#unsichtbar in Thüringen — Was im demokratischen Sandsturm alles untergeht
Thüringen ist über seine Grenzen hinaus nicht unbedingt bekannt für starke linke Bewegungen. Seitdem das besetzte Haus in Erfurt vor bald elf Jahren geräumt und Bernd das Brot entführt wurde, hat es kaum eine Kampagne oder Bewegung ins Gedächtnis jüngerer Bewegungsgeschichte geschafft. Wer heute aus linker Perspektive auf Thüringen blickt, weiß als erstes ein halbes Dutzend Dörfer und Kleinstädte auzuzählen, in denen Nazis regelmäßig Konzerte veranstalten. Die NSU-Aufarbeitung dürfte auch noch ein paar bleibende Stichworte hinterlassen haben. Und dann ist da noch der erste linke Ministerpräsident, der — ja, was zeichnet den eigentlich aus?
Und doch wird nicht nur in allen bürgerlichen Medien in den letzten Tagen ausnahmslos aus Thüringen berichtet, auch Antifaschist*innen und weitere linke Bewegungen haben ihren Fokus auf den Freistaat gelegt. Um den Freund*innen einer befreiten Gesellschaft anderswo eine kritische Positionsbestimmung und Solidarisierung zu erleichtern, folgen hiermit ein paar Einblicke aus dem Schatten des demokratischen Sandsturms.
Kein Dammbruch
Nach der Kemmerich-Wahl am 5.2.2020 heißt es nun allerorts, es hätte einen „Dammbruch“ gegeben. Oder wie der #unteilbar-Aufruf zum 15.2.2020 es formuliert: „Die Brandmauer gegen die Faschist*innen hat einen tiefen Riss. Innerhalb von FDP und CDU gibt es die Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit der AfD.“ Es gab aber keinen Damm, der hätte brechen, und keine Brandmauer, die hätte eingerissen werden können. Nachdem Bodo Ramelow 2014 zum Ministerpräsidenten gewählt wurde, demonstrierten zum 9. November Tausende Menschen auf dem Erfurter Domplatz gegen die vermeintlich auferstandene SED. Organisiert wurde die Aktion unter anderem von CDUler*innen, die einen antikommunistischen Widerstand damals wie heute beschworen. Unter den vielen Menschen war gut erkennbar eine dreistellige Zahl von Nazis und Hooligans. Während also andernorts der Reichspogromnacht gedacht wurde, hatte für die Konservativen eine antikommunistische Einheitsfront mit Neonazis höchste Priorität.
Auch auf kommunaler Ebene kann von so einem Damm keine Rede sein. Im Weimarer Land regierte seit 1990 der damals als CDU-Kandidat angetretene und 1994 rechts aus der CDU ausgeschiedene Landrat Münchberg. Mit Unterstützung der CDU blieb er 28 Jahre im Amt, bis er aus Altersgründen 2018 nicht mehr erneut kandidieren durfte. Auch die anderen Fraktionen im Kreistag setzten ihm wenig entgegen. Münchberg brauchte weder NPD noch später die AfD, um dem Faschismus den Boden zu bereiten: So nutzte er wiederholt das Amtsblatt, um Hetzartikel unter der Prämisse „Kriminelle Ausländer raus“ zu verbreiten. Zu seinem Abschied warb er im Amtsblatt nochmal für die „Gemeinsame Erklärung 2018“, derzufolge Deutschland durch „illegale Masseneinwanderung beschädigt werde“. Dass unter seiner Verwaltung in der Kreisstadt Apolda alleine in den letzten Jahren laut Break Deportation mindestens fünf Geflüchtete unter dubiosen Umständen zu Tode kamen, ist kein Zufall.[1] Nebenbei erwähnt: Die CDU Weimarer Land ist die politische Heimat des langjährigen Landeschefs Mike Mohring. Ein anderes Beispiel wäre die Greizer Landrätin Schweinsburg (CDU), seit 1994 im Amt, die sich ihrer menschenverachtenden Lager- und Gutscheinpolitik rühmte und noch im vergangenen Jahr zusammen mit anderen Thüringer CDU-Politiker*innen für eine Allianz der CDU mit der AfD warb. Auch im westthüringischen Eisenach stimmten noch vor dem Aufkommen der AfD CDU-Stadtratsabgeordnete 2015 für einen von der NPD gestellten Abwahlantrag gegen die linke Oberbürgermeisterin. Und die FDP reagierte auf den darauffolgenden Vorschlag, das Abstimmungsverhalten der Wahl offenzulegen mit dem Vorwurf, dass das DDR-Methoden wären.
