We don’t talk to Cops!? – Zu Strafanzeigen und Aussageverweigerung

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Immer wieder wenden sich Menschen an uns als Antirepressionsstrukturen, weil sie von der Polizei, Secus, RWE-Mitarbeitenden, Nazis oder anderen übergriffigen Menschen angegriffen oder verprügelt wurden. Sie sind traumatisiert,verzweifelt, frustriert, hilflos, sauer oder wütend über das Erlebte – eine Vielzahl an körperlichen und emotionalen Reaktionen sind in dieser Situation möglich und völlig verständlich. Einige wollen etwas dagegen tun, wie Strafanzeige stellen oder unsere Einschätzung zu deren Erfolgsaussichten wissen. Der Wunsch, nicht untätig gegenüber dieser Ungerechtigkeiten zu bleiben und aktiv zu werden, ist absolut nachvollziehbar und kann sehr wichtig und hilfreich sein, um aus Ohnmachtsgefühlen heraus zu kommen . Oft ist das erste was eine*r dann einfällt, eine Strafanzeige zu stellen und der Polizei oder einem Gericht zu erzählen, was vorgefallen ist, damit sie alles wieder in Ordnung bringen. Und auch in in Kreisen, die sich als Polizei- oder Staatskritisch begreifen, ist dieser Lösungsansatz weiter verbreitet, als eben diese Kritik vermuten lässt. Warum gibt es diesen Reflex? Ist es ein Akt der Hilflosigkeit? Ein Wunsch nach Gerechtigkeit? Oder schlicht das Fehlen von alternativen Ideen? Weil uns diese Frage schon länger umtreibt und durch Strafanzeigen gegen Secus (Security-Angestellte von RWE) und Polizei in den Auseinandersetzungen im Hambacher Wald nochmal an Aktualität gewonnen hat, haben wir entschieden, diesen Text als Debattenbeitrag zu dem Thema zu verfassen.

<strong>Strafanzeigen</strong>

Eine Strafanzeige zu stellen, heißt zur Polizei zu gehen, ihr einen Fall darzulegen und zu beschreiben, dass jemand anderes eine Straftat begangen hat. Das soll dazu führen, dass Menschen dafür vom Staat verfolgt und bestraft werden. Die Motive für eine solche Strafanzeige können sehr unterschiedlich sein. Entweder hofft mensch auf Abschreckung, d.h. möchte die andere Person davon abhalten, etwas ähnliches wieder zu tun oder ihr die Möglichkeit nehmen, es wieder zu tun, dadurch dass sie eingesperrt wird. Oder es geht darum, Aufklärung des Geschehens zu erreichen, ein Gefühl von Gerechtigkeit wieder herzustellen oder darum, Rache zu üben. Einzelne wünschen sich vielleicht auch, einen Anspruch auf Schadenersatz zu erwirken. Oder es geht darum, nicht untätig zu bleiben, im Angesicht einer erlittenen Ungerechtigkeit, sich beschäftigt zu halten und wieder handlungsfähig zu werden, in der persönlichen (Nicht-)Auseinandersetzung mit einem Trauma. Ein*e Polizist*in nimmt die Strafanzeige auf, dann wird ermittelt und am Ende gibt die Polizei das Verfahren an die Staatsanwaltschaft ab. Die entscheidet dann, ob die Sache weiter verfolgt wird oder nicht. Erhebt die Staatsanwaltschaft Anklage, landet das Ganze bei einem Gericht, welches dann ein Urteil fällt oder auch entscheidet, das Verfahren einzustellen.

