[Frankreich] Bruch im laufenden Beitrag

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auf französisch erschienen auf lundi.am am 19. Dezember 2018 und ins deutsche übersetzt. Der Artikel ist in gewisser Weise die Fortsetzung zu diesem hier https://non.copyriot.com/ein-beitrag-zu-den-derzeitigen-unterbrechungen-...

[Anm.d.Übers. in eckigen Klammern]

Nach dem „Beitrag zum laufenden Bruch“, den wir am 7. Dezember veröffentlicht haben, setzen die selben Autoren hier ihre Analyse der Bewegung der Gelbwesten fort. Ihnen zufolge liegen die Kämpfe der Samstage hinter uns und es sind jetzt die Kreisverkehre und die Organisierung von der „Lokalität“ aus, welche die Linie des Vermögens der Bewegung darstellen.
„Das konstruktive Ideal der Bewegung liegt folglich in ihrer effektiven Ethik, nicht in den demokratischen Fantasmen, die nur eine Entführung jener auf die Fahrbahn der Institutionalisierung sind, der ultimative Ausdruck einer Bürokratisierung der Begehren und einer Erpressung zur „Ausfahrt“ der Politik.“

„Es ist ein großer Irrtum, sich vorzustellen, dass die Leute dumm würden, wenn sie immer am gleichen Ort bleiben.“

– William Cobbett

„Und der Staat ging unter…“

Eine staatliche und mediale Propaganda riesigen Ausmaßes, eine beispiellose Dramatisierung, die auf mehrere klar ersichtliche Ziele ausgerichtet war: Das war das Schicksal der Woche des 3. Dezembers. Die Bevölkerung zu verängstigen und zu bedrohen, indem mögliche Schüsse mit scharfer Munition auf die Demonstranten heraufbeschworen werden; einen Kontrollverlust von Polizei- und Gendarmeriekräfte durch Erschöpfung zu rechtfertigen; in keinem Fall für wiederholte Überschreitungen der Grenze zwischen Aufrechterhaltung der Ordnung und Spezialkrieg ( Flashballschüsse auf Kopfhöhe, Schüler auf den Knien, Tod einer Frau unter dem Effekt einer Tränengasgranate) einzustehen; anzukündigen, wie bei jeder vermeintlich wichtigen Demo (erinnern wir uns an den ersten Mai 2018), dass Paris sich im Belagerungszustand befinden wird, aber dieses mal tatsächlich die Umsetzung fast aller Möglichkeiten in puncto Sicherheit maximal auszureizen – Bullen, die hinterhältig gelbe Westen tragen, Panzerwagen, die mit chemischen Waffen ausgestattet sind und noch nicht dagewesene Einsperrungsmaßnahmen eingeschlossen, die x-te Auflage der Trennung der Protestierenden in „friedliche“ und „Randalierer“[Casseurs] oder „Ultra-sonstwas“ in vielfacher Ausführung; Schuldgefühle bei den Blockierern zu bemühen, die angeblich den aufrechten Bürgern die Feierlichkeiten am Jahresende verderben und Komplizen derjenigen Fraktionen sind, die von der Regierung als gewalttätig und parasitär markiert werden; kurz – von der Spitze des Staates aus die Gangart eines psychologischen Krieges gegen 67 Millionen Verdächtige einzuschlagen.

Aber der Belagerte ist nicht der, der man denkt. In genau dieser Spanne muss man vor allem verstehen, dass der Staat am Boden ist; dass die Macht alleine steht, gestützt auf ihren hoheitlichen Apparat. In die Enge getrieben in eine Situation, die nicht mehr anders bewertet werden kann, denn als Krieg gegen die Bevölkerung, ist es nun dieser, der sich gemäß eines Spiegeleffekts den Illegalismen hingibt, die er verfolgt und sich weiter zum Komplizen derjenigen macht, die er der Verschwörung bezichtigt. Keine Vermittlung mehr. Der ganze keynesianische Apparat, der im Laufe fast eines Jahrhunderts konstruiert wurde, entfaltet sich von nun an mit einem Mal jenseits des Staates und der sozialen Bewegung und läuft im Leerlauf: und die  „Sozialpartner“, und die Parteien, und die ganzen vermittelnden Körperschaften, die die Präsidentschaft zu bemühen versucht hat, um die Illusion der Fürsorge/Wohlfahrt zu bieten, sind dazu verdammt, in der Wüste zu predigen. Das, was man seit einigen Jahrzehnten vorausahnen konnte – der Übergang vom keynesianischen Staat, entgegenkommend, dialektisch, vermittelnd, zu einem nietzscheanischen Staat, bald affirmative Dampfwalze einer Kaste ohne opportunistische Zweckverbündete, bald Festung mit hochgezogener Zugbrücke – ist offiziell vollzogen. Man wird die kollektiven Konventionen und andere Verhandlungsmechanismen zur selben Zeit verbrannt haben, wie den Pariser Westen. [Geschäfts- u. Regierungsviertel] In diesem Kontext nimmt der Akt des Forderns eine neue Bedeutung an: Es geht nicht mehr darum, das kollektive Vermögen an irgendeinen Repräsentanten zu delegieren – von der Bewegung in den Staat, vom Staat in die Bewegung – sondern, darum, sich horizontal auf Grundlage der Forderung zusammenzuschließen, um selbst den Kampf zu führen und, angesichts des strukturell gewordenen Schweigens der Autoritäten, bis zu ihrem Sturz zu gehen.

