Gekürzte Landesliste: Verschwörung des Staates oder Versagen der AfD?
Die sächsische AfD durfte 2019 nicht mit allen Kandidat*innen zur Landtagswahl antreten und büßte deshalb ein Mandat ein. Wie kam es dazu? Die Partei wittert ein Komplott von höchster Stelle und hat einen Untersuchungsausschuss eingesetzt. Doch womöglich hat sie einfach selbst versagt. Das legen Unterlagen nahe, die idas einsehen konnte.
Nein, Jörg Urban ist kein Mann großer Worte, zumindest kein glänzender Redner. Das unterscheidet ihn, der die AfD in Sachsen und deren Fraktion im Landtag anführt, von Parteifreunden wie Björn Höcke in Thüringen und Andreas Kalbitz in Brandenburg. Aber diese eine Rede hatte es in sich. Urban richtete sie an die „lieben Freunde der Demokratie“, die im Oktober vergangenen Jahres vor ihm saßen, im neu gewählten Landtag in Dresden.
„Nie zuvor in der Bundesrepublik…“
Das Parlament war an diesem Tag die große Bühne der AfD, die kurz zuvor ein Rekordergebnis eingefahren hatte und seitdem mit 38 Abgeordneten die zweitstärkste Fraktion ist, stärker als irgendwo sonst. Ihre neue Macht kostete die AfD sofort aus und rief die Landtagsmitglieder zu einer Sondersitzung zusammen. Urban kam dabei schnell zum Punkt:
„Wenn sich nur ein Teil dessen beweisen lässt, was wir heute vermuten müssen, war die Barschel-Affäre im Vergleich dazu ein laues Lüftchen. Nie zuvor in der Bundesrepublik Deutschland ist die Demokratie in einer solchen Dimension angegriffen worden.“
Unruhe, Zwischenrufe, Wortgefechte. Selten wurde es so laut im Parlament, denn selten wurde etwas so Unglaubliches behauptet. „Ich staune, wie trocken Sie diesen Schwachsinn hier vortragen“, entgegnete der CDU-Abgeordnete Stephan Meyer. Der Fraktionschef der Linken, Rico Gebhardt, sprach von einer „peinlichen Nummer“ und fragte, „wie viel man eigentlich nehmen muss, um so einen Quark im Kopf zusammenzubekommen.“ Valentin Lippmann, Innenpolitiker der Grünen, nannte Urbans Darstellung „absurd“ und fragte ironisch, „welche Rolle in diesem ganzen Geschehen der Bundespräsident, der Papst oder vielleicht das Krümelmonster gespielt haben könnten.“
Die Barschel-Affäre, muss man wissen, war einer der großen Politskandale der alten Bundesrepublik. Im Jahr 1987 hatte der CDU-Politiker Uwe Barschel, damals Ministerpräsidenten Schleswig-Holsteins, seinen SPD-Herausforderer Björn Engholm bespitzeln und diskreditieren lassen, ein schmutziger Wahlkampf, wie man heute sagt. In die Mediengeschichte ging eine Pressekonferenz Barschels ein, bei der er alle Vorwürfe zurückwies und darauf sein Ehrenwort gab, das ihm niemand abnahm. Eine Woche später trat er zurück. Und noch ein paar Tage darauf lag er tot in der Badewanne eines Genfer Hotelzimmers.
Landesliste wurde gekürzt
Glaubt man Urban, dann ist in Sachsen etwas noch viel Einschneidenderes passiert: Im Vorfeld des Landtagswahljahres soll das Innenministerium gezielt eine CDU-Frau namens Carolin Schreck an die Spitze des Statistisches Landesamtes gehievt haben. Als Präsidentin dieses Amtes nahm sie zugleich die Funktion der Landeswahlleiterin wahr. Deren Aufgabe ist es, die Wahlvorschläge der einzelnen Parteien, die zur Landtagswahl mit einer Landesliste antreten wollen, entgegenzunehmen und auf Korrektheit prüfen. Frau Schreck soll dabei die ganz spezielle Zusatzaufgabe gehabt haben, die AfD von der Landtagswahl auszuschließen. Und das Innenministerium soll sie – angeblich gemeinsam mit „einem noch unbekannten Beamten des Kanzleramts“ – so lange „bearbeitet“ haben, bis sie spurt. Der Ministerpräsident persönlich habe das so gewollt.
Das letzte Wort bei der Listenzulassung hat der sogenannte Landeswahlausschuss. Ihm sitzt die Landeswahlleiterin vor, hinzu kommen sechs Beisitzer*innen verschiedener Parlamentsparteien. Das Gremium prüft, ob bei den Nominierungen alles mit rechten Dingen zugegangen ist, ob alles den Wahlgesetzen entspricht. Es stimmt untereinander ab und lässt die Wahlvorschläge ganz, teilweise oder gar nicht zu. Nur, was den Landeswahlausschuss passiert hat, kann am Ende auf einem Wahlzettel angekreuzt werden.
Die AfD glaubt, dass Frau Schreck „Geheimberatungen“ mit den Beisitzer*innen durchführte, um ihnen einzubläuen, gegen die AfD zu entscheiden. Daran ist zumindest so viel wahr, dass tatsächlich eine Entscheidung zustande kam, mit der man bei der AfD nicht gerechnet hatte: Wegen schwerer Mängel bei der Aufstellung der Kandidat*innen ließ der Landeswahlausschuss nur 18 von ihnen zu. Die Partei wollte aber mit 61 Leuten ins Rennen gehen.
