straffrei, nur in diesem Ausnahmefall und blablabla ... (jede_r Richter_in dachte sich irgendwas Besonderes und Unvorhersehbares aus) irgendwie doch nicht. Allein das Amtsgericht Eschwege stellte das Naheliegende und einfach Erkennbare fest: Freispruch - wegen Schild.

Aus dem Freispruch des Amtsgerichts Eschwege vom 12.11.2013
Der Angeklagte hat zwar eingeräumt, jeweils den Zug der Cantus Verkehrsgesellschaft benutzt zu haben, ohne im Besitz des erforderlichen Fahrscheins gewesen zu sein. Seine Einlassung, dass er jedoch in allen 3 Fällen vor Fahrtantritt deutlich sichtbar einen Zettel an seine Kleidung geheftet hatte mit der Aufschrift "Ich fahre umsonst" war nicht zu widerlegen. Damit hat er allerdings gerade offenbart, kein zahlungswilliger Fahrgast zu sein, weshalb bereits der objektive Tatbestand des § 265 a Abs. 1 StGB nicht erfüllt ist.

Überall anders führten die Verfahren mit abstrusen Begründungen zu Verurteilungen und wanderten durch Instanzen. Noch hat kein höheres Gericht darüber entschieden, dort aber würde es wohl spannend werden. In München wurde im Laufe der Aktionstage das Verfahren am Landgericht zwar eingestellt, aber selbst der Staatsanwalt bedauerte dort, dass es doch eigentlich mal interessant gewesen wäre, die Rechtsfrage des Schwarzfahrens mit Kennzeichnung genauer juristisch zu prüfen (keine Angst: das wird kommen!).

So versuchten die Schwarzfahris mit Hinweisschild, alles mehr in die Öffentlichkeit zu bringen. Das Fahren selbst war schon auffällig, nun sollten die Prozesse genutzt werden. Erstmals gelang das mit dem Prozess beim Amtsgericht Starnberg. Der Prozess wurde intensiv in den Medien dargestellt. Danach überlegten einige Betroffene und Interessierte, mit den Mittel einer Mischung verschiedener Aktionsformen das Thema stärker nach außen zu tragen. Was dabei herauskam, war eine Aktionsserie mit drei Strafprozessen, inhaltlicher Vermittlung und mehr ...

 

Der Ablauf im Kurzprotokoll

Teil 1: Start war am Montag, 2.3. um 10.32 Uhr in Kempten/Allgäu mit der Aktionszugfahrt nach München, Flyern, Auseinandersetzungen mit Schaffner_innen, aber dennoch Aktion in allen Teilen des Zuges. Kurz vor Pasing erklärte die inzwischen im Zug aufgelaufene Polizei die Festnahme. Eine geplante Räumung in Pasing wurde aber abgesagt, stattdessen folgten 40min Polizeikessel im Hauptbahnhof. Die Aktivistis machten weiter: Demo durch den Hauptbahnhof, dann in der U-Bahn-Unterwelt. Der nächste Kessel entstand, diesmal durch MVG-Leute, am Ausgang der U-Bahn-Station Stiglmaierplatz. Später erreichten alle das Landgericht. Dort stand der Prozess gegen Dirk Jessen an - zweite Instanz (Berufung) wegen Schwarzfahrens mit Schild. Das Flyerverteilen auf den Gerichtsfluren wurde nach einiger Zeit untersagt: "Sie dürfen hier keine Flyer verteilen ... jedenfalls keine in die Richtung", sprach ein Justizwachtmeister - eine der vielen Stilblüten des Tages. Dann der Prozess. Jörg B. wurde als Verteidiger zugelassen, zu zweit kämpfte es sich mit offensiver Prozessführung schon ganz gut gegen die Justizmacht. Das Ergebnis: Eine Einstellung, also Abgang ohne Verurteilung (Bericht im BR ++ Süddeutsche ++ Augsburger Allgemeine ++ tz).