Das ist der Grund dafür, dass keine der Abschreckungsoperationen – die, nur nebenbei gesagt, von allen politischen Parteien aufgegriffen und von allen Gewerkschaften mit Ausnahme von Solidaires mitgetragen wurden – ausgereicht hat, um die Bewegung zu schwächen. Samstag den 8. Dezember war trotz einer Blockade des Zugangs zur Pariser Metropolregion (von den Bahnhöfen an), der reihenweisen Unterdrückung von Facebook-Events zur Ankündigung von Treffpunkten (noch ohne zu genau zu wissen, woher diese Initiative kam), einer Rekordzahl von – stolz als solche angekündigt – vorläufigen Festnahmen im Vorfeld (die die Tausendermarke überschreiten), einer beträchtlichen Zahl an Ingewahrsamnahmen (mit einer ebenfalls beträchtlichen Zahl an Freilassungen ohne Folge), die Ausdrucksqualität und die Mobilität der Bewegung wahrscheinlich noch größer, als an den zwei vorausgehenden Samstagen. Eine spürbare Übereinkunft existierte unter den sozialen Gruppen, die in den urbanen Riots oft getrennt bleiben: radikalisierte Menschengruppen aus der Provinz, Paris und den Banlieues, Gewohnheitsaktivisten, einfache Schaulustige. Die Stadtverwaltung von Paris selbst kam zu diesem Schluss und wartete bereits am Morgen danach mit einem scharfen Dementi bezüglich der Kommunikation der Regierung und ihrer Außenstellen auf, die sich beglückwünschten, den Protest gezügelt, wenn nicht gar die Leute davon abgebracht zu haben.

Die urbane Konfrontation der letzten Wochen war also wohl frontal (am 24. November), dann polyzentrisch (am 1. Dezember), bevor sie kinetisch wurde: am 8. verlor sie an Intensität und Kristallisation das, was sie an Ausbreitung und Bewegung gewann. Nicht nur die Reichenviertel (mehr noch als die Orte der Macht) sind wiederholt einer zum entschlossenen Menschenmenge zugänglich geworden, sondern auch Paris kann also, selbst unter diesen Bedingungen, für einige Stunden an mehreren Stellen wirklich unregierbar werden. Genau in diesem Punkt haben die Zurückweisung des illusorischen Charakters des zweihundertjährigen Schauspiels der Pariser Riots und mit ihr die tätliche Kritik der verbrauchten Künstlichkeit und des Ärgernisses der politischen Zentralität der Hauptstadt, ihre beste Verwirklichung gefunden. Das ist ein neuer Erfolg, der im Gedächtnis zu behalten ist und aus dem wir in der kommenden Zeit Lehren ziehen sollten: Der dezentrale, netzartige Charakter der Bewegung war, und bleibt heute ihr größter taktischer Trumpf, in den Straßen von Paris wie in der Gesamtheit des nationalen Territoriums.

Die politische Sequenz, die sich in Frankreich eröffnet, erlöst in ihrer Globalität von einer negativen Dialektik, die zwei unabhängige Blocks ohne mögliche Auflösung einander gegenüberstellt – den Staat und seine Ex-Bürger. Die vermittelnden Anwandlungen sind davon nur das äußerliche Geschnörkel. Die Prozesse der Massen an in Gewahrsam genommenen haben es Woche für Woche gezeigt: Die „professionellen Gewalttäter“ und „professionellen Randalierer“ existieren nicht. In den Schnellverfahren in Paris und anderswo finden wir Zeitarbeiter vom Bau, Krankenpfleger, Tischler, Staplerfahrer, Arbeiterkinder, sowie Kinder alter Militärs, und – nicht selten – die Söhne von Polizisten oder Gendarmen. Die meisten von ihnen sind das erste Mal auf die Champs-Elysées gekommen. Sie sind gekommen, um die „Champs“ zu sehen, das Leben der Pariser oder er reichen Touristen, das sie nicht kennen, auf das sie keinen Neid hegen. Wenn sie ein Geschäft geplündert haben, dann im allgemeinen um hrem Nachwuchs ein Geschenk mitzubringen. Die Politik? Das Wort stößt sie ab. Sie haben sich nie viel daraus gemacht. In den Straßen sind „lascars“