Interkiezionale Statement zur aktuellen Lage
"Zuerst ändern sich Sachen, die sich innerhalb von 20 Jahren nicht verändert haben, innerhalb von Jahren, dann innerhalb eines Jahres, dann innerhalb von Monaten, schließlich innerhalb von Tagen und Stunden. Zum Schluss sogar innerhalb von Sekunden.“
Wolfgang Rüddenklau zum Thema Zeitablauf während einer Revolution.
*english below*
Wir erleben eine revolutionäre Situation: In Europa werden im Stundentakt die freiheitlichen Grundrechte außer Kraft gesetzt. Eine öffentliche Diskussion darüber findet praktisch nicht statt. Wer die drastischen Maßnahmen kritisch hinterfragt gilt bestenfalls als Idiot, im schlimmsten Fall als Verräter der „nationalen Gesundheit“. Gehorsam gegenüber den Autoritäten wird zur allerhöchsten Bürgerpflicht, alles im Sinne der gefährdeten „Alten und Kranken“.
Ebenjene Autoritäten spucken seit Jahren auf die Alten, viele Rentner*innen müssen zusätzlich arbeiten, Flaschen sammeln, bei der Tafel ihre Lebensmittel organisieren. Sie werden aus ihren Wohnungen zwangsgeräumt und von Ämtern gegängelt.
Ebenjene Autoritäten spucken seit Jahren auf die Kranken, sie errichteten eine Zwei-Klassenmedizin, sie diskutieren die Schließung von einem erheblichen Anteil an Kliniken, sie machten die Arbeitsbedingungen von Krankenpfleger*innen zur Hölle.
Vor diesem Hintergrund halten wir die kritische Beobachtung und Analyse der Situation für unerlässlich. Als radikale Linke sind wir uns unserer Verantwortung bewusst. Verantwortung für die Gesundheit, aber auch Verantwortung für die Freiheit und das Leben.
Viele der aktuellen Maßnahmen sind sinnvoll und sollten eingehalten werden. Die nachbarschaftliche Solidarität muss ausgebaut werden. Wir müssen Obdachlosen helfen, ob durch vermehrtes Spenden, durch Verteilen von Lebensmitteln, durch anbieten eines solidarischen Schlafplatzes oder durch Aufbrechen des nächstgelegenen AirBnB Appartements zum sicheren Rückzug für ein paar Stunden.
Wir müssen Alten helfen, ihnen Lebensmittel kontaktlos besorgen, ihnen bei finanziellen Engpässen aushelfen und ihnen soziale Kontaktmöglichkeiten eröffnen.
Gleichzeitig sollten wir nicht vergessen, dass wir uns Gesundheit und Freiheit für alle Menschen wünschen. Das bedeutet auch für Menschen in Knästen und Geflüchtetenunterkünften, welche aktuell noch mehr abgeriegelt und medizinisch schlecht versorgt werden. Das bedeutet auch für Menschen in den Camps an den abgeriegelten Außengrenzen Europas, welche derzeit auch medizinisch sich selbst überlassen werden.
Gemeinsam sind wir handlungsfähig. Deswegen müssen wir gegen den Ausnahmezustand und die forcierte soziale Isolation vorgehen.
Daher fordern wir:
1. Abschaffung aller Räumungen
2. Die Berliner Linie abschaffen
3. Aussetzung der Mietzahlung
4. Keine Strom und Gassperren
5. Beschlagnahmungvon AirBnB Wohnungen und Leerstand für wohnungslose Menschen und Menschen aus Sammelunterkünften
6. Auflösung aller Sammelunterkünfte
7. Sofortige finanzielle Unterstützung für Menschen, die ihre (entgarantierten, prekären und schlecht bezahlten) Jobs verloren haben
8. Keine Ausgangssperre
Sollten diese Forderungen nicht erfüllt werden, nehmen wir es selbst in die Hand!
Die aktuelle Situation stellt uns alle vor Herausforderungen, die herrschende Ordnung jedoch auch. Und wenn diese wankt, sollten wir nicht zögern ihr ein Bein zu stellen. Wenn wir geschickt handeln können wir die Situation dazu nutzen das Ruder, das uns als radikale Linke zunehmend davonschwimmt, in die Hand zu bekommen und den kapitalistischen Wahnsinn in eine Welt der Solidarität und Selbstorganisation zu überführen!
P.S: Tag X 17.04! Wir werden trotzdem kommen und das Syndikat verteidigen, wenn die Zurückhaltung nur einseitig stattfinden soll und Bullen und Gerichtsvollzieher*innen weiterhin Narrenfreiheit haben!
[ENG]
Interkiezionale Statement on the current situation
"First things that have not changed in 20 years change within years, then within a year, then within months, then within days and hours. Finally, even within seconds."
Wolfgang Rüddenklau on the passage of time during a revolution.
We are experiencing a revolutionary situation: In Europe, fundamental rights of freedom are being suspended every hour. There is practically no public discussion about this. Anyone who critically questions the drastic measures is considered an idiot at best, at worst a traitor to "national health". Obedience to the authorities becomes the supreme civic duty, all in the interests of the endangered "old and sick".
Those same authorities have been spitting on the elderly for years, many pensioners have to work additionally, collect bottles, organize their food at the table. They are evicted from their homes by force and bullied by authorities.
