Berlin grüßt Athena
Kriegt raus, wo die Heime sind und die kinderreichen Familien und das Subproletariat und die proletarischen Frauen, die nur darauf warten, den Richtigen in die Fresse zu schlagen. Die werden die Führung übernehmen. Und lasst euch nicht schnappen und lernt von denen, wie man sich nicht schnappen lässt – die verstehen mehr davon als ihr.
Die Klassenkämpfe entfalten. Das Proletariat organisieren.
Gudrun Ensslin – Die Rote Armee aufbauen, Juni 1970
Kriegt raus, wo die Heime sind und die kinderreichen Familien und das Subproletariat und die proletarischen Frauen, die nur darauf warten, den Richtigen in die Fresse zu schlagen. Die werden die Führung übernehmen. Und lasst euch nicht schnappen und lernt von denen, wie man sich nicht schnappen lässt – die verstehen mehr davon als ihr.
Die Klassenkämpfe entfalten. Das Proletariat organisieren.
Gudrun Ensslin – Die Rote Armee aufbauen, Juni 1970
Das Geschrei ist groß, der kleinbürgerliche Mob tobt in den Netzwerken und Medien, Faschisten und Grüne in der Sache endlich vereint. Der Gesundheitsminister hat den permanenten Ausnahmezustand der Pandemie völlig verinnerlicht, wer Einsätze von Bullen und Feuerwehr behindert, soll gefälligst aus seiner Wohnung geworfen werden.
Jeder, der wissen wollte, wusste was passieren wird. Wer auf den Straßen dieser Stadt unterwegs ist, sich außerhalb seiner Wohlfühlblase bewegt, sich mit den proletarischen Jugendlichen unterhält, wußte, dass die Nacht der Abrechnung gekommen war. Fast drei Jahre Pandemie Ausnahmezustand, überall Schikanen, Repression und Bullen, jetzt die nächste solidarische Anstrengung der Gesellschaft, alle haben Opfer für den gerechten Krieg aufzubringen. Da wo die Kohle am Monatsende eh nicht reicht, reicht sie nicht mal mehr für den halben Monat. Der alltägliche Rassismus der Bullen, die Armut, der du nur entkommst, wenn du dir auf kreative Art und Weise dein Geld jenseits der bürgerlichen Spielregeln verdienst. Du bist der Abschaum der Gesellschaft, Bildungsfern hört sich eleganter an als asoziales Milieu, meint aber dasselbe.
Seit Tagen haben sich die Proleten mit Pyrotechnik eingedeckt, die Waffen der kleinen Leute, lange Schlangen vor den Verkaufsgeschäften, die klügsten waren jenseits der Grenzen, es muss schon richtig rumsen, wenn die Bullen kommen. Schon 2 Tage vor Silvester die ersten Auseinandersetzungen mit den Bullen in Berlin, teilweise werden die mit brennenden Mülltonnen angelockt und dann aus taktisch klug gewählter Position angegriffen. Das Surplus Proletariat von Berlin studiert die Aktionen der französischen Banlieue. Teilweise auf Netflix. So sind die Zeiten geworden.
Dann die Nacht der Nächte, die Lust am Exzess, der all den Linken und selbsternannten Anarchisten fremd, unheimlich geworden ist, weil sie nur noch ihre Neurosen pflegen, indem sie versuchen alles zu kontrollieren, ihr Denken, ihre Sprache, ihre Gefühle. Sich selbst ihr eigener Bulle geworden sind. Überall Kadavergehorsam, nur noch die hohlen, immer gleichen Phrasen nachplappern. So anders das Leben in den rauen Ecken der Stadt. Unmittelbar, verletzend, irritierend, schillernd und tiefstes Schwarz. Aber Leben. Echtes Leben.
Seit Tagen wurde im Netz dazu aufgerufen, zu Silvester zur Sanderstraße in Neukölln zu kommen, seit 3 Jahren liefert sich hier das Surplus Proletariat des Viertels Kämpfe mit den Bullen. Selbst 2020, als in Berlin jede Ansammlung von mehr als 3 Personen auf der Straße verboten war und alle Kneipen und Spätis geschlossen, die Tanken nur Treibstoff verkaufen durften, hatten sie eine ganze Stunde die Bullen so mit Pyrotechnik eingedeckt, dass die einfach nicht in die Straße vorstoßen konnten. Der eine oder andere Molotow, ein Stilmittel, dass eine ganze Generation von pseudomilitanten linksradikalen Aktivisten nur noch vom Hörensagen kennt, fand seine Ausdrucksform.
Nun also auf die Sekunde pünktlich wie angekündigt, erleuchtet um 23:30 Uhr ein gigantisches Feuerwerk die Sanderstraße, da wo sie auf den Kottbusser Damm stößt, spiegelt sich im Lack der bereitstehenden Wannen. Die Bullen versuchen einen ersten Vorstoß, sogar Schilde tauchen wieder aus der Versenkung aus, sie kommen keine 10 Meter weit in die Sanderstraße, eine Viertelstunde lang ist die ganze Straße in Feuerwerk gehüllt, überall rumst es, fliegen Leuchtkörper wild durch die Gegend. Die Bullen ändern ihre Taktik, sitzen wieder auf und brettern mit ihren Fahrzeugen los, erobern eine Straßenecke, stehen dann hilflos an der Kreuzung, das Surplus Proletariat ist längst ausgewichen, schickt von einer anderen Straßenecke Pyrotechnik in Richtung Bullen. So geht es eine gute halbe Stunde hin und her, irgendwann stehen die Bullen wieder am Kottbusser Damm. Dann sammelt es sich in der Sanderstraße, es wird Yalla gerufen, ein geschlossener Angriff auf die Bullen, die sitzen auf und flüchten in die Nacht. Die Straße gehört der Jugend. Jubel und Geschrei, ein faschistischer Kleinbürger wirft von seinem Balkon aus Flaschen auf die Jugendlichen, wähnt sich sicher da oben sich im vierten Stock, posiert auf dem Balkon, bis er unter Pyro Beschuss schlagartig in seine Wohnung flüchtet. Von überall her werden Mülltonnen heran geschleppt, die Sanderstraße wird zum Kottbusser Damm hin verbarrikadiert, bald brennt ein großes Feuer, immer wieder rummst es ohrenbetäubend, wenn größere Böller ins Feuer geworfen werden. Leute tauchen mit Feuerlöscher auf, wahrscheinlich im nahegelegenen U-Bahnhof sozialisiert, sprühen das Pulver in die Luft, es ist ein wilder Kriegstanz. Eine Stunde lang haben die Leute sich ihre proletarische temporäre autonome Zone geschaffen, überall glückliche, euphorische Gesichter, auch bei den meisten Anwohnern.
