Corona-Lagebericht vom Dannenröder Wald

Karten auf den Tisch: Wie ist die Corona-Situation vor Ort? Auf eine kurze Zusammenfassung der Konzepte innerhalb der Besetzung sowie der Offenlegung zweier Kontaktfälle wird vor allem die Polizei ermutigt, es ebenfalls mal mit der Strategie "maximale Transparenz" zu versuchen. Was soll schon schief gehen?

Dannenrod, 22.10.2020. Seit kurzer Zeit hat die lange vorhergesagte und absolut den auf den aktuellsten wissenschaftlichen und sozialen Entwicklungen basierenden Erwartungen entsprechende zweite Welle unserer (ersten?) zeitgeistbestimmenden Pandemie angefangen, über den europäischen Kontinent zu fegen. Das erste Umland verschanzt sich zurück in den Lockdown und auch in Deutschland haben viele Städte bereits die vor allem politisch bedeutsame Grenze von 50 Infektionen pro 100 000 Menschchen überschritten; gestern auch Bayern als gesamtes Bundesland.

Ein kurzer Exkurs zu dem Grenzwert (Vorsicht, Schachtelsätze). 50 Neu-Infektionen pro Woche pro 100 000 Einwohnende. Was sagt mir der Wert? Ich habe als Unterschwellen-Autist*in das Gefühl, dass ein wissenschaftlich fundierter Wert eher 38 oder 71 oder 142 Menschen wären statt einer schönen runden 50. Ich erwarte aber auch ein knappes Jahr nach Ausbruch und ein gutes halbes nach „unserer“ ersten Welle nicht, dass ein solches statistisches Optimum bereits gefunden wurde. Wenn ich aber einen Schritt zurück gehe und mir anschaue, wie die Bundesregierung – besonders im internationalen Vergleich – mit der gegebenen Ausgangslage in der letzten Runde umgegangen ist, bin ich definitiv ein weiteres Mal glücklich, dass der Duktus der uns betreffenden politischen Besetzungsmacht angegeben wird durch eine Frau, deren generelle Taktik durchaus als teflonartig bezeichnet werden kann, die aber gelernt hat, wie Wissenschaft funktioniert und die ein gutes Gespür dafür beweist, wen es zu fragen lohnt. Safe #teamdrosten. Jedenfalls bin ich mehr als bereit, diesen ersten – vermutlich als groben Richtwert einzuschätzenden – Grenzwert von 50 rosa Plüschelefanten dankbar anzunehmen. 

Eigentlich wäre das dem Dorf hier alles noch herzlich egal. Eigentlich würden aber gerade auch nicht ein paar Hundert Menschen am alten Sportplatz wohnen, um einen Wald zu verteidigen. Und eigentlich würden auch nicht ein paar tausend Polizist*innen versuchen, die Zerstörung des Waldes doch gewaltsam durchzusetzen. Dass die einzige Rechtfertigung der Besetzungsmacht es ist, dass es nach den eigenen Spielregeln irgendwie erlaubt ist und unsere größte Forderung es ist, sich vor allem den Sinn nochmal genauer anzuschauen, sei an anderer Stelle diskutiert. Das eigentliche Vorhaben dieses Textes ist der Versuch einer Zusammenfassung der Situation besonders in Hinblick auf Coco-Island, den Jahresurlaub 2020.

 

Außerhalb des Waldes gibt es aktuell drei zentrale Strukturen der Protestbewegung: Das Camp, die Küfa und der Media-Hub. Eine vierte Struktur, die Gaststube, ist gerade am entstehen.

Das Camp: Seit bestehen hat das Camp ein Hygiene-Konzept, welches vom örtlichen Ordnungsamt überwacht und mehrfach nachoptimiert wurde. Die Bedingungen und die Existenz des Camps – vor allem in Hinblick auf Corona – sind Gegenstand ständiger Verhandlungen mit den zuständigen Behörden. Allen Beteiligten und Verantwortlichen ist klar, dass hieran kein Weg vorbeiführt.

Die Küfa: Als zentraler Ort der Essensverarbeitung hat die Küfa von Natur aus (und besonders zurzeit) das ausgeklügeltste und – wie sich gerade herausstellt – effektivste Corona-Konzept. Aber dazu später mehr.

Der Media-Hub: Der Media-Hub hat das rigideste Corona-Konzept der Besetzung. Die dortige Infrastruktur wird von Greenpeace gestellt, entsprechend sind auch sie für das Hygienekonzept verantwortlich. Greenpeace fährt allgemein eine vergleichsweise restriktive Corona-Politik, weshalb sie auch hier die strengsten Auflagen mitbringen: Alle Menschen, die den Media-Hub betreten, müssen sich mit Kontaktmöglichkeit in eine Liste eintragen und stimmen damit dem öffentlich ausliegenden Hygienekonzept zu, welches beinhaltet, sich im Infektionsfall innerhalb des Media-Hubs bedingungslos in Quarantäne zu begeben und mit dem Gesundheitsamt zu kooperieren. Dies ist Grundvoraussetzung für die Arbeit im Media-Hub; Greenpeace behält sich andernfalls vor, das Camp abzubauen.

