Rotes Leipzig? Gemkows Stärke ist unsere Schwäche.
„Gemkow gewinnt überraschend“, war der Tenor der Stunde nach den OB-Wahlen in Leipzig. Der amtierende SPD-Bürgermeister Burkhard Jung unterliegt dem CDU-Kandidaten mit knapp zwei Prozentpunkten und verliert dabei zehn Prozent im Vergleich zur Wahl 2013. Linke und Grüne liegen mit 13% und 12% weit dahinter und werden beim 2. Wahlgang am 01.03. voraussichtlich nicht erneut antreten. Leipzig, die „rote Insel Sachsens“, ist ganz schön CDU-schwarz geworden. Wie überraschend ist dieser Sieg aber wirklich? Und was sollten wir, die radikale und gesellschaftliche Linke, hieraus ableiten? Ein verspätetes Plädoyer.
Leipzig ist eine Stadt im Wandel. In den letzten zehn Jahren wuchs sie um über 100.000 Einwohner*innen auf über 600.000 insgesamt. Ein immer angespannterer Wohungsmarkt und Verdrängung, sowie steigende Kosten bei der Lebenshaltung sind nur einige der typischen Folgen einer solchen Entwicklung. Aber auch das "Leipzig-Gefühl" der älteren Generationen und der jüngeren, häufig zugezogenen Generationen gehen auseinander. Das neue "Hypezig" scheint zum Stadtentwicklungplan geworden zu sein. Alternativen sind den Leipziger*innen bislang nicht angeboten worden. Da jüngste Wahlkampf hätte ein Streit um eine grundsätzliche Richtungsentscheidung, wenigstens aber die unterschiedlichen Bedürfnisse der immer diverser werden Stadtgesellschaft abbilden und zu vereinen versuchen können. Mit Ausnahme des Wahlsiegers Gemkow, haben alle Bewerber*innen dieses Potential nicht ausschöpfen können. Ein Armutszeugnis für die gesamte Linke.
"Jetzt geht es um Progressivität oder Rolle rückwärts, um Modernität oder fest verwurzelte Homogenität, es geht um Internationalität, Weltoffenheit, bunte Stadt oder rechts, gescheitelt, rechts gekämmt." hat Jung nach der Wahl gesagt – und schießt damit leider an seinem Kontrahenten vorbei. Gemkow ist nicht der rechts Gescheitelte und rechts Gekämmte, sondern verkauft sich gut als „einer von uns“. Er kommt selbst aus Leipzig, ist bekannt dafür, in der Leipziger Südvorstadt mit seinem Rennrad unterwegs zu sein und so alltäglich sichtbar. Es gab in ganz Leipzig wohl wenige Haushalte, in deren Briefkasten kein Flyer mit seinem bärtigen seriös-souveränen Grinsen landete. Seine für einen sächsischen CDU-Politiker erstaunliche Themenwahl: bezahlbares Wohnen, gesellschaftlicher Zusammenhalt, Altern, Umwelt, Sicherheit – alles Gebiete, die uns alle auf die eine oder andere Art betreffen und beschäftigen, besonders diejenigen die nicht in den letzten zehn Jahren zugezogen sind. Gemkows Themenwahl ist strategisch clever auf eine Stadt im Wandel zugeschnitten.
Die Dimension an gesellschaftlichem Wandel und gesellschaftlichen Verwerfungen, die die Menschen in Leipzig betreffen und beschäftigen, hat Gemkow erkannt und ernstgenommen. Es muss beschämend für die SPD sein, dass ein karrieristischer CDU-Politiker scheinbar näher an den sozialen und wirtschaftlichen Bedürfnissen einer Stadtgesellschaft dran ist, als ihr Spitzenkandidat, der Religionslehrer Burkhard Jung. Im Wahlkampf blieb es wohl vielen weitgehend unklar, was sich Jung unter „Internationalität“, „Weltoffenheit“ und „bunte Stadt“ vorstellt - und wie das ihr eigenes Leben betrifft. Sein unbedingter Kuschelkurs mit der Immobilienwirtschaft und der Ausverkauf kommunalen Wohneigentums lassen eine Politik erkennen, durch welche langfristig viele verlieren, aber nur wenige gewinnen. Was bedeutet der Wandel Leipzigs, der Hype, der enorme Zuzug, die kontinuierliche Steigerung der Lebenshaltungskosten, die „Hipsterisierung“ der innenstadtnahen Bezirke usw. für die Mehrheit der Leipziger*innen? Für diese Frage scheint Jung wenig Bewusstsein zu haben. Seine vollmundigen Wahlversprechen konnten offensichtlich nicht ausreichend Glaubwürdigkeit vermitteln. Seine bereits sieben Jahre andauernde Amtszeit, in der es regelmäßig viel Kritik gab, und sein eigentlich geplanter Weggang auf einen Sparkassenposten, der letztlich doch nicht klappte, tun seiner Überzeugungskraft ihr Übriges.
