Zur Praxis der angemeldeten Demonstration
Eine Reflexion vom 1. Mai und dem 3. Juni 2023
I. Analyse
Die Erfahrungen, die wir als Anarchist:innen auf der Straße machen, sind in letzter Zeit ziemlich
ernüchternd gewesen. Unsere Demonstrationen am 1. Mai fanden größtenteils gar nicht richtig
statt. Auch die antifaschistische Demonstration in Leipzig am 3. Juni, in Solidarität mit den
Angeklagten des Antifa-Ost-Verfahrens, war ein ziemlich bedrückendes Erlebnis. Die
polizeiliche Praxis des Kessels [d.h. umstellung einer Menge durch die Polizei, entweder
während diese Menge läuft, oder an einem festen Platz] ist in den letzten Jahren immer
ausgereifter und perfektionierter geworden. Wo wir in vergangenen Jahren noch mit ein bisschen
Rauch und Pyrotechnik in einem Laufkessel demonstrieren ‘durften’, werden Demos
mittlerweile erst garnicht mehr laufen gelassen — alles endet sofort in einem zermürbenden
Kessel.
Grund dafür sind mehrere Umstände:
• Die Mobilisierung findet vor allem an bekannten traditionellen Kampftagen statt (1. Mai, 8.
März, 13.12.) oder an einzelnen, von derzeitigen politischen Umständen hervorgerufenen
Aktionstagen (Räumung von Lützerath, Linas Prozess, etc.). Die Mobilisierung findet komplett
öffentlich statt, Demonstrationen werden angemeldet und oft von der Polizei schon länger
bekannten Bündnissen/Gruppen organisiert. All das spielt dem Repressionsapparat massiv in
die Hände. Die Cops wissen genau, wann und wo wir laufen werden, was die Route ist, wer
sich auf der Demo befinden wird. Schon im Vorhinein kann die Politik für ein mediales
Umfeld sorgen, in welchem wir delegitimiert, und präventive Repressionen (Sperrzonen,
massives Polizeiaufgebot, etc.) legitimiert werden.
• Wir verlassen uns komplett auf das Recht auf Versammlungfreiheit, und vergessen, das dieses
und andere Rechte früher erst erkämpft wurden, und auch immer wieder neu erkämpft werden
müssen. Wir gehen davon aus, dass Demos laufen werden, weil sie ja angemeldet wurden, und
auf ein Verbot reagieren wir mit Empörung und juristischen Mitteln. Das Anmelden sorgt des
Weiteren für eine Verantwortung gegenüber den Anmelder:innen, die Situation nicht zu sehr
eskalieren zu lassen.
Eine Bewegung kann aber nicht entstehen, wenn sie sich für ihr Handeln auf juristische
Rechte, statt auf die Handlungskraft der sich in ihr befindlichen Menschen verlässt.
• Wir verlassen uns darauf, dass die Cops nicht selbst agieren, sondern nur reagieren. Das ist ein
großer Irrtum — nicht nur besteht die Polizei selbst aus faschistoiden oder zumindest eher
reaktionären Einzelpersonen, sondern auch die Polizei als Institution fährt längst einen eigenen
gesellschaftlichen Diskurs. Dieser ist von rechtem Gedankengut geprägt, und richtet sich vor
allem gegen alles, was der bürgerlichen Mitte (scheinbar oder wirklich) entgegensteht. Auf der
Straße bedeutet dies für uns: willkürlich-wirkendes, aber oft schon im Vorhinein geplantes
Knüppeln, Herausgreifen, Angst-machen. Und auch wenn wir wissen, dass Straftaten wie
‘Widerstand’ o.ä. komplett willkürlich vergeben werden, reagieren wir mit Empörung.
Beispielhaft ist hier die Situation am Ende der anarchistischen 1. Mai Demo in Hamburg ’22,
in welcher die Bullen gezielt am Ende der Demo, unter einer Brücke, in den Frontblock hinein
prügelte. Im Moment selbst wirkte es schockierend, im Nachhinein aber wie eine sorgfältig
und perfide geplante Situation. Genauso scheinen auch die sehr plötzlichen Verbote von
Demos, die eigentlich angemeldet waren, etwa. viele 1. Mai Demonstrationen oder die am 3.
