Warum wir keine Märtyrer brauchen

 

Unser Text ist eine Antwort auf den Text über Nero, der am 18.06.2019 in der Vice erschien. (https://www.vice.com/de_ch/article/3k34gk/nero-berliner-linksautonomer-blendet-polizei-hubschrauber-landet-im-gefaengnis)

Auch, wenn nun schon fast zwei Monate seit Erscheinen des Textes vergangen sind, ist es uns immer noch wichtig, den Artikel nicht unbeantwortet stehen zu lassen. Wir denken, dass in dem Text einige Aussagen enthalten sind, die wir so nicht stehen lassen können. In dem Text wird unseres Erachtens nach ein sehr falsches Bild davon gezeichnet, wer wir, die Autonomen, sind und was wir wollen. Das wollen wir berichtigen.

Wir wollen mit unserer Antwort nicht Nero persönlich angreifen oder ihn gar diskriditieren. Gerade haben wir keinerlei Kenntnis von einem Dementi seinerseits und können daher nur davon ausgehen, dass er mit dem in dem Text geschriebenen einverstanden ist. Mit dem oben genannten Text hat Nero sich aber als Einzelperson in eine ausgesprochen exponierte Stellung gegeben, die wir hier nur aufgreifen. Wir betonen: Alle anderen Macker und vermeintlichen Märtyrer unter den Autonomen sind genauso Adressaten unserer Kritik!

 

 

Schon die Einleitung des Textes ist schlichtweg falsch. Nero ist kein Märtyrer in der linksradikalen Szene. Wir, die Verfasserinnen dieses Textes, können selbstverständlich nicht für die gesamte linksradikale Szene sprechen, aber wir lehnen das Märtyrertum schon aus der Idee heraus ab. Wir, die Autonomen, brauchen keine Individuen, die ihrer Überzeugung wegen Todesqualen leiden, und zu denen wir dann aufschauen und die uns den Weg weisen. Wir sind uns selbst genug und schauen nicht zu Einzelnen auf, stattdessen solidarisieren und verbünden wir uns miteinander, um uns zu unterstützen und zu stärken, weil unsere emanzipatorischen Kämpfe untrennbar miteinander verwoben sind.

Weiter ist Nero durch seine Aktion auch nicht zur Legende geworden. Sicherlich hat ihn die darauffolgende Repression mit Haft und zugehöriger Soli-Kampagne greifbar gemacht, aber für uns galt immer noch: „Getroffen hat es einen, gemeint sind wir alle!“ Nero ist keine Legende und hat auch sonst keinen speziellen Status, für den er teuer bezahlen musste. Er ist genauso belanglos und zugleich genauso wichtig wie wir alle. Dieses eine Mal hat der Staat ihn erwischt, wie schon viele andere vor und nach ihm.

Die eingangs beschriebene Aktion, das Entfernen der Jörg Meuthen-Plakate, ist großartig. Was uns stört: Dass Nero den Ton angeben soll. Wenn dem so ist, dann müssen wir und vor allem er sich fragen, wie es um seine Emanzipation bestellt ist. Er bestimmt und zwei Frauen, die es im Gegensatz zu Nero wohl nicht wert sind, weiter benannt zu werden, führen aus? Die hier dargestellte Rollenverteilung ist sexistisch, daran Spaß zu haben ist es erst recht und widerlich noch dazu. Wir lehnen es ab, dass Menschen über andere bestimmen und diese unterdrücken, sei es wegen des Geschlechts oder aus sonstwelchen Gründen. Unser Ziel ist die Befreiung der Frauen und aller anderen Geschlechter und der Untergang des Patriarchats.

Außerdem werden Aktion immer zusammen geplant und durchgeführt. In unseren autonomen Gruppen haben wir keine Hierarchien und keine Anführer.

Genauso unterteilen wir unsere Aktionen nicht nach „low level“ oder dem Grad der angewandten Gewalt. Wir überlegen unsere Aktionen nach strategischen Gründen, ob sie geeignet sind, unser Ziel zu erreichen. Wenn es nötig ist, wenden wir dann selbstverständlich auch Gewalt gegen Sachen an, aber niemals zum Selbstzweck – wir sind ja keine Hooligans.

