Solidarische Nachbarschaft auf der Anklagebank - Erklärung zum Freispruch eines Herausgebers von „Umkämpftes Wohnen“:

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Mit einem Freispruch vor dem Amtsgericht Berlin endete am 19. Juni ein Kriminalisierungsversuch eines der Herausgeber. Er war angeklagt worden, einen Kiezspaziergang am 17.11.2019 geleitet und nicht als Demonstration angemeldet zu haben. Am Ende musste selbst die Staatsanwältin auf Freispruch plädieren, weil ein Kiezspaziergang keine Demonstration ist und es auch keine Leitung gab. Hier zu den Hintergründen:

Als Herausgeber des Buches „Umkämpftes Wohnen – Neue Solidarität in den Städten“ unterstützen wir Mieter*innen in ihrem Kampf gegen Verdrängung und hohe Mieten in verschiedenen Städten. So bieten wir Veranstaltungen an, wenn Räumungen drohen und Mieter*innen sich dagegen organisieren. 

So beteiligte sich Peter Nowak, einer der Herausgeber, am 17.11.2019 an dem „Kiezspaziergang gegen Verdrängung und zu Orten des Widerstandes im Südkiez von Friedrichshain“. Er wurde von Mieter*innen organisiert, die sich in im letzten Jahr teilweise erfolgreich dagegen wehrten, dass ihr Haus zur Profitquelle von Investor*innen wird. Die Nachbar*innen planten im Anschluss an den Kiezspaziergang eine Vorstellung unseres Buches, das wenige Wochen später erschien.
https://umkaempftes-wohnen.de/post/189011446615/kiezspaziergang-gegen-verdrängung

Es waren ca. 30 Mieter*innen erschienen, darunter auch einige Senior*innen. Der geplante Austausch verschiedener Mieter*innen lief hervorragend. Doch die Polizei, die den Kiezspaziergang aus der Ferne beobachtete, machte am U- und S-Bahnhof Ostkreuz eine Personalienkontrolle gegen einen der Herausgeber des Buches, der Teil des Kiezspazierganges war. Das Ergebnis war eine Anklage, weil er angeblich eine Demonstration nicht angemeldet hätte. Der Herausgeber wurde zum Organisator erklärt, der angeblich die Route festlegte und Redebeiträge hielt. Tatsächlich hatten die Mieter*innen der unterschiedlichen Häuser die Route festgelegt und sie informierten auch jeweils über ihre Projekte. 

Es handelte sich daher auch um keine Demonstration, sondern um einen Stadtteilspaziergang, wie sie heute im Bereich des Tourismus oder der Kultur täglich in Berlin gibt, wie die Rechtanwältin Canan Bayran in der Gerichtsverhandlung erklärte. Sie betonte, dass eine Mitarbeiterin des Ordnungsamts Friedrichshain-Kreuzberg auf Nachfrage erklärte, dass Kiezspaziergänge in dem Stadtteil häufig stattfinden und nicht angemeldet werden müssen. Der Polizeizeuge erwiderte, das möge die Meinung des Bezirks sein, aber es sei nicht die der Polizei. Das bedeutet, dass es immer wieder möglich ist, dass solidarische Nachbar*innen angeklagt werden, wenn sie sich kennenlernen wollten und sich organisieren.

Daher sehen wir den Freispruch auch als einen Erfolg, der über den Einzelfall hinaus von Bedeutung ist. 

Die Solidarität in den Städten lässt sich nicht kriminalisieren. Wir werden auch weiterhin an der Seite von Mieter*innen und Projekten stehen, die gegen Mieterhöhung oder ihre Verdrängung kämpfen. Die Solidarität gilt auch denen, die deswegen vor Gericht gezerrt werden.

