Bericht Kundgebung Südstern 7. Oktober
Die Kundgebung am Abend des 7. Oktober am Südstern in Berlin hat viel öffentliche Aufmerksamkeit erhalten. Hier ein Bericht und Diskussionsansatz.
Eigentlich war der von den Organisator*innen vorgelegte und auch polizeilich angemeldete Plan gewesen, am Hermannplatz zu demonstrieren. Als wäre es das Selbstverständliche der Welt hatte die Polizei jedoch kurz im Voraus bekanntgegeben, dass sie keine Kundgebung am Hermannplatz tolerieren würden. Daraufhin wurde der Versammlungsort auf den Südstern verlegt. Das taktische und politische Kalkül der Polizei war dabei klar: der Südstern konnte wie schon bei früheren Demos durch Tretgitter und Polizeiketten in der Körtestraße und auf der Hasenheide nach Osten hin abgeriegelt werden. Damit wurde der wesentliche Einsatzraum zweigeteilt. Erstens: Die Sonnenallee, der Kottbusser Damm und der Hermannplatz waren "wie die Westbank" im großen Belagerungszustand und zweitens: die Kundgebung war in einem für die Polizei vorteilhaften Gebiet umzingelt. Der Südstern ist im Gegensatz zum Hermannplatz deutscher geprägt und von Gentrifizierung umstrukturiert und es ist daher weit weniger Solidarität mit gegen die Repression ankämpfende Demonstrant*innen und auch weniger Teilnehmer*innen zu erwarten.
Generell wird kein Hehl daraus gemacht, dass die Polizei bei Pro-Palästina-Demos nicht dafür da ist, "das Recht auf Versammlungsfreiheit" zu schützen, sondern zu unterdrücken. Der gestrige Tag war daher natürlich besonders wichtig, da staatlicherseits Bilder der Unterstützung für Israel und den Genozid produziert werden sollten. Es fand Zeitgleich zur Kundgebung am Südstern eine "zentrale Gedenkveranstaltung" der Regierung statt. Und so hatte sich die Polizei rund um die Sonnenallee darauf eingestellt, dass wieder unkontrollierte Demos und Menschenaufläufe stattfinden könnten. Massenweise Tretgitter und Hundertschaften aus mindestens drei Bundesländer waren bereit, jeden Keim von Meinungsäußerung dort zu zerschlagen.
Auf die Kundgebung kommen dann trotz des staatlichen Korsetts mehrere Hundert Menschen in kämpferischer Stimmung. Es gibt keinen Lautsprecherwagen und auch keine großen Reden, sondern pausenlose Sprechchöre, Trommeln und Pfeifen. Nach etwa einer Stunde dann der erste Angriff der Polizei. Ein größerer Trupp behelmter Bullen prügelt sich in den Kern der Menschenmenge und nimmt Menschen fest. Die Masse umzingelt so gut es geht die Polizisten und es kommt zu Handgreiflichkeiten. Überall gehen Handykameras hoch und machen es für die Demonstrant*innen gefährlich, sich entschlossener zu verteidigen. Dazu kommen die Kameras der Polizei, die von allen Seiten filmt um die nächsten Festnahmen gegen Leute vorzubereiten, die man später mit Bildbeweisen vor Gericht bringen kann. Die Leute ohne Handys sind meist diejenigen, die versuchen, aktiv etwas zu machen und demensprechend vermummen sich viele - gegen die Blicke der Polizei aber auch gegen die "eigenen" Gaffer.
Als der Polizeitrupp sich unter Druck zurückgezogen hat und die Gefangenen verschleppt hat, geht die Kundgebung mit viel Energie und wütenden Sprechchören weiter. Ein Mensch klettert bald auf das Dach der U-Bahn-Station um eine Palästinaflagge zu schwenken. Die Menge Jubelt und die Polizei macht sich wieder auf, in die Menge einzudringen. Der Fahnenschwenker klettert schnell vom Dach und wird dann gewaltsam durch die Polizei erobert. Wäre er oben geblieben, hätte er die Polizei lange zum Narren halten können. Wer hätte aber auch gedacht, dass man für Fahnenschwenken im Kreuzfesselgriff weggeschleift und dafür ein Angriff auf eine ziemlich friedliebende Menschenmenge in Kauf genommen würde.