Juni in Leipzig, zunächst schockierend und empörend. Im Nachhinein, gerade wenn mensch
sich anschaut, wie Wasserwerfer aufgefahren und wo besonders viele Bullen standen, gewinnt
mensch aber auch hier den Eindruck, das ein loslaufen nie von den Bullen vorgesehen wurde.
• Die Polizei hat den stehenden und den Laufkessel perfektioniert. Schon zu Beginn von
Aufmärschen sind wir umzingelt, die vielen Kameras, Helikopter und Wasserwerfer sorgen für
ein Klima der Angst, und nicht der Ermächtigung. Dazu kommt, dass wir den Cops im
Nahkampf überhaupt nichts entgegenzusetzen vermögen — zumindest jetzt grade nicht. Erst
im Fernkampf haben wir überhaupt eine Chance, Konfrontationen für uns zu entscheiden. Eine
dynamische Situation kann so überhaupt nicht entstehen, und der Versuch, eine solche
auszulösen bringt nichts als ziemlich schwer zu stemmende Repression.
• Es ist vielen in der Szene eher unklar, was Demos eigentlich bringen sollen. Warum sollten wir
laufen, wenn wir nur ein bisschen rufen, und hauptsächlich andere linksradikale damit
erreichen — aber es nicht schaffen, mit dem Staat in Konfrontation zu gehen? Dabei wäre die
Möglichkeit, militant gegen den Staat zu agieren, eine Möglichkeit, den Anarchismus als
Praxis sowie als (anti-)politische Idee mitten hinein in derzeitige linke/soziale Kämpfe zu
katapultieren — welche ja ebenfalls von Machtlosigkeit und fehlender Siegesmomente geprägt
sind (siehe etwa den Kampf um Lützi, o.ä.).
Wir können zusammenfassen: Demonstrieren bringt uns zurzeit nicht voran. Im Gegenteil, es ist
zermürbend, immer wieder an den gleichen traditionellen Terminen im Jahr ewig in der Sonne
im Kessel gebraten zu werden, verprügelt zu werden, oder mitansehen zu müssen, wie
Freund:innen verprügelt werden. Ganz generell scheint auch für unsere Kämpfe der Sinn hinter
traditionellen Aufmärschen stumpf. Und die Übermacht der Polizei drückt sich immer doller in
das politische Bewusstsein vieler.
Das erlahmt unsere Bewegung zusehends. Es gibt eine Stimmung, in welcher Menschen
zusehends eine Nostalgie für Revolten der Vergangenheit entwickeln. Junge Genoss:innen
trauern darum, bei G20 nicht dabei gewesen zu sein. Der Aufstand, eigentlich eher ein Mittel als
ein Zweck, wird zunehmend glorifiziert und idealisiert. Aus aufständischem Handeln wird eine
aufständische Ästhetik — Molli-Aufnäher ersetzen das tatsächliche Bauen und Werfen, etc.. Das
der Riot neben dem Angriff vor allem auch aus dem Zusammenkommen besteht, wird dabei
zunehmend vergessen. Mensch könnte sagen, eine post-revoltäre Depression greift um sich.>1<
Auch für die Gruppen und Bündnisse, die Demos planen, ist das alles extrem zermürbend. Eine
große Bündnis-Demo mit organisierten Reihen, Lautsprecherwagen, Reden, Mobilisierung in
verschiedenen Städten erfordert viel Zeit und viel Kraft. Wenn die Mühe dann einfach so
verpufft, und Organisator:innen sogar noch im Kessel oder der Polizeistation landen, zerrt das
stark, ermüdet, entpolitisiert.
II. Schlussfolgerung
Wir sollten in Zukunft alles, was nach ‘autonom’ und ‘staatszerlegend’ aussieht, nicht mehr
anmelden. Prinzipiell macht es ja auch keinen Unterschied mehr, ob wir anmelden oder nicht,
wenn angemeldete Demos sowieso nicht mehr loslaufen können. Parallel dazu sollten wir infrage
stellen, wohin wir mit unseren Demos eigentlich wollen. Sowohl für das Ziel, anarchistischen
Inhalten eine Plattform zu geben, wie auch für das Ziel, militantes Zusammenkommen und
Agieren zu ermöglichen, braucht es eine andere Praxis.