Mehr Infos zum Buch Umkämpftes Wohnen - Neue Solidarität in den Städten mit Foto von Mietenwahnsinnsdemo vom 20.6.2020 in Berlin:

https://umkaempftes-wohnen.de/post/621573634390163456/mehr-kiezspaziergänge

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Ergänzungen

 

 

Am Freitag, dem 19.06.2020 wurde vor dem Amtsgericht in Moabit darüber verhandelt, ob der Kiezspaziergang zu Häusern im Südkiez in Friedrichshain eine Demonstration war. Angeklagt war ein Mensch, den die Bullen am Ende des Spazierganges kontrolliert hatten wegen angeblicher Leitung einer nicht angemeldeten Versammlung. Die beiden Polizeizeugen in zivil kommen gemeinsam einige Minuten zu spät.Nach der Feststellung der Personalien und der Verlesung des Strafbefehls, gegen den der Angeklagte Widerspruch eingelegt hatte, erläutert die Rechtsanwältin (Canan Bayram, Bundestagsabgeordnete  der Partei Bündnis 90/Die Grünen), dass es sich bei der Veranstaltung um einen Kiezspaziergang gehandelt hat, der laut einer Nachfrage beim Bezirksamt auch nicht als Demonstration angemeldet werden muss. Außerdem gäbe es ständig v.a. im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg Kiezspaziergänge zu verschiedenen Themen, v.a. auch zu Verdrängung und Mieterkämpfen, die auch nicht angemeldet würden und wo dies ebenfalls nicht von der Polizei bemängelt werde. Der Richter scheint da anderer Meinung zu sein und behauptet, mensch müsse sich doch vorher im konkreten Fall erkundigen, ob eine Veranstaltung dieser Art anmeldepflichtig sei. Außerdem sei der Inhalt des Kiezspazierganges nicht relevant, sondern es ginge nur um die Form – Demonstration oder nicht. Später wird er noch lehrmeisterhaft die Rechtsanwältin und den Angeklagten fragen, wo denn eine Demonstration angemeldet werden müsse, da das ja nicht das Bezirksamt zu entscheiden habe. Die Antwort scheint ihm sehr wichtig zu sein, da er mehrfach nach fragt, als er keine ihn befriedigende Antwort erhält. Auch der Angeklagte selber sagt, dass die Form des Kiezspazierganges bewusst gewählt wurde, da es einige Nachbar*innen gäbe, die zwar an einem Kiezspaziergang, aber nicht an einer Demonstration teilnehmen würden und das Anliegen ja der Informationsaustausch gewesen sei. Es waren 20-30 Teilnehmer*innen anwesend, die sich vernetzen und informieren wollten und auch nur den Fußweg benutzten. Der Richter sagt, dass ein Kiezspaziergang ja „unterschiedlich ausgefüllt werden kann“ - also auch eine Demonstration sein könnte und drängt darauf, zu erfahren, wer das Plakat entworfen hat, wer die Route festgelegt hat, wie das entschieden wurde...Anscheinend hat die Polizei auch sich versammelnde Menschen angesprochen, bevor der später Angeklagte überhaupt vor Ort war. Später wird der aussagende Bulle sagen, dass er davon ausgeht, dass der Angeklagte da schon anwesend war – er sich aber nicht konkret erinnern könne und ihn auch vorher nicht kannte. Aber dann habe er ihn immer wieder gesehen, wie er bei fast jeder Station einen Redebeitrag durch ein Megafon gehalten habe. Dabei wurde gar kein Megafon benutzt und die Informationen über die Häuser sind von unterschiedlichen Menschen geteilt worden, wonach sich dann oft durch Nachfrage eine mehr oder weniger lange Diskussion und Informationsaustauschangeschlossen habe. Die Staatsanwältin scheint das Ankündigungsplakat sehr zu beeindrucken, sie meint darin einen Aufruf zu einer Demonstration zu sehen. 

 

Kinzigstraße 9  - da  kommt die Polizei ja sonst nicht so rein

 

Der erste Polizeizeuge (Herr Heer) wird vernommen und zeigt dabei recht offen seine Enttäuschung darüber, dass die Polizei ja nicht überall rein darf (die K9 – wohin am Ende des Kiezzspazierganges zum weiteren Austausch eingeladen wurde - sei ja ein linkes Szeneobjekt, das vor Jahren auffällig gewesen sei, mit einer Kneipe, wo er „vor Jahren mal im Kellerbereich gewesen sei, da kommt die Polizei ja sonst nicht so rein“). Auf die Frage des Richters, warum denn nicht vorher versucht wurde, Kontakt mit dem Veranstalter aufzunehmen, das Impressum stünde doch auf dem Plakat, meinte der Abschnittsbeamte, dass das ja meist sowieso nur ein Pseudoimpressum sei, zum konkreten Fall konnte er aber nichts sagen. Gemeint ist hier natürlich nicht das Impressum, sondern das V.i.s.d.P. (Verantwortlich im Sinne des Pressegesetzes), aber solche Feinheiten sind vor Gericht vielleicht nicht relevant.