Von einem Strafurteil haben Betroffene oft nichts. Eine Bestrafung der anderen Person hilft selten bei der Bewältigung des Erlittenen. Auch die erhoffte Aufklärung bleibt oft sehr oberflächlich oder nicht existent, weil die Polizei und Gerichte dahingehend ermitteln, dass sie urteilen und ggf. strafen können. Sie versuchen dabei, das Geschehen in Straftatbestände einzupassen – die Realität, vor allem die dabei erlebten Emotionen, lassen sich aber nicht in juristische Worthülsen einpassen. Jemand einzusperren, um sich selbst mit den Verletzungen besser zu fühlen, dient oft der Befriedigung von Rachegefühlen oder dem Gefühl geschützt vor einer Person sein zu wollen, aber bei näherem Hinsehen löst es keine der Ursachen der Taten und steigert Feindschaften nur.  Offiziell soll Strafe auch der (Re-)Sozialisierung dienen, also dass sich Straftäter*innen wieder in die als „normal“ deklarierte Gesellschaft eingliedern. Studien dazu zeigen, dass Freiheitsstrafen dazu nicht geeignet sind. (Beispielsweise im Buch von Thomas Galli: „Die Schwere der Schuld: Ein Gefängnisdirektor erzählt“) Strafen lösen auch keine Probleme, sie schaffen eher neue: Mehr Hass, Isolations- und Ohnmachtsgefühle. Die gegenseitigen Feindbilder werden bestätigt. Ursachen für Konflikte wie beispielsweise die Angst von RWE-Mitarbeitenden um ihren Arbeitsplatz, der Zwang für Secus ihren Job entsprechend der Auftraggeber*in zu erfüllen und/oder gewisse Männlichkeitsbilder zu erfüllen oder anders herum die fortgesetzte Klimazerstörung werden nicht angegangen. Die formelle Konzentration auf Straftaten und den Justiz-Prozess be- bis verhindert  eine Beschäftigung damit.

Wir wissen, dass die Sozialisation vielen von uns ein bestimmtes Bild von Gerechtigkeit mitgegeben hat, nämlich dass wir bei Problem die Polizei rufen und die oder mindestens später die Gerichte für Gerechtigkeit sorgen (vielleicht auch weil wir überwiegend weiß sind). Es ist nicht immer leicht, diesen tief sitzenden Glauben zu hinterfragen bis hin dazu, ihn ganz abzulegen, weil es heißt, ziemlich viel gefühlte Sicherheiten abzugeben. Aber nicht nur unsere Erfahrungen mit den Prügeln der Polizei und dem Einsperren durch die Justiz zeigen, dass die Welt anders läuft. Selbst wenn alles korrekt laufen würde, verlernen wir durch die Delegierung an den Staat , selbst mit Problemen umzugehen und ausgleichende Lösungsansätze zu entwickeln. Nicht zuletzt ist das Mittel „Strafe“ und das Anrufen des Staates, um diese Strafen festzulegen und durchzusetzen, repressiv und machtvoll und steht einer emanzipatorischen und hierarchiefreien Gesellschaft entgegen. Deshalb lehnen wir Strafe generell ab und sehen Strafanzeigen kritisch (<a href="https://www.projektwerkstatt.de/index.php?domain_id=1&a=19340">Weiterlesen zur Kritik an Strafe</a>).

<strong>Abwägungen im Einzelfall</strong>

Durchs eigene Stellen von Strafanzeigen verlassen wir uns auf uns feindlich gegenüberstehende Institutionen. Normalerweise sind es die Cops, die uns verprügeln, die Staatsanwält*innen die uns anklagen und die Richter*innen, die uns in Knäste stecken. Bei Strafanzeigen verlassen wir uns dann aufs Tätigwerden genau dieser Institutionen.

Oft haben diese Institutionen  verständlicherweise wenig Interesse daran, uns zu helfen und schon gar nicht daran, gegen ihre eigenen Kolleg*innen vorzugehen. <a href="https://correctiv.org/aktuelles/justiz-polizei/2015/08/20/polizisten-nur...">So werden über 95% aller Verfahren gegen Polizist*innen schon von der Staatsanwaltschaft eingestellt</a>3, sodass die Chancen erfolgreich (im Sinne einer strafrechtlichen Verurteilung) gegen Polizist*innen vorzugehen nahezu null sind. Im Gegenteil, Anzeigen gegen einzelne Beamt*innen führen schnell zu Gegenanzeigen wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte oder Beleidigung – und Gerichte glauben den Cops, nicht irgendwelchen Aktivist*innen. Die Wahrscheinlichkeit für eine eigene Verurteilung anstatt der erhofften Strafe für den Prügel-Cop ist also deutlich höher, oft verbunden mit erneuten Ohnmachtsgefühlen. Bei Secus oder Nazis mag der Anteil etwas geringer sein, Gerichte mögen jedoch immer noch keine Menschen wie Anarchist*innen, die sie grundsätzlich in Frage stellen oder Aktivist*innen. Menschen die überzeugt Straftaten begehen, sei es aus der Motivation zivilen Ungehorsams, weil der Staat nicht genug handelt, oder aus der Motivation, dass sich ganz grundsätzlich viel ändern muss, können die herrschaftssichernden Institutionen nicht ausstehen.

