prima klima - Fallstricke des gewaltfreien Reformismus
Wir haben einen Beitrag aus der Graswurzelrevolution gemopst. Hier wird aus einem revolutionären Verständnis gewaltfreier Aktion der Reformismus der "Letzen Generation" kritisiert. Wir sind vorsichtig die "Letzte Generation" zu stark zu verurteilen, aber finden es richtig sich mit den politischen Defiziten dieser Strömung zu beschäftigen. Im Moment besteht die Stärke der Klimagerechtigkeitsbewegung aus ihrer Unterschiedlichkeit und Unberechenbarkeit und dem Zusammenspiel gewaltfreier und militanter Aktionsformen. Militanz ist kein Ausdruck von Verzweiflung, wie dies einige Sprecher gegenüber der Presse behaupteten. Militanz bettet sich ein in die Bewegung, ist organsiert und spontan, konzeptionell, strategiesch und Ausdruck politischer Überlegungen.Dies nur am Rande..
Die "Letzte Generation" gehört trotz Widersprüche zu dieser Bewegung dazu. Ihre Kriminalisierung ist abzulehnen. Freiheit auch für alle Militanten aus der Bewegung. Lützi ist überall.
„Letzte Generation“ mit Illusionen über Rechtsstaat und Demokratie
von Lou Marin
Mit aufsehenerregenden gewaltfreien Aktionen setzt die „Letzte Generation“ klare Zeichen gegen den drohenden Klimakollaps. An vielen Punkten zeigen sich allerdings eine erschreckende Naivität und Staatsgläubigkeit der Organisation, die Lou Marin in seinem Kommentar ebenso kritisiert wie die banalen Minimalforderungen und fragwürdige interne Strukturen. (GWR-Red.)
Seit Ende 2021, im Grunde seit dem Wahlsieg der Ampel, macht eine Gruppierung aus der Klimagerechtigkeitsbewegung von sich reden: Die „Letzte Generation“, die mit Sekundenkleber vielbefahrene Straßen blockiert (A 100 in Berlin, Stachus in München) oder in Museen mit Kartoffelbrei und Tomatensuppe auf mit Glas gesicherte Gemälde wirft. (1) Mit solchen provokativen Auftritten haben sie die Palette der gewaltfreien Aktion erweitert. Dafür haben die Aktivist*innen einige Risiken in Kauf genommen, Mut bewiesen und jüngst Repressionen und eine mediale Diffamierungskampagne einstecken müssen.
Ende Oktober 2022 kam es in Berlin zeitgleich zu einer Sekundenkleber-Verkehrsblockade auf der A 100 zu einem tödlichen Unfall einer Radfahrerin, der der „Letzten Generation“ angelastet wurde. Doch schon zwei Tage später war klar, dass erstens die Rettungswege nicht etwa durch die Blockierer*innen versperrt worden waren, sondern – wie bei Staus üblich – durch die Autofahrer*innen selber, die keine Rettungsgasse gebildet hatten. Zweitens hatte sich die Notärztin sowieso für eine andere Rettungsmethode entschieden („Fahrzeug fuhr von der Person herunter“); somit wäre die Radfahrerin auch durch ein Rettungsfahrzeug nicht zu retten gewesen. (2)
Trotzdem polemisierten reaktionäre Politiker-*innen wie CSU-Chef Markus Söder, sein Innenminister Joachim Herrmann und die erwiesen unfähigen CSU-Politiker Alexander Dobrindt und Andreas Scheuer gegen die Gruppierung, diffamierten sie gar als „neue Klima-RAF“. In Berlin, Flensburg, vor allem aber Bayern hagelte es Anklagen und Strafbefehle wegen Hausfriedensbruch und Nötigung. Allein in München saßen Anfang November 17 Aktivist*innen im Gefängnis und mussten dort auf Anordnung des Amtsgerichts München 30 Tage in Präventivhaft („präventive Sicherheitsverwahrung“) verbringen. Der Gipfel waren Hausdurchsuchungen gegen 11 Mitglieder Mitte Dezember in mehreren Bundesländern, gefolgt von Ermittlungen wegen angeblicher „Bildung einer kriminellen Vereinigung”, womit die Gruppierung quasi in der Dimension mit den „Reichsbürgern” auf eine Stufe gestellt wurde (3) – ein Skandal, der die repressive Seite des demokratischen Rechtsstaates offenlegt.
Jede solche Diffamierung, explizit gewaltfreie Aktionen auch nur in die Nähe des Terrorismus zu rücken, weisen auch wir gewaltfreien Anarchist*innen entschieden zurück und setzen uns gegen die Justizwillkür einer Präventivhaft ein.
