"Wir sind keine Märtyrer" - Eine Nachricht von Serge

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Bei crimethinc erschien eine englische Übersetzung eines Briefes des Genossen Serge, der bei Protesten in Saint Soline verletzt wurde und über einen Monat lang in einem künstlichen Koma lag.

"Wir sind keine Märtyrer"
Eine Nachricht von Serge, der den Mordversuch der französischen Polizei überlebt hat.
21. Juni 2023

Es folgt eine Übersetzung der ersten Nachricht von Serge seit die französische Polizei ihn und viele andere während einer Demonstration in Sainte-Soline am 25. März 2023 ernsthaft verletzt hat. Serge lag einen Monat lang im Koma nachdem ein Polizist ihm mit einer Granate in den Kopf geschossen hat. Wir beobachteten angsterfüllt seinen Zustand und sind über alle Maßen erleichtert, jetzt berichten zu können, dass er soweit genesen ist, dass er diese Nachricht schreiben konnte.

Gerade erst hat der italienische Anarchist Alfredo Cospito auf wundersame Weise seinen 180 tägigen Hungerstreik gegen die Bedingungen der Isolationshaft des italienischen Gefängnisregimes überlebt. Nun sind wir dankbar, dass Serge weiter unter den Lebenden weilt. Es ist schön zu sehen, dass der Abstand zwischen Leben und Tod manchmal etwas größer ist, als es zuerst scheint. In einer Zeit, in der wie bereits so viele Genoss*innen verloren haben, macht es eine kleine gute Nachricht so viel einfacher, weiter zu machen.

Gestern hat die französische Polizei 18 Menschen unter dem Vorwand verhaftet, sie seien bei den "Soulevements de la Terre" (Aufständen der Erde) aktiv, die den Protest in Sainte-Soline organisiert hatte. Heute hat der Französische Innenminister Gérald Damanin das staatliche Verbot und die Auflösung dieser Bewegung verkündet. Wie so oft bedroht der Staat diejenigen, die er vorgibt zu schützen, beschuldigt die Opfer seiner Angriffe und versucht diejenigen, die sie überlebt haben zum Schweigen zu bringen.

Was die Soulevements sind und wie ihr sie angesichts der staatlichen Repression unterstützen könnt, seht ihr hier. Über die Zusammenstöße in Sainte-Soline lesen, könnt ihr hier. Für mehr Hintergrundinformationen geht dieser Text den Ursprüngen des Klassenkampfes der letzten Monate in Frankreich nach, die eine Antwort auf die unbeliebte Rentenreform des Französischen Präsidenten Emmanuel Macron sind.

 

Eine Nachricht von S am 17. Juni 2023

Hallo ihr alle,

Mein Name ist Serge. Ich wurde während einer Demonstration am 25. März 2023, wie viele andere auch, durch einen Kopftreffer einer Granate schwer verletzt. Mutmaßlich war es ein direkter Schuss eines Polizisten der mit einem „Cougar“ Granatwerfer (Markenname eines Granatwerfers) ausgestattet war. Ich befand mich durch die erlittene Kopfverletzung in einer lebensgefährlichen Situation, die noch dadurch verstärkt wurde, dass es keine Möglichkeit der medizinischen Erstversorgung während der Demo gab. Nach einem Monat in einem künstlichen Koma und sechs Wochen ambulanter Pflege wurde ich auf eine neurochirurgische Station und anschließend in eine Rehaklinik verlegt. Im Moment mache ich große Fortschritte wieder zu lernen zu laufen, zu essen, auch nur zu sprechen und zu denken. Es wird ein verdammt langer Weg sein, aber ich werde alles dafür geben, mir das wieder zu erkämpfen, was ich einmal hatte, sowohl physisch als auch psychisch. Natürlich mache ich das für mich selbst. Aber ich glaube auch, dass es eine politische Notwendigkeit ist, nicht aufzugeben, sich nicht von der Repression des Staates zerstören zu lassen – gerade in einer Zeit, in der die Staaten auf ihren Terror und unsere Passivität setzen.