Es ist kein Zufall, dass David Köckerts faschistischer Wanderzirkus „Thügida“ seinen Ausgang mit rassistischen Protesten in Greiz nahm, Apolda eine lange Kontinuität neonazistischer Organisierung und Infrastruktur hat und Eisenach mittlerweile eine regionale Hochburg der Naziszene und ihrer Gewalt ist. Die CDU hat fleißig den Boden bestellt, den Feind stets zu ihrer Linken. Es war daher für die Thüringer CDU nichts konsequenter, als mit der AfD gegen Ramelow zu stimmen.
Wer in der Wahl Kemmerichs aufgrund der höheren Ebene eines Landtags trotz allem einen Dammbruch sieht, kann sich gerne auch mal bei Antifaschist*innen in Sachsen-Anhalt erkundigen, mit wessen Stimmen die dortige Enquete-Kommission „Linksextremismus“ zustande kam. Oder wo für die dortige CDU in der Debatte um den CDU-Neonazi Möritz der Hauptfeind stand.
#teilbar — natürlich auch unter Ramelow
Zum 15.2.2020 wird nun unter dem Schlagwort #unteilbar nach Erfurt zur Großdemo mobilisiert. Dieses Motto und die Aufrufe und Demonstrationen der vergangenen Tage suggerieren wahlweise, dass „wir alle“ gegen den Faschismus aufstehen müssten oder „alle Demokrat*innen“ zusammenhalten müssten. Dass es in der Demokratie nie ein „wir alle“, sondern ausschließlich ein Mehrheit-gegen-Minderheit auf allen Ebenen der Entscheidungsfindung gibt, bedarf keiner Erklärung. „Wir alle“ werden immer dann mobilisiert, wenn ein Machtblock sich gegen einen anderen in Stellung bringen will. Auch dass eine Rot-Rot-Grüne Regierung (R2G) auf Landesebene nichts an den demokratischen Bedingungen und genausowenig an der kapitalistischen Verfasstheit der Gesellschaft ändern kann, steht außer Diskussion. Abgesehen davon, dass sie es gar nicht anstrebt. Daher soll es hier, anders als teilweise in anderen linken Kritiken an R2G nicht um den Vorwurf eines Verrats gehen. Wer sich als Partei organisiert, an Wahlen teilnimmt und regieren will, kann eine außerparlamentarische und kapitalismuskritische Bewegung nicht verraten, sondern ist im Gegenteil sehr transparent mit seinen*ihren Zielen. Dann überrascht es dennoch, wenn in dieser Regierung an allen möglichen Fronten emanzipatorischer Kämpfe eine Verbündete oder gar eine Vertreterin gesucht wird. Es ist nicht nur so, dass außerparlamentarische Akteur*innen und ihre über Reformen hinausgehende politische Ziele rein praktisch durch die Einbindung von Regierungsmitgliedern oder sonstigen Parteien unsichtbar werden. Weil R2G trotzdem häufig als Bollwerk gegen eine reaktionäre Umwälzung der Gesellschaft verstanden und sich in diesem Zusammenhang Bodo Ramelow als Ministerpräsident zurückgewünscht wird, sollen einige Zitate nochmal verdeutlichen, warum auch dieser bescheidene Wunsch, so er von antirassistischen, polizeistaatskritischen oder pauschal gesagt antiautoritären und emanzipatorischen Aktivist*innen vertreten wird, enttäuscht werden muss.
„Ich muss doch imstande sein, einen Hardcore-Kommunisten, der Mitglied in der ›Linken‹ ist, zu unterscheiden von einem Ministerpräsidenten, der aus der gewerkschaftlichen Tradition stammt und der doch gezeigt hat, dass er mit einem linken Profil dieser Gesellschaft nicht schadet.“ (Gauck über Ramelow, 2019)
Wer es dem alten Antikommunisten Gauck recht macht, muss aus der Perspektive so ziemlich aller linken Bewegungen etwas Zentrales falsch machen. Dass Ramelow diese Gauckschen Hoffnungen auf einen Erhalt der zutiefst falschen Zustände nicht enttäuschen will, betonte er diese Woche erneut:
„Zuerst kommt das Land, dann die Parteien und am Ende die Personen, die damit verbunden sind.“ (Ramelow, Februar 2020)
Während in anderen Bundesländern Massenproteste gegen erweiterte Polizeibefugnisse organisiert wurden, ist es auf Thüringens Straßen ruhig geblieben. Im Parlament war R2G vor allem damit beschäftigt, der CDU den Rang in Sachen Stärkung der Polizei abzulaufen. Steffen Dittes, innenpolitischer Sprecher der LINKEN, lässt in diesem Punkt keine Kritik von rechts gelten:
„Würden wir den Kurs der CDU weiter fahren, dann würde dies noch einen weiteren Abbau von 1.295 Stellen im Sicherheitsbereich bedeuten. (…) Rot-Rot-Grün hat seit 2014 die Zahl der Polizeianwärter erhöht, inzwischen mehr als verdoppelt, so dass inzwischen wieder mehr Polizeibeamte übernommen werden als die Thüringer Polizei altersbedingt oder unplanmäßig verlassen. (…) Etwas Ähnliches hat die CDU in knapp 25 Jahren nicht auf die Reihe bekommen.“ (Steffen Dittes, LINKE, 2019)
Wer diese Debatten mit einem gewachsenen Druck von rechts erklären will, mit dem auch eine LINKE einen Umgang finden muss, der*die sei an Ramelows rassistische Law-and-Order-Haltung in Sachen Geflüchtete und Abschiebungen erinnert, deretwegen vor Jahren bereits das Jenaer Büro der Linkspartei zeitweilig besetzt wurde. Unter dem vorigen CDU-Innenminister Geibert hatte es noch einen Winterabschiebestopp für Geflüchtete vom Balkan gegeben, die in Serbien oder dem Kosovo Obdachlosigkeit bei Minustemperaturen erwartet hätte. Schon 2015 lehnte Ramelow einen solchen Winterabschiebestopp ab und begründete dies auch unmissverständlich:
„Den Menschen, die keine Bleibeperspektive haben, muss dies auch klargemacht werden.“ (Ramelow zur Thüringer Allgemeinen, 2015)
Und als er vom MDR im Kontext einer Abwanderung von Wähler*innen zur AfD nach der dafür vermeintlich ursächlichen Geflüchtetenpolitik der LINKEN gefragt wurde, ließ er auch an dieser Stelle keine Lücke nach rechts offen:
„Asyltouristen können wir nicht gebrauchen. Was wir brauchen, ist eine Aufnahmeleistung, die von beiden Seiten erbracht wird. Wir erwarten von Flüchtlingen, dass sie unsere Sprache sprechen und dass sie sich mit ihrer eigenen Hände Arbeit auch selber in die volkswirtschaftlichen Gegebenheiten unseres Landes einbringen. Also auch Arbeit annehmen und Ausbildung machen und ähnliches.“ (Bodo Ramelow im MDR, Juni 2018)
Es ist nicht nur so, dass diese Gesellschaft geteilt ist. Auch ein Widerstand gegen die AfD, der Antifaschist*innen, Geflüchtete, Antirassist*innen, Feminist*innen, Umweltaktivist*innen oder Gewerkschafter*innen seither vereint, ist nicht unteilbar. Er ist vielmehr sehr #teilbar. Auf der einen Seite stehen solche, die unteilbar für ein gutes und sicheres Leben für alle kämpfen und dieses Ziel keinerlei taktischen Erwägung preisgeben. Auf der anderen Seite stehen die, die für reversible Reformen auf Landesebene und ein Zwischenspiel an der Regierung die dafür notwendigen rassistischen Diskurse übernehmen und ihre CDU-Opposition mit Winterabschiebungen auf den Balkan und die auch dafür benötigten zusätzlichen Polizeianwärter*innen übertrumpfen wollen. Die nicht erst seit Kemmerich proklamierte Alternativlosigkeit einer R2G-Regierung ist genauso Teil des demokratischen Sandsturms wie die Behauptung, Kemmerich hätte der Demokratie geschadet, indem er sich ihrer Spielregeln bediente.
Zum Schluss sei noch darauf verwiesen, dass abseits analytischer oder taktischer Debatten eine andere #Teilbarkeit dieser Bewegung Tag für Tag seitens der Regierung zementiert wird: Verfahren nach § 129 StGB gegen Südthüringer Antifaschist*innen, U-Haft für Antifaschist*innen in Gotha, brutale Räumungen besetzter Häuser in Jena, Vergewaltigungen und Übergriffe von Polizisten gegen Frauen* in Gotha und Weimar, Pfefferspray und Knüppel gegen antfaschistische Sitzblockaden in Sonneberg, Beobachtung von Basisgewerkschaften oder linken Kochgruppen durch den Verfassungsschutz, Hausdurchsuchungen und Strafverfahren gegen organisierte Kurd*innen in Erfurt und eine Vielzahl ehemaliger Geflüchtetenaktivist*innen aus ganz Thüringen, die abgeschoben wurden. Wer erklärt all jenen, warum sie nun für ihre Regierung eintreten müssen und „wir alle“ zusammenstünden? Dies sei auch ein erster Hinweis darauf, mit wem sich eine Solidarisierung von außerhalb Thüringens lohnen könnte, aber dazu an anderer Stelle mehr.
Um #wirklichunteilbar zu werden, gilt deshalb der erste Kampf der Sichtbarmachung unserer #Teilbarkeit.
Dieser Text ist Teil einer Sammlung von anarchistischen Debattenbeiträgen zur Wahl in Thüringen, die beim Anarcho Infoblatt Jena erscheinen:
https://samizdatarchiv.noblogs.org/debatte/dammbruch-2020/