Fast unter ging die Tatsache, dass immerhin einige Gerichte – etwa Amtsgerichte in Berlin, Flensburg und Freiburg – angeklagte Aktivist*innen freisprachen und ihre Aktionen als „nicht verwerflich“ bezeichneten. Unter gingen auch sympathisierende Stellungnahmen, etwa von Ex-Innenminister Gerhart Baum (FDP). LINKE-Politiker Gregor Gysi hat sogar einen Aktivisten vor Gericht verteidigt. (4)
Grundregel der gewaltfreien Aktion: Mit staatlicher Repression muss gerechnet werden
Trotz dieser expliziten Solidarisierung will ich auf meines Erachtens bedenkliche Illusionen der „Letzten Generation“ zu Rechtsstaat und Demokratie hinweisen, die in ihren Presseerklärungen zu dieser Hetze zum Ausdruck kommen. Denn sie sagen dazu: „Das können wir nicht fassen.“ Und „dass wir uns nicht einmal auf die einfachsten Prinzipien in einer Demokratie – wie neutrale, faktenbasierte Berichterstattung – verlassen können, schockiert uns.“ Und „damit haben wir nicht gerechnet.“ (5) Sie begründen gleichzeitig ihre gewaltfreien Aktionen so, dass die Geschichte gezeigt habe, „dass friedlicher ziviler Widerstand funktioniert.“ (6)
Zu dieser Geschichte gehört jedoch gleichzeitig, dass die explizite Gewaltfreiheit der Aktionen nicht vor brutaler Repression entweder des Staates oder der von der Hetze der bürgerlichen Medien mobilisierten rechten Gewalt geschützt hat: Ken Saro-Wiwa wurde für seinen gewaltfreien Widerstand gegen die Ölförderung vom nigerianischen Staat hingerichtet. Mahmud Taha wurde wegen seines gewaltfreien Protests gegen ein islamistisches Regime von der sudanesischen Justiz hingerichtet. Martin Luther King Jr. wurde, infolge von FBI- und US-Medienhetze, durch einen Rassisten, Mohandas Gandhi durch einen Hindu-Faschisten ermordet. Wer zeigen will, dass gewaltfreie Aktion funktioniert, muss mit Medienhetze und Repression rechnen sowie Gegenstrategien vorbereiten. Das gehört zu den Grundvoraussetzungen gewaltfreier Aktion.
Dass sie sich stattdessen weiter Illusionen in den Staat machte, zeigte die „Letzte Generation“ durch ein auf die Repression unmittelbar folgendes Einladungsschreiben an die Regierung. Dort lädt sie „die Bundesregierung – Scholz, Lindner, Habeck –
sowie insbesondere Bundesverkehrsminister Volker Wissing zum Gespräch am Donnerstag, 10. November 2022 um 10.00 Uhr in Berlin ein“, die dann allerdings geschlossen nicht kamen. (7)
Illusionen des demokratischen Protests
Was sollte beim Gespräch konkret verhandelt werden? Die Forderungen der aktuellen gewaltfreien Aktionen der „Letzten Generation“ sind „100 km/h auf der Autobahn“ sowie „eine dauerhafte Rückkehr zum 9-Euro-Ticket“. (8)
Obwohl die Regierung nicht das geringste Interesse an Klimaschutz zeigt (z. B. Katar-Gasdeal 2026–2041) – und zwar systematisch, weil sie eine liberalkapitalistische, dem ewigen Wachstum verpflichtete Regierung ist –, benutzen die Autor*innen von „Letzte Generation“ die Anrede „Liebe Bundesregierung“ auf Seite 2 ihres Offenen Briefes vom 10. November. Der Kampf ums Klima, so schreiben sie weiter, sei eine Konfrontation: „Eine Konfrontation, die wir beenden müssen, die aber nur Sie beenden können.“ (9) Es wird dem Widerstand dadurch die Perspektive abgesprochen, dass die Konfrontation durch eine Durchsetzung des Bewegungswillens gegen die Regierung beendet werden kann, was den Erfolg der Anti-Atom-Bewegung gekennzeichnet hat. Die Regierung wurde damals durch jahrelangen Massenwiderstand zum Atom-Ausstieg gezwungen, nachdem sie sich lange als verhandlungsunwillig und -unfähig erwiesen hatte. Solch eine Massenbewegung ist die „Letzte Generation“ aber noch nicht, wenn sie auch am 10. November weiter Illusionen nährt, die Machtfrage stellen zu können: Sie seien „jeden Tag mit Politiker*innen und Vertreter*innen Ihrer Ministerien in Kontakt. Jetzt fehlt nur noch, dass Sie – Herr Scholz, Herr Lindner, Herr Habeck und Herr Wissing – sich bei uns melden.“ (10)
