[Meşale Tolu] Unnachgiebig widerständig
Seit dem 30. April 2017 befindet sich die sozialistische Journalistin Meşale Tolu im türkischen Knast. Heute ist ihr erster Prozesstag. Die Geschichte eines unnachgiebigen Widerstandes und einer erstaunlichen Solidarität. Eine Reportage.
Am 30. April 2017 nachts gegen 4:30 Uhr stürmen Polizeisondereinsatzkräfte die Wohnung der deutschtürkischen Journalistin Meşale Tolu in Kartal, einem Viertel von Istanbul. Tolu wird auf den Boden geworfen, ihr werden Fesseln angelegt. Den zweijährigen Sohn brüllen sie an: „Entweder du hörst auf zu heulen oder wir nehmen dich auch mit!“ Stundenlang verwüsten sie die Wohnung auf der Suche nach Beweisen für Straftaten. Sie finden nichts. Währenddessen darf Meşale weder Anwält_innen noch Familienmitglieder anrufen. Als man sie aufs Revier schleppt, wird ihr Kind Serkan unbekannten Nachbarn in die Hand gedrückt. Erst morgens gegen 8:00 Uhr wird Ali Rıza Tolu telefonisch von der Polizei informiert. Ali Rıza ist der Vater von Meşale und befindet sich zum Zeitpunkt der Verhaftung seiner Tochter im Heimatort der Familie, in der Nähe von Elbistan.
Schon einige Wochen vorher reiste Ali Rıza in die Türkei - vor allem, um seine Tochter zu unterstützen. Der Grund: Meşales Partner und Vater von Serkan ist Anfang April verhaftet worden. Sein Name ist Suat Çorlu. Er ist Mitglied der Ezilenlerin Sosyalist Partisi (ESP, dt.: Sozialistische Partei der Unterdrückten), die wiederum Mitglied der linken, pro-kurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP) ist. Meşales Verhaftung ist eine Botschaft an ihn, meint der Vater. Ein Beamter habe ihm wörtlich am Telefon gesagt: „Es geht nicht um deine Tochter, es geht um ihren Mann.“ Nachdem Ali Rıza von der Verhaftung erfährt, reist er sofort wieder zurück nach Istanbul, um sich um den Sohn zu kümmern. Serkan wird später nach gemeinsamer Entscheidung der Familie zu Meşale in das Frauengefängnis im Istanbuler Stadtteil Bakırköy gebracht. Seitdem bestimmen die wöchentlichen Besuche bei Meşale und seinem Enkel sowie Suat, der in Silivri einsitzt, und zahlreiche Termine mit unterschiedlichen Medien seinen Alltag.
Eine erstaunliche Geschichte der Solidarität
Meşale wird 1984 in Ulm geboren. Sie ist deutsche Staatsbürgerin und wächst in dem schwäbischen Städtchen auf. Nachdem sie ihr Studium (Lehramt Ethik und Spanisch) in Frankfurt am Main abschließt, geht sie in die Türkei, um bei Özgür Radyo zu arbeiten. Der Radiosender wird nach dem Militärputsch vom 16. Juli 2016 geschlossen; Meşale setzt ihre Arbeit bei der sozialistischen Nachrichtenagentur ETHA fort, die bislang noch von einem Komplettverbot aufgrund des Ausnahmezustands verschont wurde. Bis zur Nacht ihrer Verhaftung schreibt sie unermüdlich gegen die Repression des türkischen Staates an.
Wir treffen Ali Rıza Tolu am 7. Oktober in Ulm zu einer Soli-Abendveranstaltung im Kornhaus, dem Saalbau in der Altstadt. Er ist nur kurz für diesen Abend in die Stadt gekommen, in der er seit über 30 Jahren lebt. Am nächsten Tage wird er wieder in die Türkei reisen., gemeinsam mit einer Delegation an Journalist*innen und Bundestagsabgeordneten. Denn am 11. und 12. Oktober ist der erste Gerichtstermin von Meşale angesetzt.
Die übervolle Abendveranstaltung im Kornhaus ist nur der Gipfelpunkt einer äußerst überraschenden Geschichte der Solidarität. Als Meşale inhaftiert wird, reagieren nicht nur Freund*innen und Verwandte empört – auch alte Lehrer_innen von Meşale können es kaum fassen. Es bildet sich ein Solidaritätskomitee mit Meşale Tolu in Ulm, das sich auf viele Städte ausweitet. Wöchentlich werden Solidaritätsdemonstrationen abgehalten und die Freilassung der Journalistin gefordert. Letztlich berichten alle großen deutschen Medien über den Fall. Ungewöhnlich, meint man, handelt es sich doch um eine dezidiert sozialistische Journalistin.
