Hinter der rassistischen Polizeigewalt

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Rassistische Polizeigewalt entsteht nicht im luftleeren Raum. Hinter ihr steht ein perfides System der abgestuften Ausbeutung und Disziplinierung, das in letzter Instanz alle Lohnabhängigen trifft. Und zwar weltweit. Ein Beitrag von Laura Meschede.

Hinter der brutalen Polizeigewalt in den USA steht ein perfides System aus Zwangsarbeit, Ausbeutung und Sklaverei, das die USA besonders für schwarze (aber auch andere arme) Menschen etabliert haben.

Der 13. Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten verbietet Sklaverei – außer für Strafgefangene. Nach der offiziellen Abschaffung der Sklaverei konnten so verschiedene Staaten mit den sogenannten „Black Codes“ ihre Sklavenarbeiter*innen zum Weiterschuften zwingen. Die Black Codes stellten „Vagabundieren“ unter Strafe, zwangen Schwarze unter Strafandrohung, immer einen Job vorweisen zu können, begrenzten die Berufswahl für arme schwarze Menschen auf Feldarbeit und Bedienstetentätigkeiten und ähnliches – und garantierten so den Plantagen- und Minenbesitzer*innen, dass ihre Arbeitskräfte ihnen weiter Profite erwirtschaften würden.

Diese „Black Codes“ gibt es heute nicht mehr. Aber dafür gibt es ein Strafrecht, das darauf ausgelegt ist, arme Menschen einsperren zu können – um dann im Knast Profite mit ihnen zu machen. So kann man für den Besitz von fünf Gramm Crack bis zu fünf Jahre in den Knast kommen – von der Reichendroge Kokain muss man für eine solche Strafe 90 Gramm besitzen. (Und das ist noch die entschärfte Version: Die Strafen für Crackbesitz waren mal knapp 100 mal so hoch wie für Kokainbesitz, jetzt eben „nur noch“ 18 mal.)

Endlose Profite durch das Gefängnissystem

Dazu kommt: Gerichtsprozesse sind teuer. Fast alle Verurteilungen kommen deshalb zustande, ohne dass je die Schuld der Verurteilten geprüft worden wäre. „Plea bargaining“ nennt man diese Herangehensweise: Dem Menschen, der beschuldigt wird, ein Verbrechen begangen zu haben, wird angeboten, eine etwas geringere Strafe als die von der Staatsanwaltschaft geforderte Höchststrafe in Kauf zu nehmen und dafür auf eine Verhandlung zu verzichten. Weil Verhandlungen teuer sind und die Höchststrafe bedrohlich, nehmen knapp 97 Prozent aller strafrechtlich Beklagten diese Option an. Zahllose Untersuchungen zeigen, dass die Quote an Menschen, die damit „Verbrechen“ zugeben, die sie niemals begangen haben, schwindelerregend hoch ist. [1]

Sind die Leute dann – wahrscheinlich, weil sie sich keinen Prozess leisten konnten – mal im Gefängnis gelandet, gilt für sie also das Verbot der Sklaverei nicht mehr. Zahllose große Konzerne produzieren in amerikanischen Knästen. Immer wieder gibt es Berichte über Betriebe, die schließen mussten, weil sie nicht gegen die billigere Konkurrenz der Knastarbeit konkurrieren konnten – oder von Streikenden, die einfach durch Gefangene ersetzt werden. Wenn Strafgefangene sich weigern zu arbeiten, droht ihnen Isolationshaft – also Folter.

Es ist schwierig, Zahlen zu finden, die den Umfang der durch Zwangsarbeit in Knästen erwirtschafteten Profite greifbar machen würden. Aber sicher ist: Es wird eine Menge Geld mit dem großflächigen Einsperren von Menschen gemacht. Nicht nur, weil Gefangene für große Konzerne produzieren, sondern auch, weil Gefängnisse ideale Absatzmärkte sind. Sei es für Medizin, Sicherheitstechnik, Kleidung oder für Essen – einiges davon kann man sogar von den Gefangenen in Zwangsarbeit selbst herstellen lassen.

Die Privatisierung immer weiterer Teile der Gefängnis-Infrastruktur hat viele sehr profitable Märkte erschlossen. Deswegen gibt es eine große Lobby von Konzernen, die für immer höhere Strafen für Gefangene streiten.

In Verträgen mit privaten Betreibern von Gefängnissen verpflichten sich die Staaten für gewöhnlich, die Knäste stets belegt zu halten – unabhängig von der Kriminalitätsentwicklung. Das bedeutet: Wenn die Gerichte zu wenig Menschen ins Gefängnis schicken, müssen die Staaten Strafe zahlen. Und das wollen sie natürlich nicht.