Nero sagt, er wollte mit dem Blenden des Hubschraubers verhindern, dass seine Freunde beim Randalieren in der Rigaer gefilmt werden. Das klingt ganz nett, aber ignoriert, dass wir unsere Organisierung nicht auf Sympathien, sondern auf gemeinsame Ideen beziehen. Natürlich haben wir auch Freund*innen, aber wir stehen zusammen mit all unseren Verbündeten - Kompliz*innen, Gefährt*innen, Genoss*innen, Revolutionär*innen, Unterdrückte, Aufständige, Ausgestoßene, Widerspenstige und wie auch immer wir sie nennen - das sind weit mehr als die Freund*innen, die wir mögen und gern haben.

Die Ka(d)terschmiede ist auch mehr als ein Kellerloch mit Möbeln vom Sperrmüll. Sie ist vor allem selbstverwalteter Treffpunkt, an dem sich Nachbar*innen und Aktivist*innen austauschen, vernetzen und organisieren können, es gibt eine Vokü und regelmäßig verschiedenste inhaltliche Veranstaltungen. Die Ka(d)terschmiede ist einer dieser Orte, an denen wir unsere Ideen von Selbstverwaltung zur Praxis machen können.

Neros schnelle Festnahme zeigt, wie wichtig es ist, sich auf Aktionen gut vorzubereiten. Dass Bullen-Helis mittels Wärmebild-Kameras gesuchte Objekte markieren und verfolgen können und so effektives Mittel sind, um den Bullen am Boden die Festnahme zu erleichtern, ist schon lange eine bekannte Information. Dieses Wissen hätte bei den Gedanken zu einer Flucht miteinbezogen werden müssen. Selbstverständlich ist es auch oft notwendig, spontan zu agieren, und dann müssen wir diese Vorbereitung entbehren. Wenn es aber geht, wenn wir Zeit zur Vorbereitung haben, dann sollten wir diese nutzen, um sauberer arbeiten zu können, weniger Spuren zu hinterlassen, besser fliehen zu können und den Fängen der Repressionsbehörden zu entziehen.

Richtig mag sein, dass die linksradikale Szene - und vor allem die linksradikale Bewegung - schrumpft, mit sich selbst beschäftigt ist und manchmal auch einen Kleinkrieg gegen die Bullen führt. Das liegt schlichtweg daran, dass uns dieser Drecks-Staat, wo er nur kann, konsequent versucht mit Repressionen zu überziehen: Häuser und Wagenburgen werden geräumt, Linksunten.indymedia.org verboten, Verbündete in den Knast gesteckt,… Die Repression scheint zu wirken. Wir brauchen aber deswegen keine Heldenfiguren, keine Märtyrer, keine Anführer, die Aufsehen erregen. Wir brauchen entschlossene Menschen, die sich organisieren, sich gegenseitig unterstützen und so auf Augenhöhe für eine freie und solidarische Gesellschaft kämpfen. Wir brauchen nur uns selbst, um die herrschenden Verhältnisse zu stürzen.

Nero sagt, sein Kopf sei stehen geblieben als er 15 war. Das bedauern wir. Antifa ist auch für uns mehr als jugendliche Rebellion, deswegen bleibt der Kopf auch nicht bei 15 Jahren stehen. Antifa heißt auch, jeden Tag zu hinterfragen, nicht nur die Verhältnisse, sondern auch sich selbst, sich kontinuierlich auseinanderzusetzen und weiterzuentwickeln. Jugendliche Rebellion kann aber der erste Zugangsmoment zur Politisierung und Radikalisierung sein.

Nero sagt auch, dass Berlin die Anlaufstelle für Autonome in Deutschland sei. Wir wissen, Autonome gibt es überall, in den Städten und im Hinterland. Letzteres sollte er noch aus Heiligendamm wissen.