Wenn es darum geht, anarchistischen Inhalten eine Plattformen zu geben, aber nicht darum, die
Cops anzugreifen oder kurzzeitige autonome Zonen zu etablieren, fragt sich, warum es einen
schwarzen Block braucht. Es schien zumindest für nicht an der Organisation beteiligte so, als
wäre in den letzten beiden Jahren die schwarz-rote 1. Mai Demo in Hamburg weder auf
Auseinandersetzung aus, noch wirklich irgendwer in der Demo darauf vorbereitet — trotzdem
waren alle in schwarz und vermummt, und der Frontblock somit eine perfekte Zielscheibe. Es
war des Weiteren eher unklar, wofür wir eigentlich genau auf der Straße waren, außer vielleicht
weil es irgendwie eine anarchistische Demo am 1. Mai ‘geben muss’…
Ähnlich aber auch am 3. Juni in Leipzig. Die Demo wurde schon im Vorhinein verboten, aber
anstatt deswegen mit 1500 Leuten abends die Stadt unsicher zu machen, gingen wir auf eine
angemeldete Demo — abends waren dann immer noch einige Leute im Kessel, und viele zu
müde, um sich die Straße zu nehmen. Zudem wurde seit Monaten für den Tag mobilisiert. Wie
schon oben allgemein beschrieben, zog das einen ziemlichen Rattenschwanz hinter sich: die
Polizei konnte sich ausgiebig vorbereiten; das heißt sowohl medial, als auch in Form von
hunderten BFElern und USKlern und mehreren Wasserwerfern. Sich Hoffnungen zu machen, mit
einer angemeldeten Demo gegen eine solche Übermacht anzukommen, ist leider etwas naiv.
Es sollte uns klar sein: Wenn es um gemeinsame, spontane Militanz geht, ist eine angemeldete
und im Vorhinein großflächig angekündigte Demo nicht ‘the way to go’.
(1) Eine mögliche Alternative ist, was in Leipzig am 2. Juni ausprobiert wurde, unter dem
Namen “Massencornern”. Es wurde ohne erkennbare Organisator:innen oder Bündnisse dafür
mobilisiert, um 8 in der Bornaischen Straße zu Cornern, also am Straßenrand was zu trinken, und
Musik mitzunehmen. Als es um 10 dann mit den ersten Barrikaden und Feuerwerken losging,
war die Polizei ziemlich unvorbereitet — womöglich, weil sie erst am 3. Juni Krawalle erwartet
hatte, oder weil es 2 Stunden lang komplett ruhig geblieben war, oder auch weil sie sich unter
“Massencornern” schlicht nichts autonomes vorstellen konnte. Dadurch war erstmal gar keine
Polizei zugegen, und auf einem ziemlich großen Abschnitt der Straße wurden Barrikaden gebaut.
Manche beteiligten sich daran, andere tranken weiter ihr Bier und wärmten sich am Feuer. Es
war eine gute Stimmung, eine Stimmung des Zusammenkommens, vermummte und biertrinkende
Menschen lachten einander zu. Menschen, die noch nie an einem Riot beteiligt waren,
konnten sich ausprobieren, weil die vielen Feuer und die relativ ruhige Atmosphäre gefühlte und
tatsächliche Sicherheit bot. Als die Cops dann zunächst in kleineren Gruppen versuchten, von
den Seitenstraßen anzurücken, gelang es mehrmals, sie zurückzuschlagen.
Es war also zum einen ermächtigend, die eigene Handlungsmacht als Bewegung wieder zu
spüren — wo in den Kämpfen, die wir führen, zermürbende Erfahrungen sonst fast alltäglich
sind. Für eine Bewegung sind Erfahrungen des Sieges aber überlebenswichtig. Zum anderen
ermöglichte die autonome Zone ein Zusammenkommen. Der Alltag war irgendwie gebrochen,
und ein Gefühl von Freiheit machte sich in der Straße breit. Wir waren dann auch eher
ausgelassen und entspannt, als die Cops anrückten, schon längst umgezogen oder immer noch an
der Straßenseite mit einem Bier rumstehend. Die Polizei sowieso viel zu gestresst, um
Einzelpersonen, die nur Bier tranken, festzunehmen — dennoch: ein paar Autonome wurden
festgenommen und sitzen jetzt in U-Haft.
