Bericht vom 21. Prozesstag - Mord an Mouhamed Lamine Dramé durch Dortmunder Polizei

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Prozessbericht vom 21. Prozesstag – 02.09.2024

Am 19.12.2023 startete der Prozess gegen 5 Polizist*innen, die bei dem tödlichen Einsatz, bei dem Mouhamed Lamine Dramé erschossen wurde, involviert waren. Der Schütze muss sich wegen Totschlags, 3 Beamt*innen wegen gefährlicher Körperverletzung im Amt und der Einsatzleiter zu Anstiftung dieser, verantworten. (Aktenzeichen: 39 Ks 6/23)
Der Solidaritätskreis Justice4Mouhamed begleitet den Prozess kritisch und unterstützt die Familie Dramé.

 Bericht vom 21. Prozesstag – 02.09.2024

 

Der folgende Bericht enthält konkrete Beschreibungen von Polizeiwaffen aus dem Einsatz vom 8.8.2022 sowie der daraus entstandenen Verletzungen und Obduktionsergebnissen.

Am heutigen Prozesstag sind Ingo L., tätig am Landesamt für Aus- und Fortbildung und Personalangelegenheiten der Polizei NRW und Prof. Dr. Sebastian K., Gerichtsmediziner am Klinikum Ulm und Medizinischer Berater im Scientific Advisory Board des Taser-Produzenten Axon geladen.

Der Polizeiausbilder sagt aus, dass Einsatztrainer*innen in der Polizei NRW an den zwei zentralen Fortbildungsorten Selm und Brühl ausgebildet werden und dann als Multiplikator*innen Beamte in ihren Behörden vor Ort weiterbilden. Der Zeuge ist als Lehrender an den zentralen Fortbildungsorten der Polizei tätig.

Zentrale Inhalte der Fortbildungen sind zum einen die Vermittlung von Konzepten und Manualen, welche für die Polizeiausbildung verpflichtend sind, als auch praktisches Training im Umgang mit dem DEIG (Distanzelektroimpulsgerät, „Taser“), dem RSG 8 (Reizstoffsprühgerät, „Pfefferspray“), der MP (Maschinenpistole) 5 und, wie er sagt, der Frage „schießen oder nicht schießen“.

In der Schulung der Multiplikator*innen werden diverse Einsatzszenarien mit unterschiedlichen Parametern eingeübt. Die Beamt*innen trainieren in ihren jeweiligen Behörden nicht all diese Einsatzszenarien, sondern wählen nur einzelne aus. Dadurch kann die Polizei nicht garantieren, dass alle Beamt*innen mit allen vermittelten Fortbildungsinhalten vertraut sind.

Zuerst werden in der Zeugenvernehmung die Funktionen der bei der Tötung von Mouhamed verwendeten Einsatzmittel vom Zeugen erläutert.

Zum Pfefferspray erläutert der Zeuge, dass das „kleine RSG“ mit einer Füllmenge von 45ml von allen Beamt*innen in NRW an Gürtel oder Weste getragen wird und eine Reichweite von ca. 4 Metern habe. Das „große Pfefferspray“ RSG 8 mit 400ml hat eine Reichweite von ca. 7 Metern. Pfefferspray würde laut Polizeikonzept eingesetzt, um einen „erwarteten Widerstand herab[zu]setzen, um Festnahmen durchzuführen“. Es greift Augen, Atemwege und Haut an. Welche Wirkung genau eintritt, sei von Person zu Person unterschiedlich. Teils komme es zu stark verzögerten Reaktionen, bei einem gewissen Anteil von Personen wirke es gar nicht. Die Polizei habe bisher keine Kriterien feststellen können, anhand derer sich erklären ließe, warum das Pfefferspray bei Menschen so unterschiedlich wirkt. Der Zeuge bezieht sich auf eine Ausarbeitung der Bundespolizei, bei der herauskam, dass bei 50% der Betroffenen von Pfefferspray eine sofortige Wirkung eintritt. Die anderen 50% erlitten entweder eine stark verzögerte Wirkung, es müsse „zwei Mal gepfeffert werden, bis eine Wirkung eintritt“, und bei 10% der Getroffenen bleibe eine Wirkung gänzlich aus.

Die Fortbildung zum DEIG sei umfangreicher und werde seit 2020 nach PolG zentral geschult. Die Verwendung der Waffe sei nur mit Abschluss der Fortbildung erlaubt. Jedes DEIG hat zwei Kartuschen, eine Nah- und eine Ferndistanzkartusche, die Distanzen von etwa 1,20m bis 7,50m überbrücken können. Bei längeren Distanzen reißen die Drähte, die aus dem Gerät herausgeschossen werden.

