Balkanroute rückwärts - Flucht, Staatlichkeit und Repression (Teil II)

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Die menschenverachtenden Zustände an den europäischen Grenzen sind kein politisches Missgeschick, sondern elementarer Bestandteil der Herrschaftssicherung nach außen und innen. Felix Broz über die Situation von Flüchtenden in Serbien, die nur mit Not und durch die Solidarität Weniger überleben.

An einem kalten Abend im Oktober überqueren wir die EU-Außengrenze von Kroatien nach Serbien. Unser Weg führt in die Kleinstadt Šid. In der gesamten serbischen Region Vojvodina sitzen hunderte Menschen auf der Flucht fest, nachdem die EU-Außengrenzen für sie geschlossen wurden. Ihre Versorgung ist mangelhaft und die Lage menschenunwürdig. Auf Feldern, Industriebrachen oder in Wäldern übernachten Menschen unter freiem Himmel oder in Zelten. Schon jetzt, im Oktober, ist es in der Nacht unangenehm kalt. Im Winter sinken die Temperaturen auf ein lebensbedrohliches Niveau.

In einem Wohngebiet in der Innenstadt treffen wir auf eine Vertreterin von Rigardu. Der Göttinger Verein betreut an der Grenze zu Kroatien ehrenamtlich Menschen auf der Flucht. Das kleine Team versucht momentan, rund 100 bis 150 Menschen wenigstens mit dem Nötigsten zu unterstützen. Sie stellen unter anderem mobile Duschen, Trinkwasser und Lebensmittel zur Verfügung. Im sogenannten „warehouse“ sind in den nur spärlich beleuchteten Räumen auf großen Regalen (Winter-)Kleidung, Schlafsäcke, Zelte und vieles mehr gelagert. Ebenso wichtig sind die mobilen Ladestationen für Telefone. Sie sorgen dafür, dass die Kommunikation nicht ganz abreißt und die weiteren Wege geplant werden können. Der serbische Staat ist aufgrund der schwierigen ökonomischen Situation mit der Versorgung der Flüchtenden überfordert. Menschenrechtsorganisationen und Ehrenamtliche, zumeist aus Belgrad oder aus anderen EU-Staaten, übernehmen somit die notwendigsten staatlichen Aufgaben. Obwohl die serbische Polizei aufgrund des Engagements teilweise zurückhaltend agiert, simuliert sie an anderer Stellen mit restriktiven Maßnahmen Handlungsfähigkeit. Während draußen tagtäglich die Gefahr wächst, zu erfrieren oder zu verhungern, durchsuchte die lokale Polizei bereits einige Male das Haus des Vereins. Der Vorwurf lautete "illegale Beherbergung" von Flüchtenden.

Schläge, Tritte und Hundebisse...

Nach einem kurzen Gespräch fahren wir wenige Kilometer hinaus an die Stadtgrenze. Direkt an der Landstraße steht eine alte Industriebrache. Sie erinnert an die relative ökonomische Prosperität Jugoslawiens unter Josip Broz Tito. Ihr heutiger Zustand steht jedoch sinnbildlich für den wirtschaftlichen Niedergang der Region nach dem Zerfall Jugoslawiens. Dennoch bieten die heruntergekommenen Bauten zumindest etwas Schutz für Flüchtende, die sich hier unter prekärsten Bedingungen aufhalten. Durch ein altes Tor betreten wir das Gelände, dessen Gebäude sich schemenhaft in der Dämmerung abzeichnen. Am dunklen Weg stehen vereinzelte Gruppen von zumeist jungen Männern. Sie kommen aus Algerien, Afghanistan, Pakistan oder Syrien. Nach dem schmutzigen EU-Türkei-Deal und der de facto-Schließung der europäischen Außengrenzen sind sie hier im Nichts "stecken geblieben". Die Hoffnungen auf ein besseres Leben in Europa erscheinen im serbischen Niemandsland unerfüllbar. Gleichzeitig verschlechtert sich die Situation vor Ort zusehends. Vor einiger Zeit erfolgte die Schließung des staatlichen Camps an der Grenze. Die Bewohner*innen wurden in den Süden des Landes deportiert. Insgesamt gab es im Oktober 2017 noch 18 Camps in ganz Serbien. Die meisten sind privatisiert. Die neoliberalisierte Verwaltung von Menschen, von Betroffenen als „Lager-Industrie“ bezeichnet, setzt sich auch hier durch. In den „Lagern“ der privaten Träger herrschen größtenteils katastrophale Bedingungen, wie die Aktivistin von Rigardu berichtet. Statt einer Unterbringung erwarten die Betroffenen knastähnliche Zustände. Die Essensversorgung ist mangelhaft und die Veruntreuung von Spenden an der Tagesordnung. Wer kann, verschwindet aus den Lagern, denn selbst die Übernachtung unter freiem Himmel bietet eine bessere Perspektive.