Teil 2, der anstrengendste: Aktionsschwarzfahrt Richtung Gießen, wo am Folgemorgen der nächste Schwarzfahrprozess anstand. Die Tour gestaltete sich stressig. Einige Kontrolleure versuchten sogar mit körperlicher Gewalt, die Aktionsgruppe im Zug zu behindern. Wortgefechte bis und großes Polizeiaufgebot in Nürnberg. Zwangsweiser Ausstieg, aber gute Stimmung auf beiden Seiten. Mehrere Polizeibeamt_innen wollten Fotos machen von der Gruppe, die Info von Aktion und Nicht-Verurteilung war inzwischen rum. Die Gruppe war prominent in Radio, Pressemitteilungen und internen Polizeikanälen vertreten. Höhepunkt: Die Bundespolizei gab eine Warnmeldung (natürlich mit ziemlich willkürlicher Rechtsauslegung) heraus - das hat sicherlich selten so schnell eine Mini-Aktionsgruppe geschafft. Direct Action zeigte hier, warum sie den Latschdemos und langweiligen Durchschnittsaktionsformen deutscher Protestbewegungen überlegen ist. Im nächsten ICE nach Würzburg folgte das gleiche Spiel, wenn auch nicht ganz so aggressiv. Einen Zug später traf die Aktionsgruppen dann auf einen richtig netten Kontrolleur, der die Kritik an der Firmenpolitik der Bahn teilte - kein Wunder, er ist ja schließlich auch eher ein Opfer. Bahnchef Grube hatte vier Tage vorher als Hauptziel der Bahn rausgegeben, ein berechenbarer Partner am Kapitalmarkt zu sein. Personenbeförderung wird zur Nebensache im Kapitalismus, Profitinteresse dominieren. Weiter als bis Frankfurt klappte das Zugfahren dann nicht mehr. Es folgten wenige Stunden Schlaf bei Unterstützer_innen in der Mainmetropole.

Teil 3: Früh morgens ging's dann mit Flyern, Diskutieren und Schwarzfahrkennzeichnung nach Gießen. Keine Probleme unterwegs. Demo im Bahnhof Gießen und durch die Stadt. 9.30 Uhr startete der Prozess gegen Jörg B. Nach knapp 30min brauchte er das Verfahren mit Anträgen zum Abbruch. Außer dem Aufruf der Sache war genau nichts passiert (Berichte im Hessischen Rundfunk ++ Gießener Allgemeine ++ Gießener Anzeiger ++ Lupengießen). Vom Gericht zum Bahnhof ging's nochmal als Demo zurück und dann auf die letzte Aktions-Schwarzfahrt nach Saasen - mit dem gewalttätigsten Schaffner (HLB-Bediensteter), dessen Freiheitsberaubung nur per Notbremse zu stoppen war. Ein Tag und zwei Nächte Pause für die Aktionsgruppe, die nun in der Projektwerkstatt den 5.3. vorbereitete.

Teil 4: Dafür wurden andere aktiv. Von Göttingen aus fuhr eine kleine Gruppe offensiv schwarz und verteilte einen eigenen Flyer.

Teil 5: Am 5.3. fand der zweite Prozess in Gießen statt. Er war sehr kurz. Der Angeklagte Jörg B. stellte sofort einen Befangenheitsantrag gegen Richter Nink. Der hatte ihn 2009 für eine Feldbefreiung sechs Monate hinter Gitter geschickt und die hohe Strafe unter anderem mit der staatskritischen Einstellung des Aktivisten begründet. Diese offensichtlich politische Justiz war zentraler Punkt der Richterablehnung. Nink brach den Prozess ab, ließ sich aber noch auf eine halb juristische, halb politische Debatte mit dem Angeklagten ein. Das könnte noch spannend werden ...

 

Reaktionen

Das Presseecho war gewaltig. Hier waren nur sehr wenige Aktivistis unterwegs - aber eben in einer gut vorbereiteten, gleichzeitig spektakulären als auch inhaltsreichen Aktion. Es war endlich mal wieder eine richtig gute Direct-Action: Erregung schaffen, Inhalte vermitteln, widerspenstig sein, Menschen direkt ansprechen, Konkretes und Utopisches fordern. An verschiedenen Ecken brandeten juristische Debatten auf, z.B. in der taz und auf einem Jurablog (wo leider Beiträge der Aktivistis zensiert werden - offenbar möchten sich selbsternannte Rechtsexperten mit solchen Leuten nicht abgeben).