In Statistiken kann man sehen, wie die Profite des amerikanischen Knastsystems die Zahl der Gefangenen in die Höhe getrieben haben. Heute sitzen über zwei Millionen Menschen in amerikanischen Knästen. Ein Heer aus Zwangsarbeiter*innen und unfreiwilligen Marktankurbler*innen – darunter weit überproportional People of Color.

Wofür dieses System?

Ich stelle mir vor, was es bedeutet, wenn man all das weiß und wenn dann ein Bulle kommt und einen sinnlos herumschubst. Man weiß: Dieser Typ sitzt am längeren Hebel. Wenn er mag, zeigt er mich einfach an. Unterstellt mir, ich hätte mich gewehrt. Zerstört vielleicht mein gesamtes Leben. „Der hat Widerstand geleistet“, ist auch in Deutschland die Standardantwort von Polizist*innen, wenn sie jemand wegen Gewalt anzeigt.

Andersrum weiß der Bulle: Unser Rechtssystem ist darauf ausgelegt, Leute einzusperren. Mit einer schwarzen Person kann ich eigentlich alles machen – denn wenn sie sich wehrt, kann ich sie für Jahre im Knast verschwinden lassen. Im Zweifel sag ich einfach: „Der hat sich gewehrt!“ Dann passiert mir auch vor Gericht nichts – wenn ich denn überhaupt vor Gericht muss. Auch nach dem brutalen Mord an George Floyd kam erst einmal die Debatte auf: „Hat er sich vielleicht gewehrt?“

Der brutale Rassismus der Bullen in Amerika konnte auch deswegen so lange so gut funktionieren, weil hinter ihm die Drohung auf ein Leben hinter Gittern steht. Und die brutale Zwangsarbeit des Knastsystems funktioniert deshalb so gut, weil man sie mit rassistischer Spaltung legitimieren kann.

Für die Herrschenden sind diese Mechanismen dringend nötig. Nach Schätzung des Landwirtschaftsministeriums haben mehr als 14 Millionen Haushalte in den USA Schwierigkeiten, ausreichend Nahrungsmittel für alle Familienmitglieder zusammenzubekommen. In ärmeren Gegenden sind inzwischen Darmparasiten – eine Krankheit, die eigentlich nur in den ärmsten Ländern der Welt vorkommt – weit verbreitet, weil tausende Menschen ohne Zugang zu fließendem Wasser oder zu Abwasserkanälen leben und deswegen gezwungen sind, ihre Scheiße direkt neben ihrem Haus zu entsorgen. Fast 40 Prozent aller US-Amerikaner*innen gaben in einer Umfrage der Zentralbank Federal Reserve an, eine unerwartete Rechnung von 400 Dollar nicht ohne weiteres (etwa nur durch Hilfe von Dritten oder Aufnahme eines Kredits) begleichen zu können, während allein eine Geburt für Menschen ohne Krankenversicherung zwischen 10.000 und 50.000 US-Dollar kostet. Und mehrere zehntausende Menschen sterben jedes Jahr an behandelbaren Krankheiten, weil ihnen das Geld für Medikamente fehlt. Man kann davon ausgehen, dass in den USA eine ziemlich große Zahl an Menschen regelmäßig vor der Wahl steht: Klauen oder sterben.

Aber die Menschen sollen nicht klauen, sie sollen arbeiten. Billig arbeiten. Selbst dann, wenn der Lohn für einen Vollzeit-Job nicht mal mehr für die Miete eines Zimmers reicht. Was übrigens gar nicht so selten vorkommt: Zwischen 15 und 45 Prozent der us-amerikanischen Obdachlosen gehen jeden Tag ganz normal zur Arbeit.

Um Menschen dazu zu zwingen, unter solchen Bedingungen weiter jeden Tag für die Profite eines anderen zu schuften, muss die Alternative furchterregend sein. Das Knastsystem in den USA schafft nicht nur billige Sklavenarbeitskräfte für jene Konzerne, die innerhalb der Gefängnisse produzieren. Es hält auch die riesige Masse an Arbeitskräften außerhalb der Mauern möglichst billig – und, vor allem, ruhig.

Die billigsten Arbeitskräfte in den USA sind Afroamerikaner*innen. Das Haushalts-Median-Vermögen in den USA – also die Menge an Geld, die jener Haushalt hat, der genau in der Mitte zwischen den reicheren und den ärmeren 50 Prozent liegt – beträgt für weiße Haushalte 171.000 US-Dollar. Bei den schwarzen Haushalten sind es 17.600 US-Dollar.

