Offener Brief: Tübinger Stadtverwaltung lügt – Oberbürgermeister Boris Palmer schützt die Lüge – Presse klärt nicht richtig auf
Offener Brief: Stadtverwaltung lügt – Boris Palmer schützt die Lüge – Presse klärt nicht richtig auf
Das Verhalten der Verantwortlichen aufseiten der Stadt Tübingen im Kontext der Debatte um die Clara-Zetkin-Straße ist ein Skandal
Wir freuen uns, dass wir als Aktionsbündnis „Kein Knoten für Zetkin“ nach monatelangen Bemühungen unser erklärtes Ziel, die Markierung der Tübinger Clara-Zetkin-Straße als „kritikwürdig“ zu verhindern, Ende Oktober erreicht haben. Was uns jedoch nach wie vor beschäftigt, ist das Verhalten der Verantwortlichen insbesondere der Stadtverwaltung.
Vorwürfe
Unser Fact Sheet, in dem wir unter Verweis auf historische Quellen nachgewiesen haben, dass verschiedene Behauptungen der Kommission zur Überprüfung der Tübinger Straßennamen über Clara Zetkin nicht stimmen, erhielten Kommission, Kulturamt und alle Gemeinderatsmitglieder bereits im Februar. Eine direkte Antwort darauf haben wir nie erhalten. Erst am 21. September veröffentlichte die Kommission eine Stellungnahme, in der uns, anstatt sachlich auf unsere Argumente einzugehen, uninformierte Kritik vorgeworfen wurde.
Im Mai wurde der Bereich zum „Mitdiskutieren“ auf der Website der Stadt, auf den die Aufkleber an den bereits mit „Knoten“ aus dem 3D-Drucker als „kritikwürdig“ markierten Straßen verwiesen, zunächst kommentarlos gelöscht. Der Versuch, das totzuschweigen, misslang: Wir bestanden auf einer Erklärung. Diese gab Dagmar Waizenegger vom Kulturamt schließlich der Presse gegenüber; am 4. Oktober wurde sie im Schwäbischen Tagblatt zitiert: „Uns fehlen die Kapazitäten, beleidigende und verleumderische Statements redaktionell so zu bearbeiten, dass wir sie guten Gewissens veröffentlichen können.“ Tags darauf äußerte sie sich bei einer Sitzung eines Gemeinderats-Ausschusses ähnlich.
Daraufhin erinnerten wir die Stadtverwaltung an ihre Ankündigung: „Die Inhalte der eingegangenen Einsendungen werden dem Gemeinderat und den Ortschaftsräten vor deren Entscheidung über mögliche Umbenennungen oder Kennzeichnungen von Straßennamen zur Verfügung gestellt.“ Auf unser Betreiben hin geschah dies schließlich, wenn auch verspätet, im Oktober, kurz vor der Entscheidung. Nun zeigte sich: Eine Flut beleidigender Statements, der personell nicht mehr beizukommen gewesen wäre, hat es nie gegeben. Die Rechtfertigung des Kulturamts war erfunden – sicher auch, um unseren Protest damit zu diskreditieren. Hier haben wir den Sachverhalt ausführlicher dargestellt; dort finden sich auch die zur Veröffentlichung eingesandten Statements.
Empörung
Vor der Entscheidung über die „Knoten“, die am 26. Oktober erfolgte, informierten wir die Gemeinderatsfraktionen über den Sachverhalt. Weil wir die Falschbehauptung als das bezeichneten, was sie ist – eine Lüge –, schlug uns teilweise, explizit von grüner Seite, Empörung entgegen. Kurt Tucholsky stellte bereits 1922 fest, in Deutschland gelte „derjenige, der auf den Schmutz hinweist, für viel gefährlicher als der, der den Schmutz macht“. Daran scheint sich bis heute nichts geändert zu haben.