Zuallererst möchte ich all jenen auf diesem Feld danken, die mich getragen haben, meine Hand hielten, mich beschützten, mir Erste Hilfe leisteten (die Blutung stoppen, Herzdruckmassage, Intubation, etc) und mich einfach am Leben hielten. Außerdem will ich den Pflegekräften danken, die mich jederzeit versorgten und mir noch heute helfen meinen Körper und meinen Geist zurück zu bekommen. Ich kann euch nur sagen, wie gut es sich anfühlte, als ich aus dem Koma erwachte und das Ausmaß an Solidarität sah, dass Menschen ausgedrückt hatten: Versammlungen, Texte, Tags, Spenden, Aktionen, Shows und zahllose Nachrichten von Genoss*innen auf der ganzen Welt. Das Echo eurer Stimmen und der Schrei der Straße half mir und meinen Liebsten, weiter zu machen. Für all das, möchte ich euch danken. Ihr ward großartig.

All das erinnert uns daran, dass weder Schläge, noch Gefangennahmen, keine Verstümmelung und kein Mord der Hüter*innen der kapitalistischen Ordnung unbemerkt bleiben darf. So oft verstümmeln und ermorden sie Menschen. Das sind keine Unfälle, es ist Teil ihres Jobs. Viel zu viele Ereignisse auf dem ganzen Globus erinnern uns daran, dass es keine wahrere Aussage gibt, als „ACAB“. Alle Polizist*innen sind tatsächlich Schweine. Sie sind und werden die Scherg*innen der Bourgeoise bleiben. Sie beschützen ihre Interessen und sichern, zumindest bis jetzt, ihr Überleben.

Das einzige Angebot, dass die Kapitalist*innenklasse uns macht, ist die Zerstörung unserer Lebensgrundlage in unfassbarem Ausmaß. Alle Proletarier*innen hier und überall machen derzeit diese bittere Erfahrung. Angesichts der Kämpfe, die wir diesem schrecklichen Ende entgegen setzen, haben sie ganz offensichtlich beschlossen, die Daumenschrauben der Repression anzuziehen. Dass passiert sowohl mit neuen repressiven Gesetzen, als auch mit einem Freifahrtschein für die Polizeikräfte, wie wir in Sainte-Soline gesehen haben. Wir müssen uns dessen bewusst werden und wir müssen gemeinsam die Idee verbreiten, dass es außer Frage steht, sich in diese Kämpfe zu begeben ohne ausreichenden Schutz und ohne die Möglichkeit Widerstand zu leisten. Wir sind keine Märtyrer.     

Doch unsere Stärke liegt keineswegs in dem, was auf dem Schlachtfeld passiert. Unsere Stärke liegt in unserer Zahl, in unserem Platz in der Gesellschaft und in der Idee einer besseren Gesellschaft die wir zu erreichen versuchen. Gegen die handvoll Organisationen der Boss*innen und Bürokrat*innen, die uns nach Hause schicken möchten, sobald sie auf unserem Rücken ihren Platz an der Sonne erreicht haben, brauchen wir tausend Ansätze uns zu organisieren durch und für konkrete Solidarität, für die Genoss*innen der Bewegung, aber vor allem auch für diejenigen, die an zukünftigen, revolutionären Kämpfen teilnehmen werden.
Kraft allen Genoss*innen die derzeit vom Staat bedroht werden!  
Lang lebe die Revolution!

 

 

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english version

 

“We Are Not Martyrs”A Message from Serge, Who Survived Attempted Murder at the Hands of French Police

 

What follows is a translation of the first message from Serge since French police grievously injured him along with many other people during a protest in Sainte-Soline on March 25, 2023. Serge spent a month in a coma after a police officer shot him in the head with a grenade. We have been anxiously following his situation and it is with tremendous relief that we report that he has recovered enough to release the following message.