Die AfD behauptet, dass es solche Mängel gar nicht gab, dass sie völlig unverschuldet das Opfer einer versuchten Wahlfälschung geworden sei, einer großen politischen Intrige. Ein Angriff auf die Demokratie eben, eine Ungeheuerlichkeit wie der Fall Barschel. Dass ganz kurz vor der Landtagswahl das sächsische Verfassungsgericht eingeschritten ist, die Entscheidung des Landeswahlausschusses teilweise korrigierte und der AfD immerhin 30 Kandidierende zubilligte, nimmt man als Beleg dafür, vorher ungerecht behandelt worden zu sein. Am Ende war zwar niemand tot. Weil aber die Landesliste gekappt war, konnte die AfD nach der Landtagswahl ein Mandat, das ihr eigentlich zugestanden hätte, nicht besetzen.
AfD hat die „Schuldigen“ schon verurteilt
Bis heute besteht die AfD darauf, keine Fehler gemacht, sondern es mit bösen Mächten zu tun zu haben. Um wen es sich dabei handelt, wer die „Verursachungsbeiträge“ leistete, will die Fraktion mit einem Untersuchungsausschuss aufklären. Er hat den sperrigen Titel „Verstrickungen der Staatsregierung in die ‚qualifiziert rechtswidrige‘ Kürzung der AfD-Landesliste“. Nach Urbans Rede setzte ihn der Landtag wie gewünscht ein. Das Gremium soll in den kommenden Jahren anhand einer vollwertigen Verschwörungs-Konstruktion einigen Phantomen nachjagen, von denen sich die Partei schikaniert fühlt. Verweigern konnte sich das Parlament nicht. Für die Einrichtung des Ausschusses genügt die Zustimmung eines Fünftels der Abgeordneten, und die hat die AfD schon aus eigener Kraft locker beisammen.
Mit ihrer zeitigen Initiative so kurz nach der Wahl hat sie das Parlament noch dazu erfolgreich überrumpelt. Denn für gewöhnlich werden Anträge, einen Untersuchungsausschuss einzurichten, nicht sofort abgestimmt, sondern erst einmal in den Rechtsausschuss überwiesen. Der kann erörtern, ob der Antrag zulässig ist, ob er sich im vorgeschriebenen Rahmen bewegt, und er kann den fachkundigen Rat der Landtags-Jurist*innen einholen.
Womöglich hätten sie Einwände dagegen gehabt, dass der Antrag nicht nur Fragen aufzählt, die der Ausschuss beantworten soll, wie etwa: warum die Landesliste gekürzt wurde und ob die Landesregierung auf diese Entscheidung einen unlauteren Einfluss nahm. Sondern der Text benennt bereits „Schuldige“, unter anderem den Ministerpräsidenten und den Innenminister, einen Staatssekretär, die Landeswahlleiterin und die Beisitzer*innen aus dem Landeswahlausschuss. Als wäre ein Urteil gefällt worden, als ginge es nur noch darum, ein Strafmaß festzusetzen. Dafür ist ein Untersuchungsausschuss aber nicht gedacht.
Ausgerechnet in diesem speziellen Fall hat niemand die Landtags-Jurist*innen um rechtlichen Rat gefragt. Als Urban vor die Abgeordneten des frisch gewählten Landtages trat, hatten die nämlich noch keinen Rechtsausschuss eingerichtet. Sie mussten den Antrag nehmen, wie er ist, und durchwinken. Das Parlament kommt aus der Nummer nicht mehr raus, denn einmal abgestimmt, ist der Ausschuss in der Welt und an den beschlossenen AfD-Antrag gebunden. Das Gremium muss ihn nun als sogenannten Untersuchungsauftrag Stück für Stück abarbeiten. Und die AfD kann sich der weitgehenden Befugnisse bedienen, die so ein Ausschuss hat: Er kann Zeug*innen vorladen und zwingen, Fragen zu beantworten, und er kann Behörden verpflichten, Akten herauszurücken.
Ausschuss kommt bislang nicht voran
Dem Untersuchungsausschuss gehören 18 Mitglieder an. Sechs davon kommen von der AfD-Fraktion – und alle von ihnen waren in die Vorgänge, die sie untersuchen wollen, in irgendeiner Weise selbst verwickelt. Gut möglich, dass sie selbst in den Zeugenstand gerufen werden. So etwas wie Befangenheit gibt es in einem Untersuchungsausschuss nicht.
Mit Carsten Hütter stellt die AfD sogar den stellvertretenden Vorsitzenden. Hütter war bereits in der vergangenen Wahlperiode im NSU-Untersuchungsausschuss dabei gewesen. Durch besonderen Arbeitseifer fiel er dort nicht auf, zum Schluss legte die AfD-Fraktion nicht einmal ein eigenes Votum vor, wie es üblich ist im parlamentarischen Betrieb. Die AfD hätte genauso gut nicht dabei sein können und es wäre niemandem aufgefallen. Ausgerechnet diese AfD will jetzt die Speerspitze der Aufklärung sein?
Davon ist auch bislang noch nichts zu spüren. Seit mehr als vier Monaten gibt es den Untersuchungsausschuss jetzt, doch in die Beweisaufnahme ist er immer noch nicht eingetreten. Mehrfach trafen sich die Obleute der Fraktionen und diskutierten über das weitere Vorgehen, vor zwei Wochen fand hinter verschlossenen Türen die zweite offizielle Sitzung statt. Dort ließ sich Hütter überhaupt zum ersten Mal blicken.