Und so kommen dann am Abend des 7. Oktobers Menschen zusammen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Während Gunter Czisch, der Ulmer Oberbürgermeister, Schirmherr der Veranstaltung und standfester konservativer Christdemokrat, den Abend mit einer Rede über die freiheitlich-demokratischen Grundwerte unter einem Banner mit der Forderung nach Freiheit für alle politischen Gefangenen einleitet, erwarten den SWR-Moderator Frank Wiesner gleich mehrere Überraschungen. Als während seinem Gespräch mit Ali Rıza Tolu eine Spendenbox durch die Reihen geht, möchte er von diesem etwa wissen, warum die Solidaritätskampagne das Geld benötigt: „Jeder braucht Geld!“ antwortet Ali Rıza kurz und knackig, um danach auszuführen, dass damit neben allen sonstigen Kosten auch Hygieneartikel für den Enkel und Kleidung für Meşales Gerichtstermin erstanden werden können. Diese Dinge müssen nämlich auch Gefangene selbst kaufen, und das kann teuer werden. Herrn Wiesner ist verwundert: „Wie? Aber die Gefangenen können doch nicht nackt vor Gericht gestellt werden!“ – „Na, warum nicht. Wir haben das in den 80er Jahren so gemacht“, erwidert sein Gegenüber nur kryptisch und lächelt.
Einige zähe Veranstaltungsminuten später steht Semiha Şahin auf der Bühne. Die ETHA-Kollegin von Meşale ist extra für die Abendveranstaltung nach Deutschland eingereist. Sie berichtet, unter welchen Bedingungen sie und andere Journalist_innen in arbeiten und wie viele ihrer Kolleg_innen schon inhaftiert wurden oder Repression erfahren. Der Moderator nickt, kuckt irritiert in seine Karten und fragt Semiha dann, warum sich ETHA als eine sozialistische Nachrichtenagentur verstehe: „Wir glauben nicht an die Neutralität von Bildern und Nachrichten; jedes Bild und jede Nachricht bezieht Position“, antwortet sie, während der Öffentlich-Rechtliche die Augenbrauen hochzieht. „Wir beziehen eine sozialistische Position. In der Türkei werden Arbeiter_innen, die für ihre Rechte auf die Straße gehen, Alevit_innen, Frauen und Kurd_innen als Terrorist_innen bezeichnet – wir hingegen berichten darüber, dass ihre Anliegen legitim sind. Unsere Nachrichten sind die der Unterdrückten. Wir möchten ihnen nicht nur der Türkei eine Stimme geben.“ Woher sie sich denn finanzieren würden, hakt Wiesner nach. „Na über eine kleine Zahl an Abonnent_innen“, antwortet Şahin etwas verdutzt. Für sie ist es nicht verständlich, warum die Finanzfrage so wichtig ist; für Wiesner hingegen wohl unverständlich, dass Journalismus in erster Linie aus Überzeugung und in zweiter Linie erst aus finanziellem oder sonstigem Interesse gemacht wird. Warum sie denn noch nicht im Knast sei wie ihre Kollegin Meşale? „Şans!“, also Zufall, antwortet sie heiter lachend. „Es ist wirklich reiner Zufall. Es gibt für niemanden in der Türkei, der oder die demokratisch und oppositionell ist, eine Garantie. Ich könnte morgen im Gefängnis landen.“
Die unendliche Beweisaufnahme
Auch Kader Tonç, die 26-jährige Anwältin von Meşale, ist extra für die Abendveranstaltung nach Ulm gereist. Wir fragen sie nach dem Stand des Verfahrens. „Derzeit ist es in der Türkei so, dass zuerst die Personen, die man inhaftieren möchte, ausgewählt und eingesperrt werden und sich die Justiz dann daran macht, irgendwelche angeblichen Beweise nachzuliefern. Die direkte Umkehrung also eines normalen rechtsstaatlichen Verfahrens.“ So sieht es auch bei Meşale aus. Ihr wird im Polizeibericht, der zu ihrer Verhaftung führte, vorgeworfen, an mehreren Begräbnissen von Militanten illegaler „Terrororganisationen“ teilgenommen zu haben. Das wird ihr als „Propaganda für eine terroristische Organisation“ sowie natürlich als „Mitgliedschaft bei einer terroristischen Organisation“ ausgelegt. Der Tagesspiegel kommentiert das wie folgt: „Übertragen auf Deutschland, würde das die Verhaftung auch von ,Tagesspiegel’-Kollegen bedeuten, wenn sie im Januar über die Demonstrationen der Linken und versprengten Alt-DDRler zu Ehren von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg berichten.“ Drei Monate nach ihrer Inhaftierung, als die Staatsanwaltschaft die offizielle Anklageschrift vorlegt, wird einfach der Polizeibericht kopiert. In der Zwischenzeit hat die Staatsanwaltschaft also genau eines getan, nämlich nichts. Auf groteske Art und Weise haben also all die Bereitschaftsgerichte, die bisher die Anträge auf Haftentlassung Meşales abgelehnt haben, mit ihrer Begründung der fortführenden Beweisaufnahme, die sonst gefährdet werden könnte, recht: Es findet nämlich gar keine Beweisaufnahme statt, da es gar keine Beweise gibt. Also kann auch die Beweisaufnahme unendlich lange fortgesetzt werden. Ein Theater.