...in der europäischen Peripherie

 Die erhofften Gelegenheiten zur Überquerung der Grenze nach Kroatien sind jedoch rar. Viele der unfreiwillig Wartenden bezeichnen diese Grenzpolitik als menschenverachtendes „Spiel“ („Game“). An der Grenze wird derweil massiv aufgerüstet, es wird mit Militär, Nachtsichtgeräten, Fahrzeugpatrouillen und kilometerlangem Stacheldraht gegen die Menschen vorgegangen. Doch selbst wer die Grenze überwinden kann, hat einen gefährlichen Weg vor sich. Sämtliche Asylrechte sind in der EU-Peripherie quasi ausgesetzt. Asylanträge werden an der Grenze nicht bearbeitet und das nächste Büro des Flüchtlingswerkes der UN (UNHCR) befindet sich hunderte Kilometer entfernt in der Hauptstadt Zagreb. Wer es bis dahin schafft, ohne von der Polizei aufgegriffen oder von rechten Denunzianten verraten zu werden, hat in der Stadt allerdings kaum bessere Perspektiven. Effektiv gibt es also kaum Möglichkeiten, bei den staatlichen Behörden einen Asylantrag zu stellen. Vor dem UNHCR-Büro steht die Militärpolizei und versucht mittels racial profiling vorab alle abzufangen, die sie für „illegale Flüchtlinge“ hält. Wer auf diese Weise festgenommen wird, ist auf dem Abschiebeweg der rassistischen und willkürlichen Polizeigewalt ausgeliefert. Schläge, Tritte und Hundebisse sind nur einige der schweren Übergriffe, die regelmäßig von der kroatischen Polizei verübt werden. Nach der Fahrt an die Grenze werden die Festgenommenen als entrechtete Individuen dem serbischen Repressionsapparat übergeben. Abschiebungen aus Serbien gibt es nicht, da keine Abschiebeabkommen existieren. Wer sich nicht in das unwürdige Lagersystem begeben möchte, versucht so schnell wie möglich, die Grenze erneut zu überwinden.

Mit dem Taxi Richtung Perspektive

Während wir auf dem Industriegelände in erste Gespräche mit Leuten kommen, kocht die No Name Kitchen aus Spanien Essen. Ein Generator sorgt für Strom, um einen Flur ansatzweise zu beleuchten und die Handy-Akkus aufzuladen. Die Wände um uns herum sind mit arabischen und englischen Slogans beschrieben. Sie portraitieren die widerliche Situation. Aussagen wie "I am a refugee. Peoples not terrorists" ("Ich bin ein Refugee. Wir sind Menschen, keine Terroristen“) oder "Fuck the Europe Police and governments" zeigen die praktische Kehrseite vom politischen Gehabe der europäischen Menschenrechtsversprechungen. Die menschenverachtenden Zustände an den europäischen Grenzen sind kein politisches Missgeschick. Sie sind elementarer Bestandteil der Herrschaftssicherung nach außen und innen. Menschen, die direkt oder indirekt durch die europäische Politik zur Flucht vor Krieg und Perspektivlosigkeit gezwungen worden sind, sollen umfassend kontrolliert und in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt werden.

Der Balkan ist dabei von einer besonderen ökonomischen und geostrategischen Bedeutung. Die Schließung der letzten verbliebenen Fluchtrouten dient nicht zuletzt der Zugangsregulierung zum europäischen Arbeitsmarkt. Gerade aus den südosteuropäischen Beitrittskandidaten wandern schon jetzt massenhaft Menschen als günstige Arbeitskräfte in die Kern-EU ab. Dort wird ihr Zuzug rassistisch und sozialchauvinistisch skandalisiert. Der zukünftige Umgang mit dieser zweifachen Migration, von „innen“ und „außen“, innerhalb der EU ist vorerst ungewiss. Wie sich die herrschenden Parteien und die parlamentarische Rechte auf die vermeintliche „doppelte Herausforderung“ des eigenen Lebensstandards bei zeitgleichen Interessen des Kapitals nach Abbau von Arbeiter*innenrechten und der Zuführung billiger Arbeitskräfte verhalten, wird für die kommende Zeit sehr bedeutend werden.

Während wir über die aktuelle EU-Außenpolitik diskutieren, grüßt uns ein junger Mann im Vorbeigehen. An der Landstraße steigt er in ein wartendes Taxi und fährt Richtung Grenze. Viele lokale Taxifahrer*innen transportieren flüchtende Menschen zu überhöhten Preisen in Grenznähe. Unsere Blicke wandern dem fahrenden Wagen nach. Wir hoffen, es wird ihm gut ergehen.

Im nächsten Teil widmet sich Felix Broz der Situation in Belgrad und Mazedonien. Vor dem Hintergrund anhaltender Armut, Korruption, sowie reaktionärer gesellschaftlicher Stimmungen arbeiten anarchistische Genoss*innen und weitere politische Aktivist*innen dort mit Menschen auf der Flucht und engagieren sich gegen mafiöse Staatsstrukturen.

Teil der Reihe "Balkanroute rückwärts - Flucht, Staatlichkeit und Repression"
„Balkanroute rückwärts - Flucht, Staatlichkeit und Repression“

Im Oktober 2017 nahm re:volt - Autor Felix Broz an einer Bildungsreise des Vereins „Helle Panke e.V. - Rosa-Luxemburg-Stiftung, Berlin“ durch Südosteuropa teil. Im Vordergrund stand die aktuelle Situation auf der sogenannten „Balkanroute“. Nachdem Ende 2015 ein Großteil der regionalen Staatsgrenzen weitestgehend geschlossen wurden, stecken tausende Menschen auf der Flucht in verschiedenen Staaten Ex-Jugoslawiens sprichwörtlich fest. Das repressive europäische Grenzregime mit seiner umfassenden Sicherheitsarchitektur unterbricht ihre Flucht an den unmittelbaren EU-Außengrenzen sowie den nationalen Grenzen möglicher Beitrittskandidaten (Serbien, Mazedonien). Was sie dann erleben müssen, ist Stigmatisierung, Illegalisierung und eine umfassende gesellschaftliche Ausgrenzung. In der dreiteiligen Artikelserie für das re:volt magazine zeichnet Felix Broz die aktuelle Situation um Flucht, Staatlichkeit und Repression auf der Route Österreich / Slowenien, Kroatien / Serbien und Mazedonien nach.

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