AfD besteht auf Vereidigung von Zeug*innen
Dass das Gremium nicht in die Gänge kommt, liegt an der AfD. Sie verzögerte mit Änderungsanträgen, dass der Ausschuss sich auf Verfahrensgrundsätze einigt, auf interne Spielregeln, die einen geordneten Ablauf ermöglichen sollen. Nach fruchtlosen Diskussionen zog die AfD ihre Änderungswünsche inzwischen wieder zurück. In einem Punkt bleibt sie bislang hartnäckig: Untersuchungsausschüsse dürfen Zeug*innen keinen Eid mehr abnehmen, so will es der Bundesgesetzgeber. Zwar sind willentliche Falschaussagen nach wie vor strafbar. Eines Meineids, für den ein erweiterter Strafrahmen gilt, kann sich aber niemand mehr schuldig machen. Das sieht die AfD nicht ein und will, dass Zeug*innen trotzdem einen Eid schwören müssen, wenn sie es verlangt.
Es handelt sich um ein Druckmittel gegen widerspenstige Zeug*innen, auf das man nicht verzichten möchte. Doch schon in früheren Untersuchungsausschüssen waren Vereidigungen ziemlich bedeutungslos. Erfahrungsgemäß führt ein Eid nicht dazu, dass strittige Aussagen „besser“ werden – wer etwas zurückhalten möchte, lässt sich dadurch nicht schrecken. Aussagen unter Eid gewinnen sogar an Gewicht, ein widersinniger Effekt, wenn es sich um Behauptungen handelt, an denen Zweifel besteht. Doch die AfD dreht an der Eskalationsschraube und droht, diese Frage vor dem sächsischen Verfassungsgericht klären zu lassen. Bei der jüngsten Sitzung hat der Abgeordnete Roland Ulbrich das noch einmal bekräftigt. Womöglich, so kann man den Volljuristen Ulbrich verstehen, gelten Bundesgesetze ja nicht für Sachsen.
So lange sich der Ausschuss nicht geeinigt hat, steht er praktisch still. Es gibt auf den Landtagsfluren unterschiedliche Deutungen, warum die AfD erst großes Tempo vorlegte, das Gremium einzusetzen, nur um jetzt so entschlossen auf die Bremse zu treten. Unvermögen oder Kalkül? Möglicherweise gibt es ein Interesse daran, die Hauptlast der Arbeit auf das nächste Jahr zu schieben – wenn der Bundestag gewählt wird und sich das Thema im Wahlkampf benutzen lässt. Man hatte es schon einmal, kurz vor der Landtagswahl im vergangenen Jahr, erfolgreich ausgeschlachtet.
Komplizierte Listenaufstellung
Aber das könnte für die AfD nach hinten losgehen, falls ihre große Verschwörungs-Konstruktion in sich zusammenfällt. Falls sich zeigt, dass es so etwas wie einen Komplott, um sie vor der Landtagswahl zu beschädigen, gar nicht gab. Falls erkennbar wird, dass die Partei die wesentlichen „Verursachungsbeiträge“, die der Untersuchungsausschuss ergründen soll, selbst geleistet hat. Dafür gibt es ernstzunehmende Hinweise. Sie ergeben sich anhand von Originalunterlagen der AfD, in die idas Einsicht nehmen konnte und die eine völlig andere Geschichte erzählen als das, was die Partei offiziell verbreitet und was ihre Fraktion dem Landtag in Form des Untersuchungsausschusses untergejubelt hat.
Diese andere Geschichte ist nicht unbedingt spektakulär, aber kompliziert, und sie geht so: Am 8. Februar 2019 begann in vogtländischen Markneukirchen der 12. Landesparteitag der sächsischen AfD. Der Hauptpunkt des dreitägigen Treffens war die sogenannte Aufstellungsversammlung, wie es im Wahlgesetz heißt – also die Auswahl der Kandidierenden, die später bei der Landtagswahl ins Parlament einziehen könnten, ja nachdem, wie viele Zweitstimmen die Partei am Wahltag erhält. Beim Parteitag beschlossen die mehr als 500 anwesenden Mitglieder, insgesamt 61 Kandidierende auf ihre Landesliste aufzunehmen. Die Zahl hat Symbolkraft: Um so viele Sitze im Parlament zu bekommen, müsste die Partei mehr als 50 Prozent der Zweitstimmen absahnen. Tatsächlich war es das erklärte Ziel gewesen, die CDU landesweit zu überholen, stärkste Fraktion zu werden und dann erstmals eine Regierung zu bilden.
Sämtliche 61 Listenplätze sollten, das beschlossen die Mitglieder zu Beginn, in einem Einzelwahlverfahren bestimmt werden. Die Folge dieses zeitraubenden Vorgehens war, dass während des dreitägigen Parteitags nur 18 Listenplätze belegt werden konnten, nicht mal ein Drittel dessen, was man schaffen wollte. Es blieb nichts anderes übrig, als den Rest der Landesliste später zu wählen. Das ist an sich kein Problem, so lange die formalen Vorgaben des Wahlgesetzes eingehalten werden. Es sieht unter anderem vor, dass eine sogenannte Vertrauensperson und eine Stellvertreter*in gewählt werden müssen. Deren Aufgabe ist es, die Landesliste später der Landeswahlleitung vorzulegen und zu reagieren, falls Mängel festgestellt werden.
