30 Stunden volle Aktion gegen Schwarzfahr-Kriminalisierung und für Nulltarif im ÖPNV: Aktionsfahrten, Polizeikessel, Kontrollen, Gerichtsprozesse ...
Das war anstrengend - aber Direct-Action nach Bilderbuch: Mit einer 30-stündigen Aktionserie haben einige Aktivist_innen eine Debatte angezettelt um den Unsinn des Bestrafens von Schwarzfahrer_innen, von Fahrkarten überhaupt und gleich noch für eine andere Verkehrspolitik geworden.
Ein erster Überblick
Start war am Montag, 2.3. um 10.32 Uhr in Kempten/Allgäu. Eine kleine Gruppe Personen besteigt den Zug - offen als Schwarzfahrer_innen gekennzeichnet und mit Flugblättern "bewaffnet". Vergeblich versucht ein Schaffner, die Aktion zu stoppen. Etwas später Umstieg und weiter Richtung München, gleiche Aktion. Eine überforderte und aggressive Schaffnerin alarmiert die Polizei. Kurz vor Pasing erklärt die im Zug die Festnahme. Grund: "ähhh ... 127 StPO" (das ist in der Tat ein Festnahmeparagraph, aber eher z.B. wegen Fluchtgefahr bei schweren Verbrechen). Räumung in Pasing abgesagt. Ausstieg am Hauptbahnhof mit 40min Polizeikessel. Irgendwann hat die Polizei auch keine Argumente mehr, es folgt eine Demo durch den Hauptbahnhof in München. Wieder Rudelbildung bei Polizeikräften und DB-Personal - aber nach einigen Minuten klar: Hier darf demonstriert werden (Fraport-Urteil!). Einigung mit der Bahn: Keine Durchsagen, wenn die gerade was durchsagen. Dann ab in die U-Bahn zum Landgericht. Dort steht der Prozess gegen Dirk Jessen an - zweite Instanz (Berufung) wegen Schwarzfahrens mit Schild. Doch wenige Meter vorher gestoppt, massive körperliche Gewalt von MVG-Leuten (große Horde am Ausgang der U-Bahn-Station Stiglmaierplatz). Nach längerem Stopp weiter zum Gericht. Prozess war zum Glück um eine Stunde verschoben, daher noch rechtzeitig. Weiter Aktion, jetzt im Gericht. Flyerverteilen untersagt: "Sie dürfen hier keine Flyer verteilen ... jedenfalls keine in die Richtung", sagt ein Justizwachtmeister. Eine der vielen Stilblüten des Tages.
Dann der Prozess. Jörg Bergstedt wird als Verteidiger zugelassen - also zu zweit gegen die Justizmacht. Am Ende steht eine Einstellung - und ausnahmsweise ist dem Staatsanwalt mal zuzustimmen, der die Einstellung akzeptiert, aber anfügt, er hätte es interessant gefunden, die Rechtsfrage des Schwarzfahrens mit Kennzeichnung mal genauer juristisch zu prüfen (aber keine Angst: das wird kommen!). Abgang ohne Verurteilung (Bericht im BR ++ Süddeutsche ++ Augsburger Allgemeine ++ tz)
Aktionsschwarzfahrt Richtung Gießen, wo am Folgemorgen der nächste Schwarzfahrprozess ansteht. Die Tour wird stressig. Einige Kontrolleure versuchen sogar mit einfacher körperlicher Gewalt die Aktionsgruppe im Zug zu behindern. Wortgefechte und großes Polizeiaufgebot in Nürnberg. Zwangsweiser Ausstieg, aber gute Stimmung auf beiden Seiten. Mehrere Polizeibeamt_innen wollen Fotos machen von der Gruppe, die Info von Aktion und Nicht-Verurteilung ist inzwischen rum. Die Gruppe ist prominent geworden. Höhepunkt: Die Bundespolizei gibt eine Warnmeldung heraus - das hat sicherlich selten so schnell eine Mini-Aktionsgruppe geschafft. Direct Action zeigt hier, warum sie den Latschdemos und langweiligen Durchschnittsaktionsformen deutscher Protestbewegungen überlegen ist.