(Nur ein paar Anwohner:innen waren sichtlich genervt davon, dass Mülltonnen und
Straßenschilder verbrannt wurden — um das zu umgehen, könnte mensch in Zukunft dafür
sorgen, dass sich auf den Gehwegen Sperrmüll befindet, oder gezielter Baustellen plündern.)
(2) Eine andere Alternative zu angemeldeten Demos wäre eine rein Szene-interne Mobilisierung
zu Demos: ein Aufruf wird über Signal oder mündlich an vertraute Menschen und Gruppen
weitergegeben, und diese geben ihn wiederum an ihre Genoss:innen und Freund:innen weiter, bis
ein großer Teil der Szene davon Wind kriegt. So kann mit relativ wenig Aufwand, einer kurzen
Vorlaufzeit (der Aufruf sollte nicht länger als ein Tag vor dem geplanten Zeitpunkt verbreitet
werden), und ohne erkennbare Organisator:innen eine autonome und sehr handlungsfähige
Sponti [d.h. spontane, oft etw. kleinere Demonstration] aus dem Boden gestampft werden.
Vorausgesetzt natürlich, die Szene ist nicht zu durchlöchert von Spitzeln, und es handelt sich
nicht um Tage, an denen die Cops sowieso in der ganzen Stadt bereitstehen.
In einer etwas kleineren Stadt hat dieses Schema neulich erst ziemlich gut funktioniert — so
kamen am Mittwoch Abend, nach der Urteilsverkündung gegen Lina und ihre Mitangeklagten,
150 bis 200 Leute zusammen, und zogen dann kraftvoll durch die Innenstadt, ohne dass die
Polizei irgendwie darauf vorbereitet waren. Es ergaben sich recht unvermittelt dynamische
Momente; etwa wurde die Bullenwache mit Steinen abgeworfen, und zweimal wurden einzelne
Wannen [d.h. große Polizeiautos] gejagt, die recht schnell abhauen mussten. In kompletter Ruhe
konnte sich die Sponti dann auflösen, es gab an diesem Abend keine Repressionen.
Interessant wäre es auch, die beiden genannten Aktionen miteinander zu verbinden —
Ein dem Massencornern ähnelnder Aufruf, aus dem heraus Barrikaden gebaut werden. Und dann
hieraus entstehend eine Sponti, die Richtung Bankenviertel oder Innenstadt losläuft, während die
Cops damit beschäftigt sind, Barrikaden zu räumen.
(3) Wenn es darum geht, anarchistische Inhalte zu spreaden, ist es durchaus sinnvoll, weiterhin
an traditionellen Terminen auf der Straße zu sein — allerdings nicht in militanter
Erscheinungsform. Stattdessen sollten wir uns viel eher als bunt-aussehender Block unter bereits
bestehende Demos mischen, und hier an andere Kämpfe anknüpfen, aber Menschen auch die
Möglichkeit geben, sich mit Anarchismus auseinanderzusetzen. Am 1. Mai bräuchte es nicht
(nur) ein paar wenige anarchistische Demos in verschiedenen Städten — auf welchen sich die
Szene statt in Kneipen mal ausnahmsweise auf ner Demo trifft, und später gemeinsam im
Polizeikessel rumhockt. Dafür aber anarchistische Blöcke in Demos, die sonst vom DGB oder
roten Gruppen geprägt sind. Oder unangemeldete 1. Mai Demos (siehe etwa den Demobericht
aus Göttingen, https://de.indymedia.org/node/281651). Oder anarchistisch-geprägte, aber auch
familienfreundliche und nicht zu “szenige” Straßenfeste; Infostände mit Zines. Oder auch, um
noch kurz vom 1. Mai wegzukommen, Vorträge an von der Klimabewegung besetzten Schulen
und Unis. Gleichzeitig kann auch das Rückgrat und die Kompromisslosigkeit klassischer
anarchistischer Aktionsformen — etwa Hausbesetzungen —, gepaart mit der Öffnung eines
Raums, in dem das Zusammenkommen unterschiedlichster Menschen möglich wird, durch eine
direkte Aktion hindurch anarchistische Ideen verbreiten.
Es gibt eine Unzahl an Möglichkeiten, unsere Kämpfe und Träume für andere sichtbar zu
machen, der schwarze Block sollte nur einer davon sein.
vgl. v.a. das erste Kapitel bei Bini Adamczak: >1< Beziehungsweise Revolution. 1917, 1968 und
kommende.