Exarchia – Mon amour
Die kommenden Wochen werden den umfassenden Angriff des Staates auf Exarchia bringen. Darin sind sich in Athen alle einig. Mit den ersten Räumungen, darunter zwei großen von Migranten*innen und Flüchtlingen besetzen Projekten, mit der ständigen Präsenz von Riotcops und zivilen Aufklärungseinheiten, mit den Angriffen der letzten Tage auf ein Musikfestival und das K*VOX, einem der wichtigsten und legendärsten Besetzungen im Viertel, ist die Linie vorgegeben. Es gibt keine Tabus mehr, der Geist des faschistischen Obristenregimes darf wieder an die Oberfläche. Faschistische Kader, die sich ansonsten nicht einmal in die Nähe von Exarchia wagen, wurde im Viertel in vertrauten Austausch mit Bullen gesichtet. Innerhalb nur weniger Tage haben die Bullen schon zwei Mal die Knarre gezogen.
Der Angriff auf Exarchia betrifft uns alle. Es sind uns nicht mehr viele widerständige Orte geblieben. Paris, Berlin, Amsterdam, Derry,… in so vielen Städten sind die widerständigen Viertel dem Zangenangriff von Repression und Gentrifizierung, der historischen Kapitulation der antagonistischen Linken zum Opfer gefallen. Erinnern im besten Fall noch bunte Wände und isolierte Hausprojekte an besseren Zeiten. Winter Is Coming. Haben die jungen Wilden der Bewegung gegen das loi travail im Frühjahr 2016 auf ihre Transparente geschrieben. Dies ist eine unumstößliche geschichtliche Tendenz, die Frage ist ob wir dem Aufmarsch der Untoten tatenlos zusehen werden, oder unsere Bündnisse schmieden mit all Jenen, denen noch ein Herz in der Brust schlägt.
NO PASARAN heißt es in Exarchia auf den Plakaten, die in diesen Tagen die Wände des Viertels zieren. Die geschichtliche Analogie mag auf den ersten Blick anmaßend wirken, aber sie speist sich aus einem tieferen Bewusstsein der geschichtlichen Entwicklung, der Notwendigkeit, dem Aufziehen des Faschismus in Europa an diesem Ort entschlossenen Widerstand entgegen zu setzen. Wir haben Madrid nicht halten können, obwohl so viele von uns damals nach Spanien gegangen sind, wir weltweit Unterstützung für die Genoss*innen organisiert haben. Wir sind verraten worden von den Stalinisten, den bürgerlichen Demokratien des Westens. Wir alle wissen, was darauf folgte. Winter Is Coming. Exarchia braucht uns. Aber vor allem brauchen wir Exarchia. Brauchen wir Orte der Solidarität und der Selbstorganisierung, brauchen wir Orte, an denen wir uns wie der Fisch im Wasser bewegen könne, die Bullen als das demaskiert werden, was sie in ihrer Essenz sind, Besatzungstruppen des Empires zu Aufrechterhaltung der Verwertungslogik des Kapitalismus.
Wir brauchen Exarchia, damit unsere Träume, unsere Sehnsüchte weiterhin einen Ort haben, an dem sie leben können. In aller Widersprüchlichkeit, die die nackte, kalte Realität des Erwachens am frühen Morgen mit sich bringt. Exarchia darf nicht fallen. Wir dürfen es nicht fallen lassen,weil es unseren eigenen Fall in eine tiefe Hoffnungslosigkeit bedeuten würde. Die Gefährt*innen aus Exarchia haben in den letzten Wochen wiederholt um unsere Solidarität, in jeglicher Form gebeten. Sie haben ein Recht darauf gehört zu werden. Von unseren Herzen. NO PASARAN.
Es folgt eine sinngemäße Übersetzung eines Textes von Yannis Youlountas, der dieser Tage veröffentlicht wurde. Man möge mir Fehler in der Übersetzung nachsehen, diese Arbeit erfolgte in Eile, weil nicht mehr viel Zeit bleibt.