Es gleicht einer Bankrotterklärung aller Parteien links der CDU, dass ausgerechnet eine sächsischer CDU-Politiker der einzige ist, der auf diese Fragen eine Antwort zu geben scheint. Es wäre jedoch falsch zu sagen, Gemkow hätte einen überragenden Wahlkampf geführt. Richtiger ist: Gemkows Stärke ist die Schwäche der Anderen. Gemkow hat als einziger seine Hausaufgaben gemacht. Er ist schlichtweg der einzige Bewerber, der authentisch vermitteln konnte, die gesellschaftliche und soziale Dimension des Phänomens „Hypezig“ erkannt zu haben. Während Jung ein arrogant anmutendes „weiter so“ offerierte, verspricht Gemkow neben wirtschaftlichem Aufschwung, auch die Bedürfnisse der Leipziger Urbevölkerung und der urbanen Peripherie zu achten und diese mitzunehmen. Die Ergebnisse der Wahlkreise spiegeln diese Bedürfnislage deutlich wider (https://www.leipzig.de/buergerservice-und-verwaltung/wahlen-in-leipzig/o...). Der sich seit der letzten OB-Wahl immer weiter beschleunigende Wandel der Stadt wird zunehmend zum Thema. Diese Dimension ist unterschätzt.
Beschämend ist auch das Abschneiden der LINKEN Kandidatin Franziska Riekewald. Wo Die Linke 2019 noch mit 21,4% stärkste Kraft bei den Stadtratswahlen werden konnte, erlangte ihre OB-Kanditatin nur noch 13,5%. Der Plan, eine Kandidatin aufzustellen, die "Szenelinke" und "Schon-immer-links-Wähler*innen", ist nicht aufgegangen. Die Gründe sind sicherlich sehr divers (Wahlkampf, Inhalte, etc.), haben aber eins gemeinsam: der LINKEN (und den Linken der Gesellschaft) mangelt es an mehrheitsfähigen Ideen und Überzeugungskraft. Hiervon zeugte insbesondere Riekewalds lustloser, inkonsistenter und inkonkreter Wahlkampf. Von einer LINKEN-Kanditatin sollte mehr zu erwarten sein, als ein Sammelsurium einzelner plakativer Forderungen. Eine die einzelnen Forderungen verbindende Zukunftsidee war nicht zu erkennen und jedenfalls schlecht kommuniziert. Welche Vision hat die Partei Die Linke für ein zukünftiges Leipzig? Wie gedenkt sie, ihre Forderungen umzusetzen und sieht sich die Partei insoweit mit den sozialen Bewegungen und den vielen Aktiven der Leipziger linken Szene assoziiert? Antworten auf solche Fragen bleibt die Partei bislang schuldig.
Aber auch wir als radikale und gesellschaftliche Linke müssen die stadtpolitischen Dimension stärḱer bewusst machen. Sicher, der Wahlkampf wirkte langweilig und wurde in der Szene und auch stadtweit wenig diskutiert. Wie so oft übten wir uns in routinemäßigem Desinteresse. Aber warum eigentlich? Gerade in Sachsen leben wir einen Abwehrkampf, in dem es uns realistischerweise nur darum gehen kann, den Schaden so klein wie möglich zu halten. Die schwarze Normalität und die blaue Euphorie schienen bislang nur das „rote Leipzig“ noch nicht vollständig erreicht zu haben. Aber: die Ergebnisse nicht nur dieser Bürgermeister*innenwahl, sondern auch schon der Bundestagswahl 2017 und der Landtagswahl 2019 zeigten, dass Leipzig maximal noch im Gürtel um die Innenstadt rot ist. Was dabei herauskommt, wenn ein riesiges Potential in Form einer zahlenmäßig stark vertretenen politisch aktiven Linken demonstrativ nichts tut, sieht man daran, dass die Stimmen von rund 70.000 Wähler*innen ausreichen, um Gemkow zu 31,8% zu verhelfen. Dies zeigt: wenn wir es nicht machen, machen es die Anderen. Wie begründen wir also unser Desinteresse? Welche Argumente können wir ehrlicherweise dafür anbringen, dass wir uns eben nicht einmischen und zu gestalten versuchen?