Am 26. Oktober erhielten wir eine Mail von Oberbürgermeister Boris Palmer, in der dieser schrieb, in der Sitzung vom 5. Oktober habe Dagmar Waizenegger den Zusammenhang zwischen beleidigenden Einsendungen und der Löschung des Formulars auf der Website der Stadt nicht explizit hergestellt. Deshalb sollten wir den Vorwurf der Lüge zurücknehmen und diesen nicht wiederholen. Doch davon abgesehen, dass Frau Waizenegger diesen Zusammenhang in der Sitzung sehr wohl suggerierte, hatte sie diesen am Tag zuvor gegenüber der Presse ja bereits ausdrücklich und unmissverständlich hergestellt. Nachdem wir Boris Palmer in unserer Antwort das entsprechende Zitat aus dem Schwäbischen Tagblatt geschickt hatten, hatte er offensichtlich keinerlei Argumente mehr. Er antwortete lediglich noch: „Es wäre angemessen, Sie ziehen den Vorwurf der Lüge zurück. Alles andere ist nicht relevant.“
Absurd
„Wir verwahren uns gegen die Diffamierungen“, beeilte sich Dagmar Waizenegger in der entscheidenden Gemeinderatssitzung am 26. Oktober zu sagen, als der Tagesordnungspunkt „Kommentierung von Straßennamen durch Knoten“ an die Reihe kam. Die Argumente des Aktionsbündnisses seien „keine fundierte Gegendarstellung, da sie von Personen kommen, die nicht an den Universitäten forschen“. Ähnlich äußerten sich verschiedene Stadträte. Andrea Le Lan (SPD) verstieg sich sogar zu der Aussage, allein schon, wenn man einer wissenschaftlichen Kommission attestiere, in einem bestimmten Punkt nicht wissenschaftlich gearbeitet zu haben, gehe das bereits in „Richtung Diffamierung“.
Die stellvertretende Gemeinderatsvorsitzende Susanne Bächer (AL/Grüne) meinte, Vorwürfe gegen Kommission und Kulturamt seien „nicht angebracht“ und für die „Zusammenarbeit zwischen Stadt und Universität nicht förderlich“. CDU-Stadträtin Prof. Dr. Ulrike Ernemann dankte Kommission, Kulturamt und Dagmar Weizenegger persönlich – solide Expertise in Zeiten schneller Nachrichten und Fake-News sei „ein Wert für sich“, meinte die CDU-Frau, sogar die Worte „Näherung an Wahrheit“ fielen. Angesichts dessen, dass wir nur wenige Tage zuvor nachgewiesen hatten, dass die Stadtverwaltung in Person Dagmar Waizeneggers gelogen hatte, eine absurde Äußerung.
Die Wochenzeitung Kontext schrieb nach der Entscheidung: „Gemeinderat: Ja, aber doch nicht“ – das trifft es ganz gut. Man muss sich schon fragen, wie es denn sein kann, dass Kommission und Kulturamt von einer absoluten Mehrheit im Gemeinderat geradezu über den grünen Klee gelobt werden, dann aber 20 von 32 anwesenden Stimmberechtigten deren Empfehlungen gar nicht folgen und gegen einen „Knoten“ für Zetkin stimmen. Da es sieben Enthaltungen gab, haben überhaupt nur fünf Gemeinderatsmitglieder für eine Einordnung der Clara-Zetkin-Straße als „kritikwürdig“ gestimmt. Mit seiner Entscheidung ist der Gemeinderat also letztlich unseren Argumenten gefolgt – aber zugeben wollte das wohl niemand. Auf die Idee, Frau Waizenegger einmal zu fragen, weshalb sie den Gemeinderat, die Presse und die Öffentlichkeit belogen hatte, kam niemand.
Fakten
„Es ist krass, dass unser Protest bis in die Sitzung hinein diffamiert wurde, obwohl wir von Anfang an mit wissenschaftlichen Fakten argumentiert haben“, so unsere Sprecherin gegenüber der Presse kurz nach der Sitzung. In dieser war weiterhin suggeriert worden, das Aktionsbündnis sei beleidigend und nicht sachlich vorgegangen – ohne dass dafür jemals Belege angeführt worden wären.
