Italien: Revolten in Zeiten von Corona
Seit einige Politiker_innen die Möglichkeit eines zweiten Lockdowns in Italien erwogen haben, füllen sich die Straßen mit Demonstrierenden. Dies sind nicht die Corona Leugner-Demos sondern vielmehr Revolten gegen eine sozio ökonomische Ungleichheit, die sich seit der Corona Krise schlichtweg verschärft.
Auf den Straßen von Italiens Städten revoltieren tausende gegen die hegemoniale Anrufung: «Im Virus stehen wir vereint zusammen». Aber der Beifall blieb aus. Hat die Idee eines Wir letztlich doch gezogen? Sind die Angst vor Repression oder die vor dem Virus größer als das Bedürfnis, auf die Straße zu gehen und in solidarischer Bezugnahme selbst zu revoltieren? Wurden die Proteste nicht als soziale Revolten wahrgenommen? Gut möglich, dass die Medien ihre Rolle dabei gespielt haben, indem sie sofort berichteten, dass es sich bei den Revoltierenden lediglich um Faschos oder Hools handle. Wie die Genoss_innen voninfoautin ihrem Editorial schreiben: «Ein Großteil der intelektuellen Linken in diesem Landes folgt dieser bequemen rassistischen und kolonialen Erzählung.» (https://www.infoaut.org/editoriale/napoli-una-rivolta-per-non-morire)
Dieser Text will dem Mut der Revoltierenden Solidarität entgegenbringen. Auch weil letztlich die Abwesenheit von Solidarität bedeutet, diejenigen allein zu lassen, die in die Knäste gesperrt wurden.
Am Ende dieses Textes verlinken wir weitere Artikeln zu dem Thema – leider kaum in deutscher Sprache. Diese spiegeln die Hitze der Aufstände wider, geben jedoch kaum Infos zu den Repressionen. Trotz der wenigen Infos die, wir dazu haben, wollen wir einige Worte zur Repression verlieren.
Kurze Darstellung der Ereignisse
Am 23. Oktober 2020 deutet der Regionalpräsident von Campania auf Facebook die Möglichkeit eines neuen Lockdowns an. Den Genoss_innen aus Napoli zufolge verbreitet sich in den sozialen Netzwerken in Windeseile die Idee, sich am Abend auf den Plätzen zu versammeln. Tausende Menschen gehen am selben Abend auf die Straßen. Die Interessen der verschiedenen Akteur_innen unterscheiden sich deutlich voneinander. Auf der einen Seite äußern die Geschäftstreibenden und Gastronomiebesitzer_innen, deneneine erneute Schließung bevorstehen mag, ihre Sorge um finanzielle Verluste. Auf der anderen Seite finden sich junge Menschen, die sehr genau wissen, dass ihre Forderungen nicht gehört werden – sie drücken sich in direkten Aktionen aus.
Ob in Forderungen oder über Aktionen vermittelt gibt es eine gemeinsame Wut gegen den italienischen Staat, der weder in das Gesundheitssystem investiert hat, noch in Hilfen für diejenigen, die wörtlich nichts mehr zu beißen haben. Diese unterschiedlichen Akteur_innen finden sich je an unterschiedlichen Orten der Stadt zusammen, die einen mit sichtbaren Plakaten, die Gemüter der anderen erhitzenstundenlang die Straßen. Es brennt und scheppere, Wut ist das Band zwischen den tausenden jungen Menschen. Trotz der abendlichen Ausgangssperre bleiben die Revolten bis zum Morgen aktiv.
In den folgenden Tagen, so beschreiben es Genoss_innen, sind die Revolten DAS Thema überall, auch in anderen Städten: «Man sprach darüber in den Bars, in den überfüllten öffentlichen Verkehrsmitteln, in den Grüppchen der Warteschlangen». In Bologna, Catania, Firenze, Milano, Roma, Torino gehen an den Abenden tausende Menschen auf die Straßen, um es «wie in Napoli zu machen». In Torino, wie zuvor in Napoli, finden zwei Versammlungen statt: die Gewerbetreibenden und die jungen Leute. Am Ende der Nacht sind die Schaufenster von Gucci zerbrochen. In der Analyse von Genoss_innen aus Torino lässt sich lesen, dass diese jungen Menschen, die so lange unsichtbar gewesen sind, nun lautstark schreien: «vogliamo tutto, vogliamo anche Gucci!» (wir wollen alles, wir wollen auch Gucci!). Am Ende des Abends sperren die Cops einige Leute ein. In Firenze entgegen nehmen die Schweine sofort eine Gruppe Leute auf ihrem Weg zur Versammlung fest. In den sozialen Netzwerken war zu einem «friedlichen Protest» aufgerufen worden, dem Begriff wird dabei jedoch keine besondere Beachtung geschenkt. Die Versammlung ist nicht bei den Behörden angemeldet. Es finden sich derart viele Menschen auf dem Platz zusammen, dass der verzweifelte Versuch einzelner, Besonnenheit zu erbitten, in dem lautstarken Schreien vieler erstickt wird. Als jemand ruft, «wir wollen kein Almosen, wir wollen arbeiten» entgegnet ihm jemand «was redest du, wir brauchen die Löhne». Die tausenden jungen Leute haben die Peripherie verlassen und bewegen sich durch das Reichtum symbolisierende Zentrum der Stadt. Die Cops setzen Tränengas ein und werden mit als Antwort beworfen.