Trotz alledem: Die schlussendliche Entscheidung eine Strafanzeige zu stellen oder nicht, bleibt unserer Meinung nach immer bei der betroffenen Person – möglichst ohne Zwänge von außen. Auch wenn es viele Gründe dagegen gibt, so gibt es doch immer wieder Punkte, die dafür sprechen, Strafanzeigen zu stellen. Strafanzeigen verbunden mit Öffentlichkeitsarbeit können auch Schutz bieten. Gerade in Kerpen, wo auf der Polizeiwache überdurchschnittlich viele sadistische und gewalttätige Cops eingesetzt werden, kann es helfen, ein Augenmerk darauf zu lenken. Manchmal hilft es auch, um in breiteren Kreisen bewusst zu machen, dass auch in Deutschland diese Fälle vorkommen. Denn wie oft hören wir: “Macht das mal wo anders, dann seht ihr wie die Cops da mit euch umgehen”. Wir wissen, dass es woanders oft schlimmer ist, aber auch hier werden wir und noch mehr andere Menschen mit weniger Privilegien oft genug verprügelt und die breite Bevölkerung hier kann sich das kaum vorstellen. Anzeigen tauchen vielleicht wenigstens in Statistiken und Studien auf und machen bewusster, dass die Verfahren gegen Cops fast immer eingestellt werden.4 Und sollte eine Anzeige doch mal erfolgreich sein, könnte sie als Präzedenzfall oder zum Einklagen von Schmerzensgeld herangezogen werden. Bei laufenden Strafverfahren gegen Aktivist*innen können Anzeigen in manchen Fällen auch Gegendruck aufbauen, statt die Darstellung der Cops einfach zu akzeptieren.

Aber auch in diesen Zusammenhängen schlagen wir vor, darüber nachzudenken, ob für diese Wirkung wirklich eine Strafanzeige das beste Mittel ist. Eine Chance kann es bieten, sich im Kopf vorzustellen, dass es keine staatlichen Institutionen gäbe und Anzeigen nicht möglich wären und dann zu überlegen, welche Möglichkeiten haben wir eigentlich stattdessen? Was genau wollen wir eigentlich erreichen? Wie können wir selbst handlungsfähig werden, anstatt staatlichen Institutionen anzurufen? Beispiele können öffentliche Skandalisierung oder eigene direkte Interventionen z.B. in oder auf der Bullenwache sein. Wie können wir weiter überzeugt „Nieder mit Strafe und Knast“ brüllen? Wir raten dazu, auch über unkonventionelle Wege nachzudenken, anstatt die staatlich vorgegeben zu beschreiten, auch wenn das nicht einfach ist, gerade wenn wir selbst sehr betroffen von der Situation waren.
 
Natürlich kann eine erfolgreiche Anzeige ein Baustein dabei sein, dass eine Person besser mit der Verarbeitung des Geschehenen klar kommt – durch das Gefühl Gerechtigkeit erfahren zu haben. Wir können uns leider nicht darauf verlassen, dass unsere “sozialen” Netze, den ganzen Scheiß auffangen und oft sind Strafanzeigen ja auch das letzte Mittel für Betroffene, gerade bei übergriffigem Verhalten, weil Täter*innen immer noch viel zu oft vom Umfeld gedeckt werden. Ein Misserfolg jedoch kann retraumatisierend wirken, gerade wenn Gerichte die selbst erlebten Misshandlungen nicht glauben oder ein*e im Detail zum Erlebten befragen und so die Gewalterfahrung und Ohnmachtsgefühle erneuern. Deshalb gilt es auch aus emotionaler Sicht eine Klage sorgfältig abzuwägen und sich im Zweifel auch auf Enttäuschungen vorzubereiten. Vielleicht wäre eine Alternative uns selbst und unser Umfeld zu fragen, wie sich unsere sozialen und politischen Zusammenhänge ändern müssen, um auch solche Erlebnisse besser auffangen zu können.Und wenn es diese Netze noch nicht gibt, sind das vielleicht die Momente, um zu beginnen sie aufzubauen.

<strong>Aussageverweigerung</strong>

Ein weiteres Problem von Strafanzeigen ist, dass Aussagen gemacht werden müssen. Eine Strafanzeige ohne die Schilderung des Sachverhalts bringt von vorne herein nichts oder wird gar nicht erst aufgenommen.