Darüber hinaus wurden beim Parteitag – auch das ist Pflichtprogramm – zwei sogenannte Zeug*innen an Eides statt gewählt. Sie bürgen dafür, dass die gesamte Aufstellungsversammlung so ablief, wie es das Gesetz vorsieht und wie es im Parteitagsprotokoll dargestellt wird. Dem Protokoll zufolge, das idas einsehen konnte, lief bis hierher alles korrekt ab.
Verstoß gegen die eigene Wahlordnung
Am 15. März 2019, also fünf Wochen später, wollte die AfD die Listenaufstellung bei einem weiteren, dem 13. Landesparteitag fortsetzen. Und damit begannen, vermutlich ohne dass es die AfD sofort mitbekam, die Probleme. Die Aufstellungsversammlung war zuvor zwar unterbrochen worden. Aber jetzt stieg man nicht wieder an dem Punkt ein, an dem der 12. Landesparteitag aufgehört hatte. Sondern man begann anhand einer neuen Tagesordnung wieder ganz von vorn. Man wählte neue, andere Vertrauenspersonen und neue, andere Zeug*innen an Eides statt. Auch die komplette Versammlungsleitung lag nun in anderen Händen. Es gibt viele Merkmale, die dafür sprechen, dass die AfD ihre Aufstellung nicht einfach fortgesetzt hat, sondern in eine völlig neue Tagung eingestiegen ist. Ein Patzer, den alle anderen Parteien, die zu Wahlen antreten, tunlichst vermeiden.
Die AfD machte einen weiteren, gravierenden Fehler, der nicht nur die Formalien betrifft. Denn anders als es zuvor festgelegt worden war, wurde plötzlich vereinbart, dass der zweite Teil der Landesliste, die Plätze 31 bis 61, in einem zeitsparenden Gruppenwahlverfahren bestimmt werden soll. Zwar dürfen unterschiedliche Wahlverfahren angewandt und auch kombiniert werden. Voraussetzung ist aber, dass das Prozedere von Anfang an feststeht und dann nicht mehr geändert wird, um nicht die Chancengleichheit von Bewerber*innen zu beeinträchtigen. Aber genau das ist passiert – obwohl sogar die offizielle Wahlordnung der AfD dieses Vorgehen verbietet. Es heißt darin sinngemäß, dass das Wahlverfahren vor Beginn der Listenaufstellung festgelegt sein muss.
Immerhin wurde die AfD mit ihrer Listenaufstellung für die Landtagswahl fertig. Sie würde der Höhepunkt des Superwahljahres 2019 sein und lag noch recht weit in der Zukunft. Vorher, Ende Mai, fanden die Kommunal- und die Europawahl statt. Erst, als sie vorüber waren, kam die sächsische AfD auf ihre Landesliste zurück. Mit dem Abhalten der beiden Parteitage war es nämlich noch nicht getan: Die Landeswahlleitung verlangt den Parteien eine sorgsame Dokumentation ab, um prüfen zu können, ob alle wahlrechtlichen Bestimmungen beachtet wurden. Daher müssen der Verlauf der Aufstellungsversammlung und dessen Ergebnis – die eigentliche Landesliste – in Formularen dargelegt werden. Diese Unterlagen wurden bei der AfD am 1. Juni ausgefüllt, geschlagene zweieinhalb Monate nach der Listenaufstellung.
Und hier patzte die AfD ein weiteres Mal: Sie füllte die entscheidenden Blätter doppelt aus. Die Partei erzeugte zwei Niederschriften über die Aufstellungsversammlung sowie zwei Dokumentationen über die Landesliste. Ein Teil der Dokumente bezog sich auf den 12. Landesparteitag und die ersten 18 Listenplätze, ein anderer Teil auf den 13. Landesparteitag und alle restlichen Kandidierenden. Zu allem Überfluss gab es unterschiedliche Vertrauenspersonen und unterschiedliche Zeug*innen. Alles war zweimal vorhanden. Mit anderen Worten dokumentierte die Partei akribisch, dass sie zwei getrennte Aufstellungsversammlungen durchgeführt und dabei zwei Landeslisten aufgestellt hat. Zwar pochte die AfD in der Folgezeit darauf, dass beide Landeslisten als zwei Teile einer Gesamtliste zu verstehen seien. Aber: Die Parteibasis hat den Protokollen der beiden Parteitage zufolge niemals über die gesamte, 61 Plätze umfassende Landesliste abgestimmt.
Unterlagen der Partei waren mangelhaft
Das alles war weit entfernt von den üblichen demokratischen Standards, die bei der Vorbereitung von Wahlen gelten, die eine strenge Form haben und denen alle Parteien gleichermaßen unterworfen sind, um niemanden zu bevorzugen oder zu benachteiligen. Es spricht rückblickend einiges dafür, dass die AfD von ihren Problemen immer noch nichts wusste. Sie ließ sich nämlich nochmal anderthalb Wochen Zeit, bis sie ihre Unterlagen bei der Landeswahlleitung einreichte. Das geschah am 18. Juni 2019, nur neun Tage vor Abgabeschluss.
Die Unterlagen wurden sofort beanstandet. Denn statt einer einheitlichen Landesliste, auf die es ankommt, legte die AfD zwei verschiedene Listen vor, die möglicherweise nicht ordnungsgemäß aufgestellt wurden. Zu zwei Kandidierenden auf den hinteren Listenplätzen fehlten eine obligatorische Zustimmungserklärung und eine Wählbarkeitsbescheinigung. Mehrere Dokumente waren zudem nicht ordentlich unterschrieben. Es war ein großes Chaos.