Dann kommen die schlechten Verlierer zurück, mit großen Besteck, Wasserwerfer und ihre beste Einsatzhundertschaft haben sie herangekarrt, die Bullenpräsidentin ist selber nach Neukölln geeilt, mit ihrem Führungsstab steht sie am nahegelegenen Hermannplatz, Ratlosigkeit in den Gesichtern, eine der kampferprobesten Polizeien Europas vorgeführt von ein paar Dutzend Jugendlichen. Mit Ansage. Unterdessen knallt es auch an vielen anderen Ecken von Berlin, in vielen proletarischen Vierteln kommt es zu gezielten Angriffen auf die Bullen. Gesundbrunnen, Gropiusstadt, Hermannstraße, Sonnenallee,… weit nach Mitternacht bauen 50 Leute Barrikaden auf der Huttenstraße in Moabit und setzen diese in Brand, in der Urbanstraße werden ebenfalls brennende Barrikaden errichtet, auch in der Brunnenstraße in Mitte werden Barrikaden gebaut. Und das ist nur eine sehr unvollständige Aufzählung, die Bullen selber sprechen von sich über das gesamte Stadtgebiet erstreckenden Aktionen, in einigen Fällen waren auch Molotows im Spiel.
Seit Jahrzehnten hat es in Berlin nicht mehr so gerumst wie dieses Silvester. Es war eine Eskalation mit Ansage. Und sie ist zutiefst politisch. Der Witz ist, dass die sich politisch verstehenden linksradikalen Akteure dieser Stadt, die im gesamten Jahr 2022 nicht eine widerständige Massenaktion auf die Reihe bekommen haben, mit diesem Geschehen absolut nichts mehr zu tun haben. Im Dezember 2022 veröffentlichen Menschen und Zusammenhänge aus mehreren deutschen Städten eine Erklärung, in der sie schrieben: “Es geht darum, sich zu organisieren, einen Neuanfang zu wagen. Dabei geht es uns weniger um die nächste Organisation, die Struktur, Ansprechbarkeit, Vermittlung und andere Schlagwörter aus dem Management bemüht, sondern darum, die Unversöhnlichkeit mit den bestehenden Verhältnissen in Theorie und Praxis zu organisieren und das jenseits alter Gewissheiten… Wir wissen, dass auch andere Menschen in diese Richtung denken und handeln. Deswegen sind wir uns gewiss, dass sich unsere Wege früher oder später kreuzen werden.”
Ja, es ist wirklich überfällig, dass sich ein neuer klassenbezogener gesellschaftlicher Antagonismus organisiert und sich die theoretischen und praktischen Mittel aneignet, um in die bestehenden Verhältnisse intervenieren zu können. Das Surplus Proletariat braucht uns nicht, aber wir brauchen einen sozialen Bezugspunkt, wenn wir mehr sein wollen als ein Haufen verlorener Seelen.
Sebastian Lotzer aus dem Nebel des Feuerwerks der Nacht des 1. Januars 2023
Ergänzungen
Bitte nicht Silvester mit Klassenkampf verwechseln
Der Mangel an sozialen Kämpfen scheint manche in solche Verzweiflung zu treiben, dass sie auch Silvesterböllern, Kirmeskloppereien oder Flüge nach Mallorca und anschließendes wildpinkeln auf Bullenautos an der Biermeile als revolutionären Akt des Subproletariats deuten. Je entfernter eigene Biographien von "proletarischen" Sozialisationserfahrungen sind umso verklärter werden festischisierende Blicke auf Alltags- und Gewalterfahrungen in diesen Millieus. Statt kulturelle Aneignung zu betreiben und ins schwärmen über eigene Banlieu-Phantasien zu kommen, wäre es besser sich zu fragen, wo der emanzipatorische Charakter von Ereignissen ist.
Den Gewalt gibt es überall. Nichts besonderes. Die Frage ist wo sie nicht herrschende Machtverhältnisse reproduziert, sondern revolutionär, das heisst gesellschaftsverändernd wirkt. Sind Räume z.B. lustvoll und angstfrei nutzbar für FLINTA* oder sind es entgrenzte Orte für hegemoniale Männlichkeiten und patriarchale Zustände. Wenn solche Widersprüche ausgeblendet werden zugunsten vermeintlich gemeinsamer Fronten dann wird das nix mit der Revolte.
Da ich seit langer Zeit schon
Da ich seit langer Zeit schon nicht mehr auf indymedia poste, jemand anderes diesen Beitrag hier reingestellt hat, der Verweis auf non copyriot, wo der Text ursprünglich erschien.
https://non.copyriot.com/berlin-gruesst-athena/