Der Grundsatz der Aussageverweigerung in linken Bewegungen ist alt, aber immer noch aktuell. Die Cops nutzen Aussagen vor allem, um gegen uns zu ermitteln, Straftaten anzuhängen oder uns auszuschließen, um andere beschuldigen zu können. Die Polizei ist dazu da, die herrschende Ordnung aufrecht zu erhalten und Widerstand dagegen zu brechen. Sie versuchen unsere Strukturen besser zu verstehen und Ansatzpunkte zu finden, Menschen und Gruppen zu spalten. Deshalb empfehlen auch wir immer wieder: “Don’t talk to cops”.

Diese Prinzipien sind gerade auch für schwierige Situationen wichtig, eben dann wenn wir gerade keinen klaren Kopf haben, um uns diese Analyse bewusst zu machen. Dies trifft vor allem zu, wenn wir plötzlich und überraschend vor gravierenden Vorwürfen stehen, sei es durch einen Unfall oder bei Aktionen, die du so nicht mittragen willst. Als Beispiel für eine solche Situation können die Schüsse und die darauf folgende Mordermittlungen im Konflikt um den Neubau der Startbahn West vor über 30 Jahren gelten. Damals wurden in solch einer aufgeheizten Situation viele Aussagen gemacht, was viel Repression gegen die damals Aktiven zur Folge hatte. Als Reaktion darauf wurde eine Aussageverweigerungskampagne unter dem noch heute bekannten Schlagwort „Anna und Arthur haltens Maul" gestartet. Und das Thema bleibt aktuell. Selbst wenn wir über Aktionen unterschiedlicher Ansicht sind, der Staat ist nicht die richtige Institution für Aufklärung und Vermittlung, denn dieser will jede Veränderung unterbinden.

Etwas praktischer beschrieben: Du bist übermüdet in der Gefangenensammelstelle (Gesa), allein bei der erkennungsdienstlichen Misshandlung mit fünf Bullen um dich herum, die dich auslachen und sagen, dass all das eh nichts bringt. Oder im Krankenhaus, weil du gerade verprügelt wurdest und du wirst gefragt, ob du eine Strafanzeige stellen oder eine Aussage machen möchtest. Genau in diesen Situationen ist es schwierig, die eigene Sozialisierung und die ersten Reflexe zu hinterfragen und sich vor Augen zu halten, wo die eigenen Überzeugungen liegen . Aber genau das sind auch die Situationen, die für Aussagen am gefährlichsten sind.

Wenn Strafanzeigen gestellt werden und deine Daten bekannt sind, bist du zudem in einer schwierigen Situation. Als Zeug*in hast du eine Aussagepflicht, du darfst zu so gut wie keiner Frage schweigen und bei Aussageverweigerung warten Geldbuße und im schlimmsten Fall Beugehaft auf dich. Das gilt auch wenn du andere als Zeug*innen benennst – deshalb mach das nie und schon gar nicht unabgesprochen! Mit Aussagen und Einlassung vor Gericht ist es ähnlich: „nur“ sich selbst belasten ist quasi unmöglich. Wenn du dich aus welchen Gründen auch immer für eine Aussage entscheidest, denk bitte daran auch das abzusprechen, damit niemensch vor Gericht oder beim Aktedurchlesen davon überrumpelt wird.

Als Fazit möchten wir mitgeben: In den allermeisten Fällen würden wir von Strafanzeigen abraten. Auch wenn das eigene Gerechtigkeitsbedürfnis das vielleicht möchte, sind diese Anzeigen meist wenig erfolgsversprechend und selbst im Erfolgsfall gewinnen wir nichts dadurch, dass andere bestraft werden – schon gar keine Gerechtigkeit. Beuge auch vor, dass andere diesen Weg gehen: Lass deinen Freund*innenkreis mit den Erfahrungen, die sie gemacht haben nicht alleine. Wenn du die Kraft hast, biete deine Unterstützung an. Zum Verarbeiten von Repressionserfahrungen und aktiven Überlegungen dagegen tausch dich mit deiner Bezugsgruppe aus, wende dich an Out-Of-Action für emotionale Unterstützung oder sprich mit deiner lokalen Antirepressionsgruppe oder Freund*innen, die können viel besser mit dir entscheiden, was richtig oder falsch ist als Cops.

Wir bleiben dabei: <strong>We don’t talk to cops!</strong>

<em>AntiRRR im Januar 2019</em>

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