In der Ausbildung werden keine Ge- oder Verbote in Bezug auf das Einsatzgebiet gelehrt. Das sei im Einsatz von den Beamt*innen in jeder Situation abzuwägen und auszuwählen. Das DEIG wird in statischen Situationen und gegenüber unbewaffneten Personen empfohlen. In dynamischen Situationen sowie bei Gegenübern mit Hieb-, Stich- und Schusswaffen sei es grundsätzlich nicht das richtige Einsatzmittel, da sich die Treffsicherheit durch Bewegung und Stress bei den Beamt*innen verringere, sowie die Möglichkeit von Fehlfunktionen oder ausbleibenden Treffern keine ausreichende Sicherheit in Angriffssituationen böten. Die Verwendung bleibe jedoch eine Entscheidung, die im konkreten Einsatz von den Beamt*innen abgewogen werden müsse. Auf das Narrativ der situativen Entscheidung und der Eigenverantwortung im Einsatz beruft sich der Zeuge sich im Verlauf des Verhandlungstages des Öfteren. Auch in Bezug auf den Umgang mit Menschen in psychischen Ausnahmezuständen sowie bei Selbstmordgefährdung erwidert der Zeuge auf Nachfrage, dass es „kein verbindliches Konzept“ gebe, kein Verbot von Einsatzmitteln, sondern lediglich „Hinweise, wie man sich verhalten könnte.“ Auch bei Messersituationen spielen verschiedene Parameter eine Rolle, empfohlen sei, Situationen statisch zu halten, zu befrieden, zu sprechen und beruhigen. In diesem Fall sei ein polizeilicher Schusswaffengebrauch aber „sehr wahrscheinlich“. Die 7 Meter-Regel, die zuvor im Prozess, auch von den Angeklagten, für Messersituationen referenziert wurde, sei keine feste Vorgabe der Polizei, sondern lediglich das Ergebnis eines Selbstversuchs aus der US-Polizei in den 1980er Jahren („Tueller Drill“). Eher seien Faktoren wie Mimik, Gestik und die Einschätzung über eine Tötungsabsicht entscheidend. In jedem Fall sei ratsam, „ein Zeitfenster zu erspielen“, auch durch Rückzug der Beamt*innen. Der Zeuge bestätigt jedoch, dass im Fall des Schießens so lang geschossen werden solle, bis das Ziel, den Angriff abzuwehren, erreicht sei, also die betreffende Person nicht mehr läuft und zu Boden geht: „Schießen, schießen, schießen, bis die Person zu Fall kommt.“

Der Zeuge und zwei Kollegen haben zum Termin ein kleines und ein großes Pfefferspray sowie ein DEIG mitgebracht, die vorgeführt werden. Der Zeuge führt an einer Wand des Gerichtssaals, über dem Platz der Nebenklage, die Laserpunkte vor, die die voraussichtlichen Treffer der beiden Pfeilelektroden anzeigen. Die Spitzen der Pfeile beschreibt der Zeuge als „Angelhaken“, die „unter relativ sicheren Bedingungen wieder zu entfernen“ seien. Diese sollen sich beide in Körper, Oberhaut oder Kleidung einer Person verhaken, wodurch sich der Stromkreis schließt und für ca. 5 Sekunden Strom abgegeben wird. Dadurch wird eine „neuromuskuläre Immobilisation“ verursacht, wodurch die getroffene Person starr und zu Fall gebracht wird. Der Zeuge sagt aber auch aus, dass Treffer mit beiden Pfeilelektroden „unwahrscheinlich“ seien und umso unwahrscheinlicher, je mehr Personen sich bewegen.

Der Zeuge spricht in der Befragung durch die Nebenklage auch ein Stufenmodell an, nach dem nicht nur die Schüsse aus dem Taser, sondern auch schon dessen Präsenz und das Knistern des Geräts Teil seiner Wirksamkeit im Einsatz seien. 70 bis 80 Prozent der Situationen können, so der Zeuge, so ohne die tatsächliche Abgabe von Taserschüssen beendet werden. Hier unterbricht Richter Kelm und fordert den Zeugen zum Vormachen des Knisterns auf, woraufhin der Zeuge das laute Geräusch im Saal vormacht.