Am Folgetag verfasste die Landeswahlleiterin Carolin Schreck ein ausführliches „Mängelschreiben“ an die AfD, in der sie leicht verständlich aufschlüsselte, was alles nicht stimmt, und zu dem Schluss kam, dass „die von Ihrer Partei eingereichte Landesliste mangelhaft ist“. Die AfD musste eilig nachbessern – oder riskieren, nicht zur Landtagswahl zugelassen zu werden. Doch weil sie so lange mit der Abgabe der Unterlagen gewartet hatte, konnte die Partei nicht mehr viel unternehmen.
Der Königsweg wäre gewesen, erneut einen Landesparteitag einzuberufen und diesmal alles richtig zu machen, alle wahlgesetzlichen Regelungen zu beachten. So war es zwei Jahre zuvor gewesen, als die sächsische AfD ihre Landesliste zur Bundestagswahl 2017 aufstellen wollte. Auch damals hatte sie das nicht in einem Rutsch geschafft, sondern musste die Auswahl ihrer Bewerber*innen auf mehrere Parteitage aufsplitten. Parteiintern waren noch einige zusätzliche Fehler aufgefallen. Daraufhin holte man sich zeitnah Rat bei der Landeswahlleitung und erfuhr dort, dass bei strenger Auslegung der Wahlgesetze ein Ausschluss von der Bundestagswahl droht. Also traf sich die Partei – der Zeitplan ließ das locker zu – zu einem neuen Parteitag, begann mit der Aufstellung von vorn und lieferte eine Landesliste ab, an der nichts zu beanstanden war und die ohne Weiteres zugelassen wurde.
Doch jetzt, zwei Jahre später, blieb für eine Wiederholung der Listenaufstellung zur Landtagswahl keine Zeit mehr. Einen Rat der Landeswahlleitung holte man nicht rechtzeitig ein, obwohl den Parteien – auch der AfD – dort umfangreiche Beratungshilfen angeboten werden, um zu einer gültigen Landesliste zu kommen, die allen wahlrechtlichen Anforderungen genügt. Womöglich hielt man es bei der AfD nicht für nötig, sich rückzuversichern. Womöglich war man angesichts jüngster Wahlerfolge so selbstsicher und euphorisch, von einem Durchmarsch in den Landtag auszugehen, den nichts mehr durchkreuzen kann. Niemand scheint in Betracht gezogen zu haben, dass man selbst Fehler machen könnte.
Wahlleitung ging großzügig mit der AfD um
Also versuchte die Partei, als sie das „Mängelschreiben“ erhielt, in großer Eile, ihren Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Die Formblätter für die Aufstellungsversammlung und für die Landesliste wurden noch mehrfach neu ausgefüllt und nachgereicht, um zu dokumentieren, dass es sich um einen einheitlichen Wahlvorschlag handelt. Zudem tauschte der AfD-Landesvorstand die vormals gewählten Vertrauenspersonen aus. Diese Funktion nahmen ab sofort Joachim Keiler und Ivo Teichmann wahr, die später beide in den Landtag einzogen. Vor allem Keiler, von Beruf Rechtsanwalt, musste jetzt retten, was zu retten war. In mehreren langen Stellungnahmen an die Landeswahlleitung versuchte er darzulegen, dass seine Partei alles richtig gemacht, dass sie sich keinesfalls wahlrechtliche Verstöße eingehandelt habe.
Und die Unterlagen der AfD, die klar zeigen, dass zwei Aufstellungsversammlungen stattfanden und zwei Landeslisten gewählt wurden? Sie hätten nur „Entwurfscharakter zur Erörterung“ gehabt, behauptete Keiler in einem seiner Schriftsätze. Zudem seien die Vordrucke, die man verwenden musste, schwer zu verstehen gewesen. Die Korrespondenz Keilers mit der Landeswahlleitung erweckt den Eindruck, dass der AfD-Mann rasch die Übersicht verloren hat, dass der Partei das Verfahren sofort, als nicht mehr alles nach Plan lief, entglitten ist. Statt an der Behebung der aufgezeigten Mängel zu arbeiten, versuchte Keiler, jegliche Fehler zu leugnen.
Dabei schuf er sogar neue Probleme. In einem Schreiben gestand er unabsichtlich ein, dass es tatsächlich mehrere Wahlvorgänge gab. Und aus nachgereichten Unterlagen ergaben sich einige Ungereimtheiten über den Ablauf der beiden Parteitage. Die AfD scheint beispielsweise nicht sicher nachvollziehen zu können, wie viele Mitglieder überhaupt teilgenommen haben. Die Landeswahlleitung agierte dagegen, so weit man es heute nachvollziehen kann, ruhig und vor allem kulant, ermöglichte kurzfristig mehrere persönliche Gespräche mit Keiler, um eine einvernehmliche Lösung zu finden. Trotz großer Bedenken war die Landeswahlleiterin Schreck sogar bereit, die beiden Teil-Landeslisten der AfD als eine einheitliche Landesliste anzuerkennen.
Eine Einflussnahme auf Frau Schreck, von der die AfD heute spricht, gab es in dieser Zeit übrigens wirklich, wenn auch anders als gedacht. Ein Referatsleiter aus dem Innenministerium wandte sich mehrfach an Schrecks Büro und bat offenbar darum, nicht allzu strenge Prüfmaßstäbe anzulegen. Mit anderen Worten dachte die Landesregierung keineswegs daran, die AfD zu behindern. Vielmehr war man bereit, ihr einiges durchgehen zu lassen.