The same authorities have been spitting on the sick for years, they have set up a two-tier system of medicine, they discuss the closure of a significant number of clinics, they have made the working conditions of nurses hell.
Against this background, we consider critical observation and analysis of the situation to be essential. As radical leftists we are aware of our responsibility. Responsibility for health, but also responsibility for freedom and life.
Many of the current measures are sensible and should be adhered to. Neighbourly solidarity must be developed. We must help the homeless, whether by increasing donations, distributing food, offering a solidary place to sleep or by leavin the nearest AirBnB apartment for a safe retreat for a few hours.
We have to help the elderly, get food for them without contact, help them out with financial shortages and offer them social contact opportunities.
At the same time we should not forget that we want health and freedom for all people. This also means for people in prisons and refugee shelters, which are currently being sealed off even more and are receiving poor medical care. This also means for people in the camps on the sealed-off external borders of Europe, who are currently medically left to their own fate.
Together we are capable of acting. That is why we must take action against the state of emergency and the forced social isolation.
That is why we demand:
1. abolition of all evictions
2. abolish the Berlin line
3. suspension from rent payments
4. no electricity and gas barriers
5. confiscation of all emptyand AirBnB dwellings for homeless people and people from collective accommodation
6. dissolution of all Sammelunterkünfte
7. immediate financial support for people who have lost their jobs (which were guaranteed, precarious and poorly paid)
8. no curfew
If these requirements are not met, we take the reins of the action into our own hands!
The current situation presents us all with challenges, but so does the prevailing order. And if this order is shaky, we should not hesitate to trip it up. If we act skilfully, we can use the situation to take control of the rudder that, as the radical left, is increasingly slipping away from us and to transform the capitalist madness into a world of solidarity and self-organization.
P.S: Day X 17.04! We will still come and defend Syndikat, as long as the current restraint is only one-sided and cops and bailiffs can still go business as usual on rampage!
Ergänzungen
Für eine andere Perspektive der Solidarität
"Wir erleben eine revolutionäre Situation". Also keine Ahnung wie die Situation in der Rigaer Straße ist. Woanders ist (leider) noch keine Revolution ausgebrochen. Da wird noch eingekauft, zum Bäcker gegangen, fürs Kurzarbeitsgeld angestanden und werden brav Steuern gezahlt. Nur mal als Feedback, bevor zur Besetzung des Regierungsviertels und der Fernsehsender aufgerufen wird.
Was wir erleben ist keine Revolution, auch kein Umbruch von oben der bürgerlichen Gesellschaftsordnung - was ihr vermutlich eigentlich meint - sondern lediglich eine temporäre kapitalistische Krise. Die gab es, gibt es und wird es immer mal geben. Die Krise ist Systemimmanent. Und es ist nicht immer hilfreich für die radikale Linke da mit Volldampf-Phatos in die neoliberale Lamentiererei mit einzusteigen. Ab 2022 ist vermutlich wieder Business as usual angesagt.
Jetzt revolutionäre Zeiten auszufrufen geht an den Realitäten der Menschen vorbei. Das ist ein Avantgardismus aus einer eigenen Bubble heraus, der große Teile der Gesellschaft, der Nachbar*innen und ihre Probleme und Bedürfnisse nicht mehr als eigenständige, autonome Akteur*innen wahrnimmt, sondern nur noch als Projektion von eigenen vorrevolutionären Sehnsüchten.
Interessant ist dabei die inhaltliche Schnittmenge von Teilen des anarchistischen Spektrums mit rechtspopulistischen und neoliberalen Akteuer*innen in der Positionierung gegen medizinisch und virologisch begründete Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen.
Nicht nur Teile der anarchistischen Bewegung drängen auf die Aufhebungen der aktuellen Ausgangsbeschränkungen, sondern weit einflussreicher auch Unternehmerverbände und politische Funktionäre der Rechten. Figuren wie Trump und Bolsonaro geben hierbei den Kurs vor. In Brasilien hat dies dazu geführt, dass sich nun Gangs in den Favelas von Rio für Ausgangssperren und Distanz ausgesprochen haben. Sie empfehlen den Bewohner*innen und ihren Nachbar*innen zu Hause zu bleiben und nicht zur Arbeit zu gehen, um zu überleben und die Pandemie einzudämmen: "If the gouvernment do the right thing, organised crime will." Brasilien hat ein extrem schlechtes Gesundheitssystem und in den Favelas besteht aufgrund der Enge ein hohes Ansteckungsrisiko.
Eine libertäre Linke, die wie liberale Unternehmensverbände, eine Aufhebung von Ausgangsbeschränkungen in dieser Phase der Pandemie fordert, handelt alles andere als "geschickt". Sie bietet stattdessen offene Flanken für rechtspopulistische Leugnungsdiskurse und kapitalistische Normalisierungsbestrebungen auf Kosten von Beschäftigten - damit der Laden wie gewohnt läuft. Die rebellische Seite ist die Seite der Armen, der Kranken, der Geflüchteten, der Illegalisierten und in diesem Falle der Gangs of Rio, die einen Shut down fordern. Dies erfordert aber eine andere Perspektive in der Solidaritätsarbeit.
If the government won't do the right thing, organised crime will
Da hat sich ein für den Sinnzusammenhang bedeutsames won't herausgeschlichen.