„Vor dem Hintergrund der alltäglichen polizeilichen Gewalt, die sich seit Beginn der Besetzung des aufständischen und solidarischen Viertels von Athen verschärft hat:
'Wir werden bald Tote in Exarchia zu beklagen haben'
Dieser Satz wird heute Morgen von vielen wiederholt, in der Nachbarschaft, wo wir mit einigen Bewohnern zu Mittag essen und eine Bestandsaufnahme der Situation machen. Ein alter anarchistischer Gefährte ist überzeugt, dass wir 1985 oder 2008 noch einmal erleben werden. In jenen Jahren wurde jeweils ein junger Aktivist von einem Polizisten ermordet, und diese Gewalttaten führte zu sehr heftigen Ausschreitungen. Der Dezember 2008 erschütterte die Macht. Mehr als 300 Banken und Luxusgeschäfte wurden in Brand gesetzt. das Parlament wurde belagert.
Heute ist die Stimmung in der Gesellschaft nicht mehr die selbe, aber die Überdrüssigkeit angesichts der allgegenwärtigen Misere kocht über, befindet sich auf ihrem Siedepunkt. Etwas schwelt. Es ist, als wenn ein quälender Schmerz im Magen uns nicht zur Ruhe kommen lässt.
Die Besatzungstruppen im Stadtteil intensivieren ihre tägliche Gewalt gegen die Migranten, gegen lokale Aktivisten, gegen Menschen, die aus anderen Ländern angereist sind um sich solidarisch zu zeigen und in den letzten Tagen richtete sie sich in einer homophoben Attacke gegen ein schwules Paar. Im Nordwesten des von der Polizei besetzten Stadtteils ist die Situation sehr schwierig geworden, vor allem für die besetzte 'Notara 26', die sich in der Mitte des betreffenden Gebietes befindet, nahezu von Polizeistationen umzingelt. In diesem Bereich wurde auch das schwules Paar von der Polizei angegriffen. In diesem Gebiet wurden auch Faschisten im small talk mit Bullen gesichtet, sie trugen T-Shirts der neonazistischen Ultras von 'Lazio Rom' und der Identitären Bewegung von 'Defend Europe'.
Aber das, was rund um den Exarchia Platz herum geschieht, ist auch nicht gerade besser. Die Tränengasgranate, die in das selbstverwaltete Soziale Zentrum K*VOX geworfen wurde, in dem sich zu diesem Zeitpunkt viele Menschen aufgehalten haben, hätte jemanden töten können. Es ist im Übrigen ein illegaler Akt, selbst in Kriegszeiten, in einem geschlossenen Raum Kampfgas einzusetzen. Es handelt sich eigentlich um eine Straftat, die theoretisch von der internationalen Gerichtsbarkeit sanktioniert wird.
Es kommt vor, dass wir im K*VOX von einem alten Gefährten besucht werden, der an Atemwegsinsuffizienz leidet. Wenn er in dieser Nacht bei uns gewesen wäre, könnte er jetzt tot sein, der giftige Qualm war so stark im Inneren des Hauses und alle Ausgänge von den Bullen blockiert. Oder was noch tragischer gewesen wäre, eine Frau aus einer Gruppe die das Projekt frequentiert, hat ein kleines Baby und besucht uns ebenfalls des Öfteren zusammen mit ihrem Kind. Was wäre passiert?
Das ist noch nicht alles. Wie von Giorgos Kalaitzidis (Mitbegründer von Rouvikonas) bestätigt, und in den selbstverwalteten Medien der sozialen Bewegung berichtet, hat einer der Polizisten seine Pistole gezogen. An Zeugen dazu mangelt es nicht, Besetzer von K*VOX und auch Besucher. Fast jeder hat das gesehen, auch wenn wir leider kein Foto des Geschehens haben. Und wenn der Polizist gefeuert hätte, was wäre dann in der Exarchia und darüber hinaus in Athen passiert?
Gestern Abend schrieb Giorgos Kalaitzidis, der die Nachbarschaft und ihre Geschichte gut kennt, auf seiner Facebook-Seite: 'Es wird passieren. Es ist sehr wahrscheinlich, dass wir bald in der Exarchia Tote sehen werden.'