Klare Entscheidung des Wahlausschusses
Die letzte Dokumentenlieferung der AfD, rund hundert Seiten, traf bei der Landeswahlleitung am 27. Juni 2019 ein, um 16.50 Uhr, siebzig Minuten vor Ablauf der Frist, zu der alle Unterlagen vorliegen und alle Zweifel beseitigt sein mussten. Zwischenzeitlich waren Zeitungsartikel erschienen, in denen diese Zweifel zur Sprache kamen. Sie versetzen die Partei offenbar in helle Aufregung. Noch am Morgen schickte sie Fahrer nach Aachen und Stuttgart, wo die beiden Parteifreunde leben, die als Versammlungsleiter des 12. und 13. Landesparteitags fungiert hatten. Sie sollten nochmals Niederschriften unterzeichnen, aus denen sich der Ablauf der Listenaufstellung ergibt.
Vorsorglich legte Keiler nun auch die vollständigen Protokolle der beiden Parteitage vor, die man sonst nicht gern aus der Hand gibt. Damit überreichte er der Landeswahlleitung das Corpus Delicti. Denn aus diesen Protokollen ergibt sich eindeutig, wie die Partei während der Listenaufstellung rechtswidrig das Wahlverfahren änderte. Das war ein zusätzliches und recht gewichtiges Indiz dafür, dass die Landesliste nicht ordentlich aufgestellt worden ist.
Dann kam der große Tag, der 5. Juli 2019, an dem der Landeswahlausschuss tagte. Ihm saß die Landeswahlleiterin Schreck vor, hinzu kamen sechs Beisitzer*innen, die unterschiedlichen Parteien angehören, auch ein Vertreter der AfD war darunter. Die Aufgabe des Ausschusses ist es, anhand der Unterlagen, die bei der Landeswahlleitung eingereicht und begutachtet wurden, zu entscheiden: Darf die jeweilige Partei mit ihrer Liste zur Landtagswahl antreten? Oder wurden Fehler gemacht, die zu einer Ablehnung führen? Die meisten Entscheidungen, die der Ausschuss treffen muss, sind trivial und dauern wenige Minuten, denn die meisten Parteien sind geübt, kennen die Prozedur, halten sich an alle Vorschriften.
So war es diesmal auch, außer bei der AfD. Zu ihrer Landesliste entspann sich bei der öffentlichen Sitzung, zu der auch der AfD-Landeschef Jörg Urban erschien, eine lange Diskussion, die mehr als drei Stunden andauerte. Was tun mit dem Wahlvorschlag einer Partei, die nach Auffassung der Landeswahlleitung nicht hinreichend nachgewiesen hat, dass ihre Landesliste rechtmäßig zustande gekommen ist? Bei kleineren Parteien, das zeigen frühere Fälle, wird mitunter ohne lange Diskussionen durchgegriffen – heißt: Ausschluss von der Wahl. Sollte man bei der AfD genauso strikt vorgehen?
Am Ende traf der Wahlausschuss eine spektakuläre Entscheidung: Nur der erste Listenteil wurde zugelassen, nur die ersten 18 Plätze, die beim 12. Landesparteitag unter korrekten Bedingungen gewählt worden waren. Für den Rest stand das nicht fest. Alle Mitglieder des Ausschusses stimmten für diese Lösung. Noch nicht einmal der AfD-Vertreter votierte dagegen, sondern enthielt sich.
AfD leugnet eigene Fehler
Das war die angebliche „Verschwörung“, von der die AfD redet und von der sie behauptet, dass sie ein Versuch gewesen sei, die Partei vor der Landtagswahl auszuschalten. Tatsächlich hätte der Landeswahlausschuss auch strenger entscheiden können. Er stützte sich auf die Dokumente und Ausführungen der AfD, die offenbar unzureichend waren. Der Ausschuss musste umgehen mit einer Partei, der es nicht gelang, erkennbare Mängel in ihren Unterlagen zu beseitigen, und mit der Vertrauensperson Joachim Keiler, der sich bei dem Versuch, Fehler in Abrede zu stellen, verheddert und neue Fragen aufgeworfen hat. Gemessen daran kann man die Entscheidung auch für großzügig halten.
Es ist verständlich, dass die AfD das nicht so sah. Jörg Urban, der zugelassene Spitzenkandidat auf Listenplatz 1, sprach im Anschluss an die Sitzung von einem „verabredeten Komplott“, von einem „durchsichtigen, juristisch nicht haltbaren Boykottverfahren“, um „den stärksten politischen Mitbewerber zur Landtagswahl Sachsen am 1. September strategisch zu schwächen“. Auch Keiler ist sich sicher, dass er und seine Partei keine Fehler gemacht haben. Nur wenige Stimmen in der AfD neigten zur Selbstkritik. Julien Wiesemann aus dem Kreisverband Meißen, der bei der Sitzung des Wahlausschusses im Publikum saß, sagte: „Wenn man weiß, wie bei unserer Partei Listenaufstellungen in den letzten Jahren gelaufen sind, hätte man vielleicht bessere Vorbereitungen treffen können.“ Tino Chrupalla, der später zum Bundeschef aufstieg, sprach auf Presseanfrage ganz offen von einem Fehler, der seiner Partei nicht hätte passieren dürfen.