Den Gemeinderatsmitgliedern war es offenbar egal, dass Behauptungen der Kommission über Zetkin nachweislich falsch waren und sie selbst von der Stadtverwaltung getäuscht worden sind. Anhand dieses kleinen Themas auf lokaler Ebene wird deutlich: persönlicher Ruf, Ansehen und Beziehungen spielen eine größere Rolle als eine demokratische und sachliche Vorgehensweise im Sinne von Transparenz und Wahrheit.
Dass Boris Palmer uns ohne jede Begründung auffordert, die objektiv wahre Feststellung, dass das Kulturamt gelogen hat, zurückzuziehen, finden wir bizarr. Der Oberbürgermeister stellt sich schützend vor das Kulturamt und die Stadtverwaltung, die Beschwerden von Bürgern zum Thema abschmettert.
Presse
Da die Stadt gegenüber dem Schwäbischen Tagblatt nachweislich falsche Behauptungen gemacht hat, versuchten wir seit Ende Oktober, eine entsprechende Berichtigung zu erwirken. Doch eine solche erfolgte nicht. Stattdessen erschien erst nach Wochen, am 1. Dezember, ein Artikel zum Thema. In dem Text mit dem Titel „Die Entscheidung ist gefallen, die Debatte geht weiter“ heißt es, der Stadt werde „Falschaussage vorgeworfen“; die Tatsache, dass die Lüge zweifelsfrei aufgedeckt wurde, wird aber nicht klar benannt. Stattdessen werden völlig irrelevante Ausflüchte von Frau Waizenegger ausführlich und unkommentiert wiedergegeben. So deutet sie beispielsweise an, dass mehr als die 14 bekannten Statements eingegangen seien; deren Absender hätten sich aber nicht mit einer Veröffentlichung einverstanden erklärt. Angebliche Statements, die gar nicht für eine Veröffentlichung vorgesehen waren, können aber ja wohl schlecht als Beleg für die Behauptung herhalten, man habe das Diskussionsangebot deswegen beenden müssen, weil man es personell nicht mehr geschafft habe, Statements für eine Veröffentlichung zu bearbeiten!
Auch ein paar wenige angeführte E-Mails, die bei der Stadtverwaltung zum Thema eingegangen sind, sind keine Erklärung dafür, dass das Diskussionsportal auf der Website geschlossen wurde – das eine hat mit dem anderen gar nichts zu tun.
Sachlich
Wie wir bereits in unserer Eingabe an den Gemeinderat in Reaktion auf entsprechende Andeutungen der Kommission betont haben, hat das Aktionsbündnis nie jemanden diffamiert, sondern ausschließlich sachlich und mit Verweis auf nachprüfbare historische Quellen argumentiert. Es ist für uns völlig unverständlich, dass unsere Bemühungen derart missachtet und diskreditiert wurden. Schließlich haben wir uns mit unserer Kritik frühzeitig direkt an die Verantwortlichen gewendet und den Austausch gesucht.
Wir finden es erschreckend, wie Personen, die der Öffentlichkeit gegenüber in einer Verpflichtung stehen, sich verhalten. Sowohl die Arbeit der Kommission als auch die von Stadtverwaltung, Gemeinderat und Oberbürgermeister geschieht im Auftrag der demokratischen Öffentlichkeit und wird auch von unser aller Steuergeldern bezahlt. Wir erwarten Gewissenhaftigkeit und Transparenz anstelle der beschriebenen Versuche, sich gegenseitig zu decken und Kritik abzuwehren.
Wir fordern, dass die Stadtverwaltung endlich einräumt, dass gelogen wurde, und erwarten mindestens eine klare und unmissverständliche Richtigstellung der unhaltbaren Behauptungen, die im Oktober getroffen worden sind.
Tübingen, 11.12.2023