/Minimalforderungen angesichts der großen Katastrophe: Christina Puciata, 53, Nachrichtensprecherin, und Jens Vierbuchen vom Aufstand der Letzten Generation blockieren am Schönhauser Tor eine Straße. Berlin, 28.10.22 – Foto: Stefan Müller, CC-BY-4/
Man sieht sich somit als „demokratische(n) Protest“, bezieht sich auf „die einfachsten Prinzipien in einer Demokratie“. Die Regierung wird aufgefordert, „ihrer verfassungsmäßigen Pflicht nachzukommen“. Denn es gehe darum, „Demokratie, Rechtsstaat und unsere freiheitliche Grundordnung (…) zu erhalten“ (11) – und nicht etwa anzugreifen, zu transformieren oder sie gar durch eine libertär-sozialistische, wirklich gewaltfreie Gesellschaft oder eine rätedemokratische Ordnung zu ersetzen! Doch die Ziel-Mittel-Relation der gewaltfreien Aktion impliziert nicht nur das Mittel der Gewaltfreiheit, sondern auch das gesellschaftliche Ziel muss gewaltfrei sein – und das ist die Staatsgewalt, die hier erhalten werden soll, eindeutig nicht.
In der Geschichte des zivilen Ungehorsams hat es immer einen Gegensatz zwischen einem reformistischen und einem revolutionären Verständnis des zivilen Ungehorsams gegeben. In der Friedensbewegung der 1980er-Jahre gab es ein sozialdemokratisches Verständnis des „Zivilen Ungehorsams als aktivem Verfassungsschutz“ (Rechtswissenschaftler E. Küchenhoff), oder man erklärte den zivilen Ungehorsam gleich als „soziale Erfindung der Demokratie“ (12) und versuchte dadurch, die illegalen, revolutionären und systemkritischen Ursprünge der gewaltfreien Aktion und des zivilen Ungehorsams (Henry David Thoreau, Salzmarsch Gandhis) beiseitezuwischen. Im Anschluss an Thoreau schrieb jedoch Gandhi nach dem Salzmarsch 1931 vom gesellschaftlichen Ziel einer „aufgeklärten Anarchie (…). Im idealen Zustand gibt es deshalb keine politische Macht, weil es keinen Staat gibt. Aber das Ideal wird im Leben nie vollständig verwirklicht. Daher die klassische Aussage von Thoreau, dass diejenige Regierung am besten ist, die am wenigsten regiert.“ (13) Gandhi entwickelte darauf basierend sein Gesellschaftsideal einer Republik von Dorfräten. Diese Perspektive über den Glauben an den bürgerlichen Rechtsstaat hinaus vermisse ich bei den Aktionsbegründungen der „Letzten Generation“.
Beim Verständnis des zivilen Ungehorsams als „aktivem Verfassungsschutz“ wird dem Staat dagegen unterstellt, er wolle die Verfassung der Demokratie nicht garantieren, doch in Wirklichkeit garantiert er sie gerade durch seine Repression. Die Klimakata-strophe wird ganz legal und verfassungsgemäß durchgezogen. Gewaltfreier Widerstand, der Gewaltfreiheit so reformistisch und verfassungstreu versteht wie die „Letzte Generation“, bleibt der Staatsgewalt somit verhaftet, und ihre Aktionen wirken letztlich rein symbolisch, so „provokativ“ sie auch gemeint sein mögen.
Das Problem der Dramatisierung
Gerade die Klimabewegung hätte genügend Ansatzpunkte zu materiell wirksamen Aktionen: die Baggerbesetzungen in den Kohleabbaugebieten, die Blockaden der Kohlezüge – reale Eingriffe in die Infrastruktur der Kohleextraktion, wie sie von der Bewegung „Ende Gelände“ ja auch effizient durchgeführt werden. Daran will sich die „Letzte Generation“ nicht beteiligen. Stattdessen will sie durch symbolische Dramatisierung die Regierung zum Handeln bewegen, anstatt deren strukturell klimafeindliche Politik materiell zu verunmöglichen. Die Politik verbleibt so im Appellativen.
mehr:
https://www.graswurzel.net/gwr/2022/12/fallstricke-des-gewaltfreien-reformismus/
Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Ausgabe der Graswurzelrevolution. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier:
https://www.graswurzel.net/gwr/2020/08/2020/08/service/schnupperabo/