„Wir wissen alle, dass dies ein politischer Prozess ist“, antwortet Tonç vom Podium aus auf Nachfrage nach möglichen Szenarien am ersten Prozesstag. „Ich würde gerne rein juristisch ein wahrscheinliches Szenario skizzieren wollen. Aber in der Türkei gibt es keine rechtsstaatlich funktionierende Justiz, alles ist politisiert und willkürlich. Deshalb kann ich auch schlicht nichts voraussagen.“
„Nein, ich habe keine Angst“
Wiesner hakt auch bei Tonç nach: „Eine so junge Frau wie sie, sie könnten doch auch was anderes arbeiten. Warum arbeiten sie weiter als Anwältin unter solchen Umständen?“ Gekonnt ignoriert Tonç die sexistische Schlagseite der Frage und antwortet nüchtern und bestimmt: „Weil meine Mandant_innen recht haben und ich mich geehrt fühle, sie vertreten zu dürfen.“ Kader Tonç und Semiha Şahin zeigen sich sichtlich genervt im persönlichen Gespräch: „Warum fragen eigentlich alle immer, ob wir Angst haben?“ Vater Ali Rıza ist geduldig und unnachgiebig zugleich: „Ich werde immer gefragt, ob ich denn nicht Angst habe. Nein, ich habe keine Angst. Ob ich denn nicht Angst habe, im Gefängnis zu landen. Nein, ich habe keine Angst davor, im Gefängnis zu landen.“ Ali Rızas Augen blitzen, er trägt eine blaue Kappe, die er immer wieder zurechtrückt. „Keine Macht kann mir Angst einflößen. Ich habe mir sogar extra noch diesen Bart wachsen lassen“, fügt er hinzu und zeigt grinsend auf seinen eigentlich recht gut gepflegten Bart. „Alle glauben immer Kommunisten haben Bärte und sehen etwas verloddert aus. Bitteschön, dachte ich mir, das gebe ich euch gerne.“
Wie der türkische Staat mit ihm umgehe, fragen wir Ali Rıza. „Ich leg mich die ganze Zeit mit ihnen an“, antwortet er. „Ich halte ihnen die ganze Zeit vor, dass sie meine Tocher als Geisel benutzen wegen den Spannungen zwischen der Türkei und Deutschland. Die Türkei will 70 angebliche Gülenisten und 4.500 angebliche PKK’ler von Deutschland ausgeliefert haben und hält dafür zehn bis zwölf deutsche Staatsbürger_innen fest. Wir lehnen jeden solchen Tausch ab.“
Er schaut uns an und fügt hinzu: „Ich bin nicht nur der Vater von Meşale, sondern ebenfalls ihr Genosse. Meine Mutter war Revolutionärin, ich bin ein Revolutionär, meine Tochter und mein Sohn sind Revolutionäre. Meşale bereut nichts. Wenn sie frei gelassen wird, wird sie dasselbe weiter fortführen, was sie zuvor getan hat. Ich stehe hinter ihr.“
Es ist ein militanter, unnachgiebiger Widerstand, der sich hierin ausdrückt. Niemand anderer als Pınar Aydınlar bringt dies so eindeutig auf den Punkt. Als die Sängerin den Saal betritt, ändert sich die gesamte Atmosphäre. Sie hätte eigentlich eine Haftstrafe in der Türkei – natürlich wegen „Terrorpropaganda“ – antreten müssen, ist stattdessen aber einfach ausgereist, um an der Abendveranstaltung teilnehmen zu können. Majestätisch stolziert sie, die linke Faust gereckt, auf der Bühne und webt in ihren Gesang die Geschichten von Spartakus, der Oktoberrevolution, vom Widerstand in Dersim, von der Guerrilla, die mit der Waffe in der Hand gegen den Faschismus kämpft, mit ein. „Vielleicht ist dies heute meine letzte Veranstaltung“, sagt sie zum Ende ihres Auftritts. „Aber der Kampf gegen den Faschismus geht weiter!“ Tosender Beifall.
Bild: Johanna Bröse