Wir bedauern auch, dass Nero keine Hoffung hat, dass sich etwas verändert. Wir streben hoffnungsvoll eine bessere Welt an, auch, wenn klar ist, dass die Revolution nicht morgen sein wird und es bis dahin vermutlich noch viel Zeit und Anstrengung braucht. Für uns sind Skoda fahren und Tatort gucken auch nicht die Sachen, gegen die wir uns auflehnen müssen. Bürgerliche Zwänge lehnen wir ab. Aber die unterdrückten und ausgebeuteten Klassen sind nicht unsere Feinde – hingegen ist es der Kapitalismus, der die Grundlage dafür bildet, und den gilt es zum Einsturz zu bringen! Hier lohnt sich durchaus ein Verweis auf Marx‘s Kapital.

Wir unterscheiden unsere Aktionen auch nicht in Kategorien wie „Kindergarten“ oder „feierlich“. Für uns sind alle Aktionen, die die herrschenden Verhältnisse radikal in Frage stellen, gleich gut. Egal, wie unscheinbar sie wirken, wie militant sie sind, wie mutig wir meinen, sein zu müssen, wie niedrigschwellig sie sind. Uns geht es immer um das Ziel, die befreite Gesellschaft, danach wählen wir unsere Mittel. Alle Mittel, egal ob militant oder nicht, sind gerecht, wenn sie der Emanzipation und Subversion dienen. Nero reproduziert mit seiner Aussage "Die Aktion mit dem Hubschrauber war doch Kindergarten, ein Banküberfall wäre feierlich gewesen." außerdem unserer Auffassung nach den patriarchalen Stereotyp des starken Mannes.

Wir finden Enteignung - auch die von Banken - großartig! Bei Bankenteignung müssen wir immer mitbedenken, dass in der Bank anwesende und zu Geiseln genommene Menschen traumatisiert werden können und dies in unsere Entscheidung miteinbeziehen. Mit Bankenteignung können wir uns Geld für unsere linken Projekte besorgen. Bankenteignung zur Finanzierung des persönlichen Luxus, zum Beispiel zum Fahren eines Sportwagens, finden wir nicht revolutionär. Besser kaufen wir uns allen davon unauffällige Fluchtwägen, Bolzenschneider oder ein Boot, um Menschen auf dem Mittelmeer vor dem Ertrinken zu bewahren.

Das hier ein Vergleich zwischen Neros individualistischem Geschwätz von persönlichem Luxus und den radikalen Aktionen von Andreas Baader gezogen wird, ergibt für uns keinen Sinn. Nero will als Einzelkämpfer sein persönliches Glück ermöglichen, Andreas Baader - so kritisch mensch die RAF auch betrachten mag - kämpfte mit seinen Aktionen für einen Umsturz der herrschenden Verhältnisse.

 

Abschließend bleibt noch unsere Freude, dass sich Nero im Knast nicht hat brechen lassen. Die JVA Tegel muss selbstverständlich schreiben, dass er ein anständiger Häftling war: jede andere Aussage würde ihre Machtposition offen in Frage stellen. An dieser Stelle ist es wichtig klarzustellen, dass wir natürlich Neros Aussage glauben schenken und nicht die der JVA Tegel.

Wir hoffen aber auch, dass es ihm um mehr geht als Zerstörungslust und „ein paar Jahre hinter Gittern für ein paar Sekunden Chaos“.

Uns geht es jedenfalls um mehr: Unser Ziel ist die Befreiung aller Menschen, die Beseitigung jeder Herrschaft und die Erschaffung einer Gesellschaft, in der wir alle frei und solidarisch miteinander leben können. Manchmal scheinen ein paar Sekunden Chaos das richtige Mittel dafür zu sein und ein paar Jahre hinter Gittern ist dann die Konsequenz.

Wir wünschen Nero, dass er diese Ziele teilt. Vielleicht mag er ja sogar eine kritische Antwort auf diesen Text, und vor allem auf den zitierten Text verfassen.

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Ergänzungen