Angesichts der Entwicklung der Situation, der Gewalt der Besatzungstruppen und der großen Anzahl von Faschisten und Aufstandsbekämpfungseinheiten, die sich im Zuge der Besetzung des Viertels durch die Polizei gegenseitig Besuch abstatten, denken viele von uns hier das Gleiche. Heute Morgen, kurz vor 9:00 Uhr (griechische Zeit), wurden im Osten von Exarchia Schüsse abgegeben. Wenige Augenblicke später wurde die Militärpolizei gesichtet. Im Moment wissen wir nicht genau, was passiert ist. Wir werden berichten, sobald wir mehr wissen.
Fast jede Nacht greifen anarchistische und revolutionäre Gruppen in der Nachbarschaft Polizeieinheiten an. Vorgestern griffen etwa 50 Aufständische die Polizeistation an, die sich an der Kreuzung der Straßen Tositsa und Spirou Trikoupi befindet. Die Polizeierklärung spricht von einem ''Feuerregen und berichtet das 'in wenigen Sekunden 80 Molotows geworfen wurden'. Die herbei eilenden Polizeiverstärkungen konnten die Angreifer nicht fassen, die sehr schnell in den Straßen der Nachbarschaft verschwunden waren.
NEUER ANGRIFF DER POLIZEI AUF 11 BESETZUNGEN, EINSCHLIESSLICH DER NOTARA 26 UND DEM K*VOX!
Anstatt ihre eigene Polizei zu kontrollieren und die faschistische Miliz, die an ihrer Seite herum lungert, zu vertreiben, hat die griechische Regierung beschlossen, die Situation in Exarchia noch weiter zu verschärfen! Gestern Abend kündigten Fernsehnachrichten, darunter der Fernsehsender Antenne 1, einen Strategiewechsel des Staates an: Eine Verschärfung der Repression aufgrund des Widerstandes der letzten Tage im Viertel, was einen unmittelbaren und gleichzeitigen Angriff auf 11 Besetzungen bedeutet, um die Mobilisierung, die Tag für Tag zunimmt und gegen die die Behörden schnell vorgehen wollen, zu brechen. Gerüchten zufolge würden die 'Notara 26' und das K*Vox auf der Liste stehen.
Es ist die Rede von einem Angriff am Montag im Morgengrauen oder an einem der folgenden Tage. Angesichts der Anzahl der von der Operation betroffenen Orte, ihrer verstreuten Verteilung im Viertel und des Symbolwerts, den diese Projekte für die soziale Bewegung haben, benötigte der Staat für eine solche Operation eine echte Bullenarmarda, wesentlich größer als jene Bulleneinheit die am letzten Montag die Räumung durchgesetzt hat.
Diese rasante Entwicklung zeigt, dass Kyriakos Mitsotakis nun als konsequent dastehen will. Er will den harte Rechten geben und in diesem Viertel 'aufräumen', das einen Makel für das Athener Gentrifizierungsprojekt darstellt. Er will auch die Forderung einiger seiner europäischen Kollegen erfüllen, die sich Sorgen wegen der Ausstrahlungskraft dieses Symbol des Widerstands und der Utopie für den ganzen restlichen Kontinent machen. Es gibt keine Alternative zum Bestehenden und es darf keine geben: Wir kennen diese Melodie.
Bereitet euch darauf vor, Genossen. Die kommenden Stunden werden entscheidend sein. Wir werden eure Unterstützung, euer Engagement, euren Einsatz, euren Protest brauchen, wo immer ihr auch seid. Die Herausforderung besteht nicht nur in der Verteidigung eines einzigartigen Viertels in Europa mit seiner Ansammlung von selbstverwalteten Orten, seiner Bereitschaft zum Widerstands gegen alle Mächte, in der Schönheit seiner Solidarität mit den Prekären und Migranten. Nein, die Sache um die es geht, ist größer als das.
Die Verteidigung von Exarchia verteidigt unser Möglichkeit zu zeigen, dass andere Wege möglich sind, aus der allgegenwärtigen Sackgasse heraus, in der sich diese Welt befindet.“