Die Gaststube: Die dortige Struktur ist zum jetzigen Zeitpunkt in der Entstehung. Dass das Hygienekonzept von Anfang an ein zentraler Teil der Strukturaufbauarbeit und von der Relevanz gleichgestellt mit dem Nutzungskonzept ist, spricht für sich und ist repräsentativ für die Ernsthaftigkeit, mit der das Thema auf der Seite des Protestes behandelt wird.

Die Besetzung: Als autonomer, anarchistischer Raum hat die Waldbesetzung kein einheitliches Konzept, das für alle verpflichtend ist. In den verknüpfenden Organisationsstrukturen innerhalb des Waldes bekommt das Thema „Corona“ jedoch viel Raum. Die genaue Handhabung und Umsetzung der Überlegungen ist aber den jeweiligen Baumhausdörfern überlassen, um möglichst bedürfnisorientiert operieren zu können.

 

An welche Maßnahmen, Regeln und Richtlinien sich die Polizei bei dem Einsatz hält, ist leider zurzeit nicht bekannt. Besonders in Hinblick auf die Tatsache, dass die Polizeikräfte vor Ort dem Protest nach Angaben der hessischen Polizeigewerkschaft (Quelle: Alexander Glunz, Pressesprecher der Polizeigewerkschaft Hessen) zahlenmäßig um das fünf- bis zehnfache überlegen sind, aus dem gesamten Bundesgebiet anreisen und stellenweise regelmäßig pendeln (unabhängig von jeglichen Grenzwerten), um den klassischen Streifendienst weiterhin auszuführen, hat die Öffentlichkeit möglicherweise ein gesteigertes Interesse an detaillierteren Informationen zu den Hygienemaßnahmen. Dass in letzter Zeit vermehrt Bilder auftauchen, in denen die rudimentärsten Hygienemaßnahmen (Mund-/Nasenbedeckung und Abstand) von der Polizei nicht eingehalten werden, ist bei Schichtlängen von bis zu 16 Stunden (Quelle ebenfalls Polizeigewerkschaft Hessen) nur nachvollziehbar, aber sicherlich nicht zweckdienlich.

 

Es geht aber noch einen Schritt weiter: Nicht zuletzt, um der Stigmatisierung von Corona-Infektionen entgegenzuwirken, sondern auch, um dem Eigenanspruch nach maximaler Transparenz gerecht zu werden, aber besonders, um die Polizei einzuladen, mitzuziehen, werden zwei Fälle offengelegt, in denen es zu indirektem bzw. direktem Kontakt des Protestes mit infizierten Personen kam und, wie damit umgegangen wurde:

Im ersten Fall wurde uns mitgeteilt, dass eine Person, die in einem Soli-Bus von Stadtallendorf nach Dannenrod gefahren ist, ein paar Tage später ein positives Testergebnis hatte. Wie sich herausstellte, hat die Person sich jedoch die gesamte Zeit (vor allem die Busfahrt) an die notwendigen Hygienemaßnahmen gehalten, weshalb keine Infektion erfolgte. Da für ca. 18h der Verdacht bestand, dass eine Person aus dem Media-Hub in diesem Bus saß, wurde das entsprechende Camp von Greenpeace kurzfristig komplett abgeriegelt und ein Test der betroffenen Person initiiert. Als sich nach wenigen Stunden herausstellte, dass es sich um zwei unterschiedliche Busse handelte, wurde der Lockdown des Media-Hubs wieder aufgehoben.

Der zweite Fall ist tagesaktuell. In der letzten Woche war eine Person hier, die am Montag ein positives Testergebnis bekommen hat. Besondere Brisanz erhält der Fall, weil die Person in der Küfa mitgearbeitet hat. Die Reaktion der Küfa war vorbildlich: Die Personen, die direkten Kontakt mit der infizierten Person hatten, wurden direkt aus dem Team genommen und keine 48 Stunden später wurde das gesamte Küfa-Team ausgetauscht. Dazu kommunizieren sie die Details der Historie sowie zu ihrem Umgang damit maximal transparent innerhalb der Besetzung sowie öffentlich vor Ort. Eine detaillierte Evaluation der Arbeitsprozesse um die Essensversorgung und -verarbeitung inklusive der jeweiligen Risikobewertung ist erfolgt und Teil der kommunizierten Informationen. Ob das reicht, einen Ausbruch zu verhindern, wird sich in den nächsten Tagen zeigen. In jedem Fall kann dem Küfa-Team kein Vorwurf gemacht werden – die Reaktion und Handhabe wird aus einer intern-informierten Perspektive als absolut vorbildlich bewertet.

 

So. Unter der Annahme, dass die Polizei statistisch repräsentativ ist, die Angaben von Herrn Glunz korrekt sind und wir uns gerade irgendwo um die 50 Neuinfektionen pro Woche pro 100 000 Personen bewegen, würde ich in etwa eine Infektion innerhalb der hier vor Ort stationierten Belegschaft pro Woche erwarten. Liebe Polizei, wir haben vorgelegt – legt ihr auch eure Karten auf den Tisch?

Und wo wir gerade so schön dabei sind, die Polizei einzuladen, unserem guten Vorbild zu folgen: Auf unserer Seite wurde die geplante bundesweite und bündnisübergreifende Mobilisierung für die Menschenkette diesen Sonntag abgesagt. Wegen Corona. Just saying.

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