Der Zeuge sagt zur MP 5 aus, dass eine solche in jedem Streifenwagen in NRW mitgeführt wird, während jede*r Beamt*in eine P99 Pistole im Dienst mit sich führt. Für beide müsse jährlich eine Prüfung abgelegt werden. Im Gegensatz zur P99 können mit der MP 5 größere Distanzen überwunden und präzisere Treffer erzielt werden. Im Training mit der MP 5 gehe es nicht um die Vermittlung neuer Inhalte, sondern um eine Auffrischung in der Handhabung der Waffe als auch (verstärkt seit 2023) um die Einsatzkommunikation und das Erarbeiten alternativer Verhaltensmuster (außer schießen). Der Zeuge betont: „Die Entscheidung, nicht zu schießen, muss genauso Teil des Trainings sein wie das Schießen“. Zum Einsatz gegen Mouhamed kommentiert der Zeuge: „Dass jemand nicht spricht, berechtigt nicht grundsätzlich zum Einsatz von Waffen.“Seit 2023 wird ein neues Einsatzkonzept zum Umgang mit Menschen in psychischen Ausnahmesituationen bei der Polizei NRW vermittelt. Dieses Konzept sei von einer Psychologin bei der Bundespolizei eingeführt worden und habe dort zu positiver Resonanz geführt. Die Entwicklung des Konzepts sei schon vor der Tötung Mouhameds begonnen worden, durch die Präsenz des Einsatzes in den Medien sei dies aber deutlich beschleunigt worden.

Der Zeuge wird unvereidigt entlassen.

Als zweiter Zeuge des Tages sagt der Rechtsmediziner und seit 2017 Berater der Taser- und Bodycam-Produktionsfirma Axon, Prof. Dr. Sebastian K, aus.

Er hat am 11.10.2022 das rechtsmedizinische Sachverständigengutachten über Mouhamed Dramé angefertigt und zeigt begleitend zu seiner kurzen Aussage eine Powerpoint-Präsentation. Beginnend mit allgemeinem Wissen zu Strom ordnet er den Taser mit dessen Stärke von 1,2-1,5 milli-Ampere und einer Eindringtiefe der Pfeilelektroden von maximal 1,15 cm in den Körper, ein. Die dadurch entstehenden Verletzungen, eventuell mit zusätzlichen Oberhautabschürfungen, seien im Millimeterbereich und somit „minimal“. Er führt aus, dass nur dann Elektroimpulse entstehen, wenn eine negative und eine positive Pfeilelektrode gleichzeitig im Kontakt mit einem Körper seien. Hierbei betont er die technische Fortentwicklung vom aktuell von der Polizei NRW genutzten Taser T 7 der Firma Axon, im Vergleich zum neusten Taser T 10 von Axon. Er bestätigt, dass von den zwei Geräten, mit denen auf Mouhamed geschossen wurde, vom ersten Gerät möglicherweise ein Pfeil, aber nicht zwei trafen, wodurch sich der Stromkreis nicht schloss. Die Pfeile des zweiten Tasers trafen Mouhamed, woraufhin über 4,94 Sekunden 109 Elektroimpulse abgegeben wurden. Der erste Taser wurde daraufhin noch drei mal ausgelöst. Hätten beide Pfeile des Tasers Mouhamed getroffen, dann wären noch drei weitere 5 Sekunden-Impulse ausgelöst worden.

Dies konnte durch die Auswertung der in den Tasern verbauten Mikrochips von Axon festgestellt werden.

Der Zeuge berichtet vom rechtsmedizinischen Gutachten, dass Mouhamed 1,61m groß und 57kg schwer war. Der behandelnde Arzt entfernte mindestens zwei Elektroden. Eine Verletzung durch eine Pfeilelektrode wurde im Genitalbereich festgestellt. Die ein oder zwei anderen Treffer konnten nicht identifiziert werden. Möglicherweise lagen sie an Operationsstellen von der Obduktion, weshalb sie nicht mehr sichtbar waren. Außerdem wurde eine Schläfenverletzung, die nicht vom Taser stammte, festgestellt.

Durch den Stromkreis, der zwischen Genitalbereich und Unterbauch entstand, muss Mouhamed eine „starke Schmerzreaktion“ erlitten haben. Dadurch wurde eine „schmerzbedingte Handlungsunfähigkeit“ ausgelöst, jedoch keine „muskuläre Handlungsunfähigkeit“. Der Zeuge erläutert des Weiteren, dass zwischen den Elektroden ein Mindestabstand von 30 cm sein muss, damit die getroffene Person zu Fall kommt. Bei einem Abstand von bis zu 20 cm beschränkt sich die Wirkung auf den Bereich zwischen den Elektroden. Das bedeutet, je nach Abstand der Elektroden führt der Stromkreis zu Schmerzen, jedoch nicht zu einer Bewegungsunfähigkeit. Bei Mouhamed wurde der Stromkreis in einem Radius kleiner als 30 cm geschlossen, wodurch er nicht zu Fall kam.

Auch der zweite Zeuge wird unvereidigt entlassen.

Damit endet der 21. Verhandlungstag. Weiter geht es am Mittwoch, den 4. September, sowie in der darauffolgenden Woche am 9. und 11. September.

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