Der Zeuge wurde am Freitag damit beauftragt, eine Führungsgruppe zu erstellen, um die vermeintliche Demonstration am Sonntag zu begleiten. Dies erwies sich als schwierig, und dann wurde ihm auch noch die beiden Einsatzwagen der Hundertschaft abgezogen – weil die anscheinend für etwas Wichtigeres gebraucht wurden. („Wir wurden da etwas hängen gelassen“). Da waren es nur noch 4 einsame Polizist*innen in einem Bulli. Außerdem wollten die Leute, die er vor Beginn der Veranstaltung ansprach und eine verantwortliche Person forderte, nicht mit ihm reden (nach seiner Aussage) und er musste sich Sprüche anhören, wie „Wir gehen hier doch nur spazieren.“ Das muss schon eine sehr frustrierende Situation für den armen Beamten gewesen sein. Also entschlossen sie sich die ganze Sache mit etwas Abstand (Sicht- aber nicht Hörweite) zu verfolgen. Angeblich habe der Angeklagte das Ganze angeführt und vor einzelnen Häusern Durchsagen durch den „Handlautsprecher“ gemacht. Verstehen konnte der Zeuge jedoch nichts (vielleicht war es ja doch ohne Lautsprecher, dann ist es nicht so laut?), der Angeklagte sei angeblich sehr markant gewesen (allerdings konnte sich der Zeuge dann doch nicht konkret daran erinnern, ob er am Anfang, bei der Ansprache durch ihn, dabei gewesen sei). Die Häuser seinen „Reizobjekte der linken Szene“ gewesen.  Laut Zeugen sei das Publikum teilweise bürgerlich gewesen und einzelne Linksalternative, die vielleicht an der Sache interessiert gewesen seien, vielleicht aber auch nur da waren „weil es ein Aufzug“ war. Eine Begleitung der Menschen durch die Polizei sei aber auf jeden Fall nötig gewesen, da man ja nie wissen könne, wie viele Menschen noch dazu stoßen. Am Anfang seien zwar nur ca. 20 Menschen da gewesen, aber der Polizeizeuge hätte schon mal erlebt, dass dann im Laufe einer Demonstration noch viele „dazu sickern“ und „aus den Ritzen kommen“, so dass es nachher tausende sind. Und auch wenn das Ganze im recht menschenleeren Kiez passierte, Leute außerhalb des Spazierganges also so gut wie nicht angesprochen werden konnten, es keine Transparente oder Sprechchöre gab, alles auf dem Gehweg stattfand, wo auch noch andere Leute durch gehen konnten, war der Zeuge bis zum Schluss davon überzeugt, dass das Ganze eine Demo war. Er sei der Meinung, dass der (entscheidende?) Unterschied von dieser Veranstaltung zu z.B. einer Stadtführung sei, dass bei einer Stadtführung keine politische Aussage gemacht wird. Deshalb musste dann ja am Schluss, als es „Auflösungstendenzen“ (bezeichnenderweise ohne Abschlusskundgebung, obwohl andererseits der Angeklagte dort angeblich eine Durchsage durch den „Handlautsprecher“ gemacht hätte) gab, die Personalien von dem später Angeklagten fest gestellt worden und ihm wurde der „Tatvorwurf“ (Leitung einer nicht angemeldeten Versammlung) eröffnet. Dann packt der Polizist im Zeugenstand ein Plakat aus. Das hätten Kollegen in der Rigaer Straße gefunden. Ebenso, wie die Plakate zur Ankündigung des Kiezspazierganges in der Rigaer Straße gefunden worden waren – dies scheint ein weiterer untrüglicher Beweis zu sein, dass es sich bei der Veranstaltung um irgendetwas unglaublich krasses gehandelt haben muss. Da war es vielleicht auch nur Glück, das da kein Terrorvorwurf draus geworden ist. Das Plakat würde sich auf diesen Prozess beziehen und sei ein weiteres Indiz, dass da die linke Szene hinter steckt. Ein Schelm, wer denkt, dass die Polizei (in persona des vernommenen Zeugen) da einen Verfolgungs- und Belastungswillen zeigt. 