Ab einem gewissen Punkt, nach mehreren derartigen Episoden, beginnt die Polizei ihren Lautsprecherwagen an die Demonstration heranzuführen. Es zeigt sich, wie wichtig es in ihrer erarbeiteten Strategie ist, die Hoheit über die Kommunikation zu haben. Das Heck des Wagens schiebt sich mit Hilfe behelmter Polizisten einige Meter in die Menschenmenge hinein. Es wird etwas verkündet. Und zwar so, als ob es das selbstverständlichste wäre, dass die Polizei Anweisungen oder sonstige Informationen verbreitet. Doch es hat sich eine Gegenstrategie etabliert: immer, wenn der Sprecher der Polizei etwas zu sagen beginnt, ertönen besonders Laute Parolen, Trommeln und Pfiffe. Die meisten wollen nicht hören, was eine Polizei zu sagen hat, die nur schlechtes im Schilde führt und am besten sollte niemand hinhören, was sie zu sagen haben.
Als es langsam dunkel wird, haben die Auseinandersetzungen mit der immer wieder angreifenden Polizei eine Intensität erreicht, die für eine stationäre Kundgebung ungewöhnlich ist. Die Schläge und das Pfefferspray der Angreifer werden mit Schlägen und Tritten sowie mit Flaschenwürfen beantwortet. Die Masse hält dabei kompakt zusammen und die Polizei schafft es nicht so einfach, vorzudringen. Irgendwann dann löst die Polizei die Kundgebung gewaltsam auf, doch da ist der Autor schon nicht mehr da.
Das Zusammenhalten und die Entschlossenheit waren bemerkenswert und sind sicher ein Resultat von mindestens einem Jahr kollektiver Erfahrung auf der Straße. Es stellt sich aber noch die Frage, ob die Polizei nicht doch in der Lage gewesen wäre, die Menge komplett von vorn herein zu zerschlagen und dies nur nicht tat, um diese Masse an Menschen weg vom besetzten Gebiet um die Sonnenallee zu halten. In vergleichbaren Situationen wären bei Auseinandersetzungen auf der einen Seite der Kundgebung gleichzeitig von hinten Trupps in die Menge gegangen. Dies ist gestern lange nicht passiert. Und tatsächlich haben sich dann erst nach der Auflösung der Kundgebung Menschen zur Sonnenallee begeben und dort trotz tausend Polizisten einen Aufruhr veranstaltet.
Punkte zur Diskussion, die vielerorts schon stattfinden, sind:
- was ist die Strategie der Polizei um die Bewegung als Ganzes zu Unterdrücken
- was ist die Strategie der Polizei um Neukölln unter ihre Vorherrschaft zu bekommen
- ist es wichtig, dass es hundert Videos aus verschiedenen Perspektiven von kritischen Momenten gibt
- oder: ist es wichtig, dass die daran Beteiligten auch mal zurückschlagen können, ohne dass die Polizei den Livestream mit ansieht und aufzeichnet
Ergänzungen
Die Bewegung hat eigentlich andere Fragen als taktische
Etwas irritierend, wenn hier über Demos, die zur Solidarität mit islamistischen Gruppierungen aufrufen und Terroranschläge und Vergewaltigungen als Befreiungsperspektive abfeiern, lediglich aus riottaktischer Perspektive geschrieben wird. Zumindest eine kritische Einordnung wäre hier hilfreich und notwendig gewesen. Immerhin war das Motto zum 7. Oktober: "Glory to the Resistance" Gerne mal die aufständischen Gefährt*innen aus Nordsyrien fragen, was sie für Erfahrungen mit solchen "Bündnispartnern" gemacht haben. Islamistische Gewalt ist dort leider nicht unbekannt.
Bevor ich kaputtgehe*…
https://www.graswurzel.net/gwr/2023/11/bevor-ich-kaputtgehe/