Ganz schlecht, fast peinlich, aber andererseits leider auch trostlos üblich war das Verhalten der etabliert-verkrusteten Teile politischer Bewegung mit ihren starren Apparaten. Rechtshilfeorganisationen und Umweltverbände wurden vorher angesprochen. Reaktion: Null. Das ist typisch. Die Apparate und schwerfälligen Hierarchien haben gar kein Interesse, dass die Menschen selbst Aktionen machen. Die sollen spenden, Mitglied werden, Anwält_innen finanzieren und sonst die Klappe halten. Solche Strukturen braucht politischer Widerstand nicht. Sondern mehr Menschen, die ihre Ideen entwickeln, sich Knowhow aneignen und agieren.

Richtig grausam ist inzwischen der Widerstand aus Rechtshilfegruppen gegen die offensive Prozessführung. Denn diese stellt sich immer deutlicher als die politisch interessantere und juristisch erfolgreichere Strategie heraus. Wenn Rote Hilfe & Co. (zum Glück dort nicht alle!) davon nicht nur abraten, sondern richtig Druck ausüben, das nicht zu tun, so helfen sie der herrschenden Politik, den Repressionsapparaten und schaden den politischen Akteur_innen. Offensive Prozessführung hat im Laufe der vier Tage Aktionen einen Prozess zur Einstellung gebracht und zwei zum Absturz. Gute Quote - lohnt sich! Mehr davon, egal was die verkrusteten Bewegungsführungen sagen!

 

Wie weiter?

Viele weitere Aktionen sind möglich, unter anderem die Idee kleinerer Aktionsschwarzfahrten an verschiedenen Orten (z.B. bei einer Station einsteigen, flyern und informieren, wieder raus). Wie wäre es, wenn Leute, die sowieso schwarzfahren, das künftig mit Kennzeichnung, offensiv und mit Flyern machen? Und die, die vor Gericht stehen, daraus Aktionen machen? Wer beteiligt sich an einer Massenzeitung, die als bunter, inhaltsreicher Flyer überall eingesetzt werden kann?

Wo laufen noch Prozesse? Wer macht darauf Aktion? In Gießen gehen die beiden Prozesse ohnehin weiter. Für die Berufungsverhandlung ist auch schon der Folgetermin klar: Mittwoch, den 18.3., um 9 Uhr im Landgericht Gießen (Raum 15). Wieder die Konstellation Jörg B. gegen Richter Nink. Könnte sich also lohnen, obwohl der Angeklagte um den Blockupy-Aktionstag weiß. "Ich stelle einen Antrag, den Prozess abzukürzen, damit alle zumindest zu den Demos rechtzeitig ins nahe Frankfurt weiterfahren können - auch wenn ich die direkten Blockaden wichtiger finde", kündigt der Angeklagte an. Denn draußen auf der Straße gilt wie im Gerichtssaal: Wichtiger als Mitlatschen oder Zugucken ist Selbermachen! Sicher ist wohl auch: Es werden nicht die einzigen Prozesse bleiben - und am Ende dürften ohnehin Revisions- oder sogar Verfassungsgericht darüber entscheiden, ob provinzielle Richter_innen so einfach mit ihren Urteilen unter Strafe stellen können, wofür es keine gesetzliche Grundlage gibt.

Unabhängig davon wäre es schön, die Kampagnen für Fahrkarten-Teilen, pinke Punkte, Nulltarife in Kommunen usw. wieder in Gang zu bringen. Die sind vielfach eingeschlafen. Kreative Aktionsformen können helfen, das Thema nochmals auf die politische Agenda zu bringen - als Ende des Nazi-§265a und als Beginn des Freifahrens in Bussen und Bahnen.

 

 


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Umweltschutz und Emanzipation

 

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