Sicherlich ließe sich argumentieren, dass es auf das Amt des*der Bürgermeister*in nicht ankommen kann und es Wichtigeres gibt, als sich für die Geschäftsführung der kommunalen Politik einzusetzen. Immerhin sind die Kompetenzen im Amt des*der OB begrenzt. Dass es aber dennoch einen gewissen Handlungspielraum gibt, dürfte unbestritten sein. Und es macht sehr wohl einen Unterschied, ob der*die Bürgermeister*in sich in seiner Freizeit mit Vertreter*innen der Immobilienwirtschaft zum Golfen trifft oder stattdessen zivilgesellschaftliche soziale Initiativen unterstützt.
Zudem ist die Aussagekraft einer Wahl über das politische Stimmungsbild nicht zu unterschätzen. Nicht nur ist Leipzig die zehntgrößte Stadt Deutschlands und hat somit eine gewisse Symbolwirkung in die Bundesrepublik hinein - auch weil es eine der einzigen wachsenden ostdeutschen Städte ist und allgemein als links geprägt gilt. Sondern es wirkt sich eben darüber hinaus auf das politische Bewusstsein und Selbstverständnis einer Stadt(-Teil)-gesellschaft aus, wenn die mehrheitliche politische Grundüberzeugung feststeht und repräsentiert wird. Woher sonst konnte man in Connewitz jahrelang die Überzeugung nehmen, es handele sich um einen Stadtteil, in dem das (radikal) Linke den Zuspruch der Mehrheit findet? Es waren diverse Wahlergebnisse, die dies zeigten, nicht zuletzt in Person von Jule Nagel, die seit 2014 als Connewitzer Direktkandidatin im sächsischen Landtag sitzt. Ähnlich verhält es sich im neueren linken Kiez rund um die Eisenbahnstraße, in Volkmarsdorf und Neustadt-Neuschönefeld. Jule Nagel und das LinxxNet machen es im Kleineren vor: Natürlich beansprucht dies keine Allgemeingültigkeit, aber das Potential zur linken politischen Identitätsbildung ist in links repräsentierten Orten wie Stadtteilen, Städten, Regionen eher möglich. Dafür ist die Repräsentation gesellschaftlich linker Strukturen in Parlamenten, Stadträten, Ämtern unumgänglich.
In Anbetracht der Möglichkeit einer AfD-Regierung, war Parlamentspolitik im Sommer 2019 beinahe so relevant wie nie in szenelinken Diskursen. Als in Görlitz im Frühsommer ein*e neue*r Bürgermeister*in gewählt wurde und der AfD-Kandidat im ersten Wahlgang mit sechs Prozentpunkten vorne lag, wählten im zweiten Wahlgang alle die CDU, um das Übel abzuwenden, selbst die Linke mobilisierte für Octavian Ursu (CDU). In Leipzig wird das zwar ein Duell zwischen SPD und CDU statt AfD und CDU, stellt aber trotzdem eine klare Wendung nach rechts und ins Konservative dar. Ist das wirklich unser Anspruch, uns damit zufrieden zu geben? Am 1. März haben wir aber erneut die Wahl. Hierbei gilt es wenigstens Gemkow zu verhindern!
Darüber hinaus muss es in Leipzig aber um mehr gehen. Für uns als radikale Linke geht es um nichts Geringes um unsere Rollen in der Leipziger Stadtgesellschaft und damit um unsere gesamtgesellschaftliche Wirkung. Haben wir überhaupt (noch) den Anspruch in die Gesellschaft hinein zu wirken? Müssten nicht gerade wir eigentlich „mehr Gesellschaft wagen“? Wem nutzen unsere Szenekieze, unsere Szenedebatten und unser Szeneaktivismus? Kurzum: wem nutzt und wen begeistert unsere Politik?
Wir finden, dass es in Leipzig an der Zeit ist, sich mit diesen Fragen ernsthaft auseinander zu setzen.