Wer war auf den Straßen?
Wie üblich zögerten die offiziellen Medien nicht, die Proteste zu kriminalisieren und zu delegitimieren, das seien lediglich Faschos, Delinquente, von der Camorra organisierte Leute, Corona-Leugner. Die Zeitungen erkennen die sozialen und ökonomischen Brüche, die Italien durchziehen und sich mit den Anti-Covid Politiken verschärft haben, nicht an. Wer sind also diese Revoltierenden? Es ist wichtig zu unterstreichen, dass sowohl in Napoli als auch in Torino und Firenze je zwei Versammlungen stattgefunden haben, es lassen sich also Parallelen ziehen. Auf der einen Seite finden sich die Betreiber_innen kleiner Geschäfte und Gastronomien. Die Kleingewerbetreibenden, in Italien oftmals Familienbetriebe, fürchten, dass ein zweiter Lockdown sie um die einzigen Einkünfte der Familie bringt. Ebenso finden sich dort aber auch die mittelständischen Unternehmen, die sich um einen Einbruch ihrer Umsätze sorgen wie auch darum, von den großen Unternehmen verschluckt zu werden und für die die Online-Riesen das Übel der Welt sind. All diese vereint der Slogan «Tu ci chiudi tu ci paghi» (Du machst uns dicht, du bezahlst uns).
Die interessantere Versammlung ist in unseren Augen jedoch jeweils die andere, auf der sich die Akteur_innen der Konflikte und Konfrontation in den Stunden nach der Zusammenkunft wiederfinden. Schwierig hier organisierte Gruppen auszumachen, wie die man von anderen Demos gewohnt ist. Eine Ausnahme bilden wohl die Ultras. Ansonsten sind es Kids aus den Vororten, die Kinder von Migrant_innen, das Prekariat und Arbeitslose, die in den Zentren der Städte zusammenkommen. Und ja, auch Faschos, aber weder überwiegend noch blieben sie ohne Widerstand. Sie wurden von der Versammlung geworfen (Firenze) oder der von ihnen zunächst besetzte Platz wurde sich später von Genoss_innen angeeignet (Roma).
Diese Mischung an Leuten ist Aufrufen aus den sozialen Netzwerken gefolgt und in Gruppen von Freundeskreisen zu den Kundgeben gegangen, die meisten jung und sehr jung. Die Entscheidung, sich dieser und nicht der anderen Versammlung der Gewerbetreiben anzuschließen wurde nicht zufällig getroffen. Sie wissen, bei dieser wird was passieren, gut möglich, dass es zu Konflikten kommt. Es lassen sich schwer gemeinsame Slogans oder klare Forderungen ausmachen. Klar ist aber, es ist Wut in der Luft.
Es geht nicht darum, der Gesundheitskrise die Relevanz abzusprechen, es ist zu hören «Fanno bene a chiudere» (Es sollte alles geschlossen werden). Die Frage ist vielmehr die nach den ökonomischen Bedingungen und dem Leben in das Menschen mit einem zweiten Lockdown ohne sozialstaatliche Absicherung geworfen werden. Die Revoltierenden haben verstanden, dass es an ihnen selbst ist, sich zu bewegen, denn die Gewerkschaften haben in den letzten Jahren Kämpfe vor allem verhindert.
Legitime Revolte?
Na klar. Schon in Zeiten vor Corona war der italienische Sozialstaat lächerlich im Vergleich zu anderen Ländern wie Frankreich oder Deutschland. Man könnte sagen, deine Familie ist dein Sozialstaat. Das bisschen an Hilfen was es gibt, wie Arbeitslosenhilfe oder Grundsicherung, sind durch Barrieren von sozialen oder administrativen Bedingungen nahezu unerreichbar. Es erfüllen ohnehin nur wenige Menschen die Bedingungen für sozialstaatliche Hilfen und dann haben die Ämter deine Akte am Ende „vergessen". Um überhaupt ein Anrecht auf Arbeitslosenunterstützung zu haben, bedarf es eines Arbeitsvertrages von mehreren Monaten oder überhaupt eines Vertrages – beides ist nicht besonders häufig gegeben.
Diese Hilfen sind mehr politische Propaganda oder Anlass zum Streit in den Zeitungen als dass sie wirkliche Hilfen im Alltag der Menschen wären. Der Arbeitsmarkt zeichnet sich immer mehr durch irreguläre Arbeit, extrem prekäre Verträge, Scheinselbstständigkeit (die eigentlich Angestelltenverhältnisse verdeckt ohne aber die damit einhergehenden Rechte zu gewähren) und Arbeit auf Abruf aus (die Chefs lassen dich arbeiten wann es ihnen passt ohne eine Anzahl an Mindeststunden). Dabei ist noch nicht einbezogen, dass Tourismus als Italiens wichtigster wirtschaftlicher Sektor durch die sanitäre Krise zusammengebrochen ist, dieser betrifft auch die Bars, Gastronomie und Kleingewerbe.