 

Just as we are grateful that the Italian anarchist Alfredo Cospito miraculously survived his 180-day hunger strike against the solitary confinement regime of the Italian prison system, we give thanks that Serge remains among the living. It is heartening to see that the margin between life and death is sometimes a little wider than it appears, especially in a time when we have lost so many comrades. A little good news makes it easier to keep going.

 

Yesterday, French police arrested 18 people accused of association with Soulevements de la Terre (“Earth Uprisings”), one of the movements that participated in the protests in Sainte-Soline. Today is the date that French interior minister Gérald Darmanin set for the state-ordered dissolution of the Soulevements de la Terre. As usual, the state endangers the lives of those it supposedly protects, blames the victims of its attacks, and then takes steps to silence the survivors.

 

You can learn more about the Soulevements and how to support them in the face of the state crackdown here. You can read more about the clashes in Sainte-Soline here. For more background, this text explores the origins of the social conflict that has unfolded in France over the past several months in response to French President Emmanuel Macron’s unpopular effort to force French workers to labor longer before retirement.

 

A Message from S on June 17, 2023

 

Hello everyone,

 

My name is Serge and I was seriously injured, like many others, at the demonstration against the Sainte-Soline mega-basin on March 25, 2023. I was hit in the head by a grenade, probably a direct shot fired by a police officer equipped with a Cougar grenade launcher. I suffered a serious head injury which put me in an absolutely critical condition, a situation made worse by the fact that emergency services were unable to care for me during the demonstration. After a month in an induced coma and six weeks spent in intensive care, I was first transferred to a neurosurgery unit, and then to a rehabilitation center. Right now, I feel that I have made enormous progress in my ability to move, eat, and simply talk and think. It’s going to be an extremely long road, but I’m determined to give it everything I have, to fight to get back what I once had, both physically and mentally. Of course, I’m doing it for myself, but also because I believe that refusing to give in, refusing to be crushed by the repressive machine, is a political necessity at a time when the states are betting on using terror and on us remaining passive.

 

First of all, I would like to thank all those who, in that minefield, carried me, held my hand, protected me, gave me first aid (slowing the bleeding, cardiac massage, intubation, etc.) and quite simply enabled me to stay alive. I would also like to thank the caregivers who, at every stage, took care of me and are still helping me today to regain my body and mind. I can only tell you how good I felt when I came out of my coma and saw the tremendous solidarity that people have expressed: assemblies, texts, tags, donations, shows, actions, and various messages from comrades all over the world. The echo of your voices and the roar of the streets helped me and my loved ones to keep going. For all this, I say to all of you a big thank you. You have been amazing.

 

All this reminds us that it is vital that no beating, no incarceration, no mutilation, no murder by the forces of capitalist social order should go unnoticed. They mutilate and murder people so often that it is no accident, it’s part of their job. Far too many stories around the world remind us that there’s no truer statement than the formula “ACAB.” All cops are indeed bastards. They are and will remain the minions of the bourgeoisie whose interests they protect and ensure along with, at least until now, their continuing survive.

 

The only prospect that the capitalist class offers us is the deterioration of our living conditions on a massive scale, and all proletarians here and abroad are currently experiencing this bitter reality. Confronting the struggles we are waging to thwart this disastrous destiny, they have clearly chosen to drastically increase repression, both through new repressive laws and by giving carte blanche to law enforcement, as seen in Sainte-Soline. We must take note of this, and collectively promote the idea that it is out of the question to take part in a struggle without effective protection and the capacity to resist. We are not martyrs.

 

Nevertheless, our strength has little to do with what happens on the battlefield. Our strength is in our numbers, in our place in society and the better world we aspire to. Against the handful of organizations of leaders and bureaucrats who would like to send us home once they have earned their place in the sun on our backs, we need a thousand ways of organizing ourselves at a grassroots level through and for concrete solidarity, for the comrades in the movement but also, and perhaps above all, for all those who will join future revolutionary movements.

 

Strength to comrades currently in the sights of the states!

 

Long live the Revolution!

 

See you soon in the fights.

 

Le S

 

 

Sainte-Soline on March 25, 2023.

 

 

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