Die AfD braucht zwei Tage, um sich zu sammeln und zu verarbeiten, was gerade passiert war. Dann informierte der Landesvorstand die sächsischen Mitglieder in einem Rundschreiben und legte seine Sicht auf die Dinge dar: Man sei „politisch böswillig“ mit der AfD umgegangen und habe eine „Willkür-Entscheidung“ über sich ergehen lassen müsse. „Unsere sächsischen Wähler sind schlau genug, dieses politische Schmierentheater zu durchschauen“, hieß es zudem. Nur wenige Stunden später gingen im Statistischen Landesamt und im Büro der Landeswahlleiterin Schreck mehrere Drohungen ein, die so ernst zu nehmen waren, dass das Landeskriminalamt Schutzmaßnahmen ergreifen musste.
Eigenes Versagen wurde Wahlkampfschlager
Die AfD pochte in den Tagen und Wochen danach immer wieder darauf, dass die Entscheidung des Landeswahlausschusses geändert werden müsse. Sie beschwerte sich mit bitterbösen Briefen beim Innenminister und beim Ministerpräsidenten und forderte sie ultimativ auf, einzugreifen. Sie reichte eine Dienstaufsichtsbeschwerde gegen Carolin Schreck ein und stellte Strafanzeigen gegen sie und weitere Personen wegen des Vorwurfs der Rechtsbeugung. Wegen angeblicher Wahlbehinderung und Wahlfälschung beschwerte sie sich sogar bei der OSZE und bat um eine Wahlbeobachtungs-Mission.
Mit alledem versuchte die Partei, aus ihrer Not eine Tugend zu machen, also ein Wahlkampfthema zu stricken, das sie im Sommer 2019 dringend gebrauchen konnte. In Umfragen stand sie damals nicht allzu sicher da, wie sie es gewohnt war, ein Institut sah die Partei kurzzeitig sogar unter 20 Prozent – weit weg von dem Ziel, stärkste Fraktion zu werden. Nun, nach der Entscheidung des Wahlausschusses, konnte die AfD die Opferkarte ziehen und mitten im Sommerloch eine große Verschwörung an die Wand malen.
Zudem versuchte die Partei, sich juristisch zu wehren. Das ist eigentlich gar nicht möglich: Die Entscheidungen des Landeswahlausschusses sind nicht anfechtbar, bei Uneinigkeiten ist eine Klärung erst nach der Wahl vorgesehen. Trotzdem wandte sich die Partei an das Bundesverfassungsgericht. Es schmetterte die Verfassungsbeschwerde der AfD sofort ab, da sie unzulässig sei und außerdem unzureichend begründet. Doch woanders hatte die AfD überraschend Erfolg: Sie wandte sich zugleich an den Sächsischen Verfassungsgerichtshof, der die Beschwerde – womit niemand gerechnet hat – annahm. Das Gericht begründete das damit, dass es sich um einen „besonderen Ausnahmefall“ handle.
„Extrawurst“ vor dem Verfassungsgericht
Einen vergleichbaren Prozess hatte es deutschlandweit noch nie gegeben. Alle anderen Parteien, die sich falsch behandelt fühlen, konnten bis dahin und können auch weiterhin erst nach der Wahl einschreiten. Die mündliche Verhandlung fand am 25. Juli 2019 statt. Dort gebrauchte die AfD ein perfides Argument, warum zu ihrem Anliegen unbedingt eine Entscheidung gefällt werden müsse: Der „öffentliche Frieden“ im Land sei gefährdet, was man daran sehe, dass die Landeswahlleiterin bereits bedroht worden sei. Daher müsse man „die Lage in einer Weise regeln, in der alle friedlich damit umgehen können.“ Das Verfassungsgericht tat, wie gebeten, traf noch am gleichen Tag eine vorläufige Entscheidung zugunsten der AfD und ließ die Landesliste bis einschließlich Platz 30 zu.
Zur Begründung wurde hingewiesen auf die Auswirkungen, die sich ergeben würden, sollte sich später die Entscheidung des Landeswahlausschusses als rechtswidrig herausstellen – dann würde es angesichts der Stärke der AfD ziemlich sicher landesweite Neuwahlen geben müssen. Die Richter*innen haben der AfD „die sprichwörtliche Extrawurst gebraten“, bemerkte dazu der Verfassungsrechtler Jochen Rozek. Und zwar nicht, weil sie klein und schwach war, sondern stark und vielleicht bald in der Regierung.
Am 16. August, zwei Wochen vor der Landtagswahl, fiel das endgültige Urteil, das die vorläufige Entscheidung bestätigte. Die AfD durfte nun immerhin mit der halben Landesliste ins Rennen gehen. Damit wurde zum allerersten Mal vor einer großen Wahl die Entscheidung eines Wahlausschusses gerichtlich abgeändert. Das Verfassungsgericht argumentierte, dass die Landeswahlleitung und der Landeswahlausschuss zwar nachvollziehbare Gründe hatten, „sich mit der Frage der Einheitlichkeit der Aufstellungsversammlung zu befassen“. Es hätte aber trotzdem eine „zulassungsfreundliche“ Betrachtung gewählt werden müssen, die davon ausgeht, dass die AfD gewillt war, eine einheitliche Landesliste aufzustellen. Man hätte also noch nachsichtiger mit dieser Partei sein sollen.