Nach dem Höhepunkt der Corona Krise im Frühjahr hätte Italien ins Gesundheitssystem investieren müssen, das hat aber nicht stattgefunden. Besonders in den Regionen, in denen Krankenhäuser privatisiert wurden, ist bei weitem nicht ausreichend Versorgung vorhanden. Einem Artikel zufolge spricht Italiens Vereinigung der Produzent_innen von einer Million mehr armen Menschen in Italien als vor Corona – besonders der Süden verarmt noch stärker (https://revoltmag.org/articles/napoli-gegen-den-lockdown/).
Vor diesem Hintergrund hat Italiens Regierung den ersten Lockdown ohne einen begleitenden Plan für wirtschaftliche Hilfen beschlossen. Für einen großen Teil der Bevölkerung bedeutet ein Lockdown schlicht, ohne Einkommen zu Hause zu bleiben. Viele hatten schon nach der Krise 2008 Schwierigkeiten, über die Runden zu kommen oder einen Job zu finden. Nach einem über‘s Knie gebrochenen ersten Lockdown hören sie nun die Politiker_innen von einem zweiten Lockdown sprechen und wissen, dass das schlicht unmöglich wird.
Ausblick
Hoffend, dass der sozio-ökonomische Kontext Italiens etwas klarer geworden ist und die Frage nach den Revoltierenden etwas anders beantwortet werden kann als die hegemonialen Medien den Anschein erwecken, wollen wir diesen Text mit der Frage nach einer gemeinsamen Perspektive und so mit der Frage nach Solidarität beenden.
Weder sollten wir der medialen Darstellung folgen, derzufolge die Proteste durch die Beschreibung ihrer Akteur_innen als Faschos oder Corona-Leugner_innen delegitimiert werden, noch sollten wir die Proteste idealisieren ohne auch eigene linksradikale Ideen einzubringen oder aber uns von ihnen als Proteste unpolitischer Macker zu distanzieren.
Die Frage danach, mit wem wir gemeinsam revoltieren wollen ist nicht neu. In wen legen wir Vertrauen, mit wem verbünden wir uns, haben gemeinsame Ziele oder wenigstens eine gemeinsam erlebte Wut?
Nach all dem Leiden und der Wut gegen dieses System, ist es motivierend zu sehen, dass Leute in diesem Moment der sich verschärfenden Krise(n) revoltieren. Wenn wir sicher sein wollen, dass die Revolten nicht von Rechten vereinnahmt werden, ist es auch an uns, dafür zu sorgen. Die Genoss_innen in Firenze haben ein Dutzend Faschos erkannt und ihnen direkt zu Anfang des Abends gezeigt, dass es nicht ihr Platz ist. In Roma haben Faschos einen Platz besetzt, nachdem sie jedoch wegen der Ausgangssperre gehen mussten, haben den Genoss_innen sich den Platz angeeignet. Um herauszufinden, wer Verbündete in den Revolten sein könnten, braucht es regelmäßige Begegnungen.
Daneben gibt es einen weiteren Grund, aus dem sich die Frage nach der Einordnung der Revolten stellt: die Repression. Es gibt Leute, die von den Cops in den Knast gesteckt wurden. Wir sprechen uns hier für eine solidarische Bezugnahme auf die Proteste aus, um diese nicht allein und in der Erfahrung der Ohnmacht gegenüber der Repression zu lassen. Solange prekäre Menschen, von denen wir nicht klar wissen, dass sie Faschos sind, von Repression betroffen sind, ist die Antwort einfach: Solidarität, verdammt nochmal!
Entweder bleiben wir zu Hause oder wir gehen heraus, um zu versuchen, gemeinsame Momente zu erschaffen, in denen die Wut gemeinsam erlebt wird, in denen gemeinsam gerannt wird, in denen Freund_innen im Knast gemeinsam besucht werden. Gemeinsame Kämpfe sind keine statische Sache, sie erzeugen sich im Bewegung!
Links :
Italienisch:
Artikel zu Napoli https://www.infoaut.org/editoriale/napoli-una-rivolta-per-non-morire
Artikel zu Firenze https://www.infoaut.org/precariato-sociale/firenze-un-grido-senza-parole
Artikel zu Torino https://www.infoaut.org/target/torino-la-citta-dei-sommersi-la-pandemia-...
Einordnung der Revolten: https://contropiano.org/interventi/2020/11/04/che-mille-piazze-sboccino-...
Englisch: https://roarmag.org/essays/italy-anti-lockdown-protests/
Deutsch: https://revoltmag.org/articles/napoli-gegen-den-lockdown/