 

Wie ein Richter vom Kiezspaziergang auf Auschwitz kommt

 

 

Der Richter nimmt das Plakat entgegen, bemerkt noch in Bezug auf die Beschwerde des Polizeizeugen, dass vor und bei dem Kiezspaziergang keine*r mit ihm reden wollte:„wenn man mit der Polizei nicht redet, kapiert man als Mieter natürlich auch nichts.“ und liest dann den Inhalt des Plakates komplett vor. Ergänzt noch nach Gutdünken und vergleicht so diesen Spaziergang mit Krieg (Richter sinngemäß: „Es gab keine Demonstration, also kann auch nicht gegen das Versammlungsrecht verstoßen worden sein. Es wurde kein Krieg erklärt, also gab es keinen Krieg. Es gab zwar tausende von Toten, aber es gab keinen Krieg.“) Danach führt er seine Gedanken vor den ungläubigen Ohren der Verteidigung und Zuhörer*innen noch weiter aus. Auch in Auschwitz sei nachher niemand verantwortlich gewesen. Da gab es bei den Prozessbeobachterin hörbaren Unmut, wie man von der Verhandlung über einen Kiezspaziergang zur Shoah kommen kann. Darauf spricht er eine*n Zuhörer*in an, sie können das, was er gerade gesagt habe auch gerne mit schreiben, da die Person ja offensichtlich sowieso mit schreibe. Er lässt sich sogar auf einen Dialog mit der*m Zuhörer*in ein, wobei seine Art zu befragen und seine unpassenden Vergleiche kritisiert werden. Der Richter entlässt den Zeugen und macht dann eine Pause, in der die Verteidigerin im Saal bleiben soll. 

 

Am Ende Freispruch

 

Nach der ca 15minütigen Pause verkündet der Richter, dass er auf den zweiten Polizeizeugen verzichten wird. Beide Polizeizeugen setzen sich nun in den Zuhörer*innenraum um den Prozess weiter zu verfolgen. Die Staatsanwaltschaft beginnt mit dem Plädoyer: Es sei keine erforderliche Sicherheit gegeben, dass die Veranstaltung eine Versammlung war. Wie der Herr Heer schon geschildert habe, sei es zwar ein „geschlossener Zug“ gewesen, der aber auf dem Gehweg geblieben sei, keine Wirkung nach Außen haben sollte, sondern sich an die Teilnehmer der Veranstaltung richtete. „Es fällt schwer, zu sagen, dass es eine Demonstration war.“ Die Staatsanwältin fordert „Freispruch“. Dem kann sich die Verteidigerin nur noch anschließen, auch wenn sie keinen Kommentar zu der Äußerung der Staatsanwältin macht, dass das Ankündigungsplakat (das ihrer Meinung nach ja schon ein Aufruf zu einer Demo ist – obwohl „Kiezspaziergang“ drauf steht) vielleicht von einer anderen Gruppe stammt, mit der Absicht, die Veranstaltung zu „kapern“. (Die bösen Linken halt)Der Richter macht noch nicht mal den Anschein einer Beratung, sondern verkündet direkt das Urteil: „Freispruch“. Auch wenn dies ein sehr erfreuliches Ergebnis ist, täuscht der gesamte Ablauf des Prozesses und der Auftritt des Polizeizeugen nicht darüber hinweg, dass hier mal wieder versucht wurde, soziale Bewegungen und politisch linke Positionen zu verfolgen. Das hat System. Aber dieses System ist nicht relevant. Wir brauchen keine Polizei und keine Gerichte, die uns sagen, was wir tun dürfen und was nicht. Was zählt sind Eigenverantwortung und Solidarität