Das System der Ausbeutung der Menschen in den USA braucht die Spaltung durch den Rassismus ebenso, wie es das furchterregende Knastsystem mit seiner Sklavenarbeit und die brutalen Polizist*innen braucht.

Das Prinzip der abgestuften Ausbeutung greift weltweit

Der Grund, warum Staaten in ihrer praktischen Politik so erbittert rassistische Mechanismen verteidigen, ist, dass man mit ihnen eine Menge Geld machen kann. Nicht nur in den USA.

In Deutschland sind hunderttausende Menschen akut von Abschiebung bedroht. Sie müssen alle paar Monate ihre Duldung verlängern und leben in der ständigen Angst, demnächst im Flieger in ein Kriegsgebiet zu sitzen. Für viele ist der einzige Weg, ihren Aufenthalt zu sichern, ein Ausbildungsplatz – oder eine Festanstellung. Ich kenne dutzende junger Menschen, die in beschissen bezahlten Jobs arbeiten, um sich vor der Abschiebung zu retten. Die Drohung lautet hier: Billig arbeiten oder abgeschoben werden.

Gleichzeitig ist rassistische Spaltung auch in Deutschland eines der effektivsten Mittel, um unliebsame Gesetze durchzusetzen. Beispielsweise im Bereich der Überwachung: Weil zentrale Datenbanken die technologische Grundlage für Totalüberwachung bieten, werden diese von Datenschützer*innen intensiv bekämpft. Als vor einigen Jahren die erste zentrale Datenbank in Deutschland geschaffen wurde, wurde dennoch kaum protestiert. Denn die Datenbank galt nur für Geflüchtete. An ihnen konnte man so jahrelang erproben, was jetzt schrittweise auch für die passdeutsche Bevölkerung eingeführt wird.

Der umstrittene Lügendetektor, an dessen Entwicklung die EU aktuell arbeitet, wurde zunächst an den Grenzen getestet und hat es so nie zu großer Bekanntheit gebracht. Und der zeitlich unbegrenzte Präventivgewahrsam, mit dem die bayerische Polizei Menschen ins Gefängnis sperren kann, ohne dass sie ein Verbrechen begangen hätten, wurde bereits dutzende Male angewandt, ohne größere Aufmerksamkeit zu erregen. Denn: Eingesperrt wurden fast ausschließlich Geflüchtete.

Diejenigen, die jetzt zu den Aufständen in den USA aber auch zu der Situation der Geflüchteten und hunderttausenden Passlosen in Deutschland keine klare Position beziehen, weil sie „ausgewogen“ bleiben wollen, die unterstützen damit nicht nur das unendliche Leid, das der Rassismus bedeutet – sie stützen auch das System der abgestuften Ausbeutung und Disziplinierung, das letzten Endes jede arbeitende Person trifft. Weltweit. Gewissermaßen ist es ein bitterer Zynismus, dass die schwarze Community in den USA aktuell indirekt auch für eine Verbesserung der Lage vieler weißer Rassist*innen kämpft.

Es bleibt zu hoffen, dass auch hierzulande irgendwann die Erkenntnis ankommt, dass es beispielsweise bei der Diskussion um das Bleiberecht von Geflüchteten nicht nur um Moral geht, sondern um ein prinzipielles Interesse aller lohnabhängigen Menschen: sich jenen Spaltungsversuchen entgegenzustellen, die, wo sie durchgesetzt werden können, die Lage aller arbeitenden Menschen verschlechtern.

Solidarität mit den Kämpfen der Unterdrückten in den USA und weltweit!


Anmerkung:

[1] Theoretisch bekommt man in den USA als Beschuldigte*r in einem Kriminalverfahren einen Anwalt gestellt, wenn man zu wenig Geld hat, um selbst einen zu zahlen. Aber zum einen muss man dafür nachweisen, dass das Haushaltseinkommen auf oder unter der Armutsgrenze liegt, was dazu führt, dass sehr viele Menschen, denen der Nachweis nicht gelingt oder deren Verdienst knapp über der Armutsgrenze liegt, durch das Raster fallen. Und zum anderen sind die staatlichen Anwälte vollkommen überlastet, was dazu führt, dass sie sich a) nicht wirklich um ihre Fälle kümmern können und sehr schnell zum „plea bargaining“ raten und b) dass man oft ewig darauf warten muss, einen zu bekommen – und warten muss man häufig im Knast. Deswegen saßen beispielsweise in den USA 2015 eine halbe Million Menschen bereits seit einem Jahr im Gefängnis, ohne dass je über ihre Schuld oder Unschuld entschieden worden wäre.

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