Gericht erkannte gravierenden Fehler der AfD
Das Verfassungsgericht gab dem Wahlausschuss allerdings nicht in allen Punkten Unrecht, und es sprach die AfD auch nicht von eigenem Versagen frei. Von Willkür oder Rechtsmissbrauch, das stellten die Richter*innen ausdrücklich fest, könne überhaupt nicht die Rede sein. Eher dreht sich der Streit um eine Rechtsfrage, die nicht eindeutig geklärt ist und die auch das Gericht nicht entschieden hat: Darf eine Listenaufstellung auf mehrere getrennte Aufstellungsversammlungen aufgesplittet werden, wie es die AfD getan hat? Der Wortlaut der einschlägigen Wahlgesetze ist da nicht eindeutig, eine Auslegungsfrage.
Eindeutig ist dagegen, so sah es das Gericht, dass die AfD mit der Änderung des Wahlverfahrens ab dem Listenplatz 31 einen „beachtlichen Wahlvorbereitungsfehler“ begangen hat, der gegen das Gebots der Gleichheit der Wahl verstößt. Die Streichung des zweiten Listenteils ist deshalb rechtlich vertretbar. Kaum war das Urteil verlesen, da trat Jörg Urban vor die Kameras – und kündigte an, den Fall nach der Wahl weiter aufzuklären mithilfe eines Untersuchungsausschusses. Jenes Gremium also, das die AfD-Fraktion inzwischen eingesetzt hat und das sie argumentativ damit unterfüttert, dass nach Feststellung des Gerichts eine rechtswidrige Entscheidung zulasten der Partei ergangen war. Den zweiten Teil der Wahrheit, dass das Gericht auch klare Fehler bei der AfD festgestellt hat, lässt man gerne weg.
Tatsächlich hatte die Listenkürzung messbare Auswirkungen. Denn nach dem Ergebnis der Zweitstimmen zur Landtagswahl am 1. September 2019 hätte der AfD ein weiterer Sitz im Parlament zugestanden, den sie nun nicht bekommen hat. Zudem hat die AfD-Fraktion durch die Kappung keine Nachrücker*innen, die einspringen könnten, falls eine*r ihrer aktuellen Abgeordneten – dank Direktmandaten sind es insgesamt 38 – zwischenzeitlich aus dem Landtag ausscheiden sollte.
AfD hat „Verursachungsbeiträge“ selbst geleistet
Das kann durchaus passieren. So will der Abgeordnete Wolfram Keil zur Wahl der Oberbürgermeister*in in Zwickau antreten und hat bereits angekündigt, im Erfolgsfall sein Mandat aufzugeben. Zur Landratswahl in Meißen sind mehrere mögliche AfD-Kandidierende im Gespräch, alles Abgeordnete, die dann ebenfalls aus dem Landtag ausscheiden würden. Offenbar verfügt die AfD-Fraktion über so viele Mitglieder, dass sie nicht alle braucht, um ihrer Arbeit nachzugehen. So ist einer ihrer Abgeordneten derzeit in keinem einzigen Fachausschuss tätig. Es handelt sich um Ulrich Lupart aus dem Vogtland, den Fraktionssprecher für „Heimat und Tradition“, der kürzlich in aller Stille aus dem Innenausschuss abgezogen wurde. Warum er nicht eingesetzt wird und ob er seinem lukrativen Mandat überhaupt nachkommt, ist derzeit unklar, die Fraktion hat dazu bislang nichts erklärt.
Die AfD wird aber einiges im Untersuchungsausschuss zu erklären haben. Während sie selbst eine monströse Verschwörung aufdecken will, werden die anderen Fraktionen voraussichtlich an den Fehlern anknüpfen, die sich deutlich abzeichnen. Dazu gehört die zumindest fahrige Dokumentation der beiden Parteitage, die bis zum Schluss fehlenden Unterlagen zweier Kandidierender, der chaotische Zustand der Dokumente, die der Landeswahlleitung ursprünglich vorgelegt wurden, und natürlich der rechtswidrige Wechsel des Wahlverfahrens bei der Listenaufstellung.
All diese Elemente waren eingeflossen in die Auffassung der Landeswahlleitung und die Entscheidung des Landeswahlausschusses. Wie es aussieht, hat die AfD wesentliche „Verursachungsbeiträge“, die sie aufklären will, also selbst geleistet. Womöglich wird im Untersuchungsausschuss auch zu fragen sein nach den Hintergründen der Drohungen gegen die Landeswahlleiterin, die der AfD später, vor dem Verfassungsgericht, zupass gekommen sind. Und nach der innerparteilichen Demokratie einer Partei, der es nun schon zum zweiten Mal nicht gelungen ist, mit weißer Weste in eine Landtagswahl zu gehen.
„Fragwürdiges Demokratieverständnis“
Denn schon 2014, als die AfD erstmals in den sächsischen Landtag eingezogen ist, hatte es Ungereimtheiten gegeben, die das Parlament nach der Wahl jahrelang beschäftigt haben. Hintergrund: Die AfD hatte einen ihrer Listenkandidaten, Arvid Samtleben, vor der Wahl wieder von der Liste gestrichen, vermutlich entging ihm dadurch ein Sitz im Parlament. Samtleben hatte es verweigert, der Partei ein Darlehen zu gewähren, was offenbar allen Kandidierenden auf aussichtsreichen Listenplätzen abverlangt worden war. Listenplatz nur gegen Geld? Ergebnis der damaligen Landtagsuntersuchung war der Vorwurf des Parlaments an die AfD, einem „fragwürdigen Demokratieverständnis“ anzuhängen.
Dieser Eindruck könnte sich im Laufe des neuen Untersuchungsausschusses noch vertiefen. Sechs Mal will das Gremium in diesem Jahr zusammentreten – und zwar vor Publikum, sobald die ersten Zeug*innen aussagen.