Nächster ICE nach Würzburg. Der Personalwechsel bei ICEs beschert einen dummen Zufall - genau die selben Schaffner! Die holen wieder die Polize und versuchen, den Zug noch in Nürnberg wieder zu stoppen. Das misslingt - also nächste Festnahme in Würzburg. Die Gesprächsatmosphäre wird netter - selbst den Agro-Kontrolleuren können die Ziele erklärt werden. Es wird spät. In Würzburg bricht die Gruppe die Aktion ab, um es noch bis Frankfurt zu schaffen, sonst ist am Tag danach der Prozess in Gießen in Gefahr. Als Ausgleich trifft sie auf einen richtig netten Kontrolleur, der die Kritik an der Firmenpolitik der Bahn teilt - er ist ja schließlich auch eher ein Opfer. Bahnchef Gruppe hatte vier Tage vorher als Hauptziel der Bahn rausgegeben, ein berechenbarer Partner am Kapitalmarkt zu sein. Personenbeförderung wird zur Nebensache im Kapitalismus. Richtig nettes Gespräch. Derweil kratzt die Summe der erhöhten Fahrpreise im Laufe des Tages am vierstelligen Bereich. Doch davon wird die Bahn wohl nichts sehen. Wer kein Eigentum hat, kann frecher sein. Wenn die Bahn schlau ist, versucht sie es gar nicht, das Geld einzutreiben - kostet nur zusätzlich.
Es folgen: Wenige Stunden Schlaf bei Unterstützer_innen in der Mainmetropole und dann früh morgens die Aktions-Schwarzfahrt (Flyern, Diskutieren, Schwarzfahrkennzeichnung) nach Gießen. Keine Probleme unterwegs. Demo im Bahnhof Gießen und durch die Stadt. 9.30 Uhr startet der Prozess gegen Jörg Bergstedt. Der ist auf Rekordjagd. Nach knapp 30min bringt er das Gericht mit Anträgen dazu, den Prozess erstmal abzubrechen. Außer dem Aufruf der Sache ist genau nichts passiert (Berichte im Hessischen Rundfunk ++ Lupengießen).
Abschluss ist die Demo vom Gericht zum Bahnhof und dann die Aktions-Schwarzfahrt von dort nach Saasen, Ankunft kurz vor 13 Uhr. Fast hätte es sich verzögert, den die letzten Minuten der ganzen Aktionsphase werden die gewalttätigsten. Ein bullig designter Kontrolleur schimpft, schubst und droht. Dann aber hat er offenbar die Polizei an den falschen Bahnhof bestellt. Als seine vermeintliche "Beute", die dem Ganzen gelassen entgegen sieht, in Saasen aussteigt, wirft er sich denen mutig (1 gegen eine ganze Gruppe) entgegen. Selbst ruhiges Zureden hilftnicht, z.B. dass er sich gerade der Freiheitsberaubung strafbar macht und das für ihn ziemlich dumm ist. Seine "Opfer" mögen Polizei und Gefängnisse nicht. Schon gar nicht wollen sie Leute vor Gericht zerren, die selbst mehr Opfer der kapitalistischen Scheiße sind und nur aus schlimmer Unterwürfigkeit gegenüber dem Arbeitgeber hier so handeln. Doch der hört nirgends mehr hin. Gerangel, Schläge des Kontrolleurs in seiner völlig ekstatischen Gewaltmaßnahme, eine Brille geht kaputt, jemand zieht die Notbremse. Der Lokführer kommt, wirkt ruhig. Das hilft. Die Aktivist_innen schieben den Kontrolleur, der immer noch den Weg krampfhaft versperrt, mit aus dem Zug. Versuche, ihn zu beruhigen, helfen weiterhin nicht, aber er gibt draußen den Widerstand auf. Hoffentlich informierte er nicht die Polizei - wäre für ihn schlecht. Und auch für einen durchdrehenden Kontrolleti ist Strafe falsch. Es passiert nichts mehr. Irgendwann fährt der Zug weiter. Die Polizei kommt gar nicht mehr.
- Zusammenfassender Bericht in der taz
Die Moral von der Geschicht'
Das war ein Kurzbericht. In den nächsten Tagen erscheinen genauere Berichte der verschiedenen Phasen und der noch kommenden Ereignisse. Klar ist aber schon einiges:
- Das war endlich mal wieder eine richtig gute Direct-Action: Erregung schaffen, Inhalte vermitteln, widerspenstig sein, Menschen direkt ansprechen, Konkretes und Utopisches fordern. Mehr davon!
- Rechtshilfeorganisationen und Umweltverbände wurden vorher angesprochen. Reaktion: Null. Das ist typisch. Die Apparate und schwerfälligen Hierarchien haben gar kein Interesse, dass die Menschen selbst Aktionen machen. Die sollen spenden, Mitglied werden, Anwält_innen finanzieren und sonst die Klappe halten. Solche Strukturen braucht politischer Widerstand nicht. Sondern mehr Menschen, die ihre Ideen entwickeln, sich Knowhow aneignen und agieren.
- Offensive Prozessführung hat einen Prozess zur Einstellung gebracht und einen zum Absturz. Gute Quote - lohnt sich auch! Mehr davon!
Wie weiter?
Einige weitere Aktionen sind schon angekündigt, unter anderem die Idee kleinerer Aktionsschwarzfahrten an verschiedenen Orten (z.B. eine Station: Einsteigen, Flyern und Informieren, wieder raus). Wie wäre es, wenn Leute, die sowieso schwarzfahren, das künftig mit Kennzeichnung, offensiv und mit Flyern machen? Und die, die vor Gericht stehen, daraus Aktionen machen?
In Gießen steht am Donnerstag, den 5.3., gleich der nächste Prozess an: 8.30 Uhr im Landgericht Gießen (Raum 15). Konstellation: Wieder Jörg B., diesmal gegen Richter Nink. Das ist der, der ihn für eine Feldbefreiung sechs Monate hinter Gitter schickte. Als Freunde begegnen sich die also wohl nicht. Könnte sich also lohnen. Wichtiger als Zugucken ist aber Selbermachen!
- Netzwerk "Solidarische Mobilität" ++ Übersicht von Nulltarif-Initiativen
- Informationen, Gesetzestexte und -kommentare, Urteile und Studien zum Nulltarif unter www.schwarzstrafen.de.vu.
Mehr InfosUmweltschutz und Emanzipation
- Eingangsseite unter www.umwelt-und-emanzipation.de.vu
- Mitschnitt der Veranstaltung "Macht macht Umwelt kaputt" und andere Filme zu emanzipatorischer Ökologie
Ärger mit Justiz und Repression
- Informationen zu Knast ++ Knastkritik ++ Kritik an Strafe
- Fiese Tricks von Polizei und Justiz ++ Polizeigewalt
- Sich wehren: Kreative Antirepression ++ Tipps für offensive Gerichtsprozesse ++ Kreative Aktionsformen
- Broschüren und Bücher mit Tipps zum Wehren und Gründen gegen Knast und Strafe
Ergänzungen
Presse
Bericht in der SZ:
http://www.sueddeutsche.de/muenchen/prozess-um-notorischen-schwarzfahrer-kein-ticket-keine-einsicht-keine-strafe-1.2375055
Genauerer Teilbericht des Aktionstages in Gießen (3.3.)
Der erste (von weiteren folgenden) Teilberichten ist online - der vom 3.3. in Gießen: http://de.indymedia.org/node/3770
Vielleich ein Wort noch zum an anderer Stelle schon aufgetauchten Vorwurf, der Begriff Schwarzfahren sei rassistisch: In der Tat haben wir uns damit auseinandergesetzt, wo das Wort "Schwarzfahren" herkommt (gibt ja auch "Schwarzsehen" in Bezug auf GEZ usw.). Es hat NICHTS mit Hautfarben zu tun und nie etwas damit, dass bestimmten Menschen so etwas vorgeworfen wird. Wir haben uns daher entschlossen, deshalb gerade NICHT auf den Begriff zu verzichten, weil wir ja gerade DAMIT anerkennen würden, dass Schwarzfahren mit schwarzer Hautfarbe und der dümmlichen Erfindung, es gäbe überhaupt trennbare Rassen, etwas zu tun hat. Hat es nicht - und insofern ist eher der ständige Hinweis darauf eine rassistisch angehauchte Sache. Denn wer die Nutzung des Wortes kritisiert, denkt beim Wort Schwarzfahren an schwarze Hautfarbe.
Wichtig war uns zudem noch, verständlich zu sein. Politik heißt: Menschen erreichen, Fragen stellen, Denken verändern.
Im Übrigen, das sei auch noch angemerkt, besetzen wir den Begriff "Schwarzfahren" positiv und hoffen auf eine Aktionskultur des offensiven Schwarzfahrens. Mensch stelle sich vor, (fast) alle Schwarzfahrer_innen würden jetzt offen für Nulltarif werben - mit Schild, mit Flyern, mit Diskussion ... häufiger erwischt wird mensch dadurch ja auch nicht!
Genauerer Teilbericht von Aktionsanfahrt und Prozess in München
Hier der (chronologisch) erste Teil der Aktionsberichte zur großen Schwarzfahraktion:
Aktionsfahrt von Kempten nach München + Demo und Prozess in München
Lasst uns die Angst vor mehr Aktionen dieser Art wahr machen!
Freie Fahrt für freie Menschen! Für eine Welt ohne Kontrollen, Fahrkarten, Knäste und die ganze andere Scheiße!
Noch eine Aktion: 3.3. abends offensives Schwarzfahren in GÖ
Bericht und Hintergründe unter http://de.indymedia.org/node/3776
Und der letzte (?) Tag der Aktionsserie ... 5.3. in Gießen
Kurzer Prozess vor dem Landgericht: https://de.indymedia.org/node/3784
Teil 2 der Aktionsberichte: Fahrt nach Frankfurt
So, nun ist auch der chronologisch zweite Teil der 4 Aktionsberichte fertig.
Ihr findet ihn hier: http://de.indymedia.org/node/3761
Die Zusammenfassung aller Aktionstage
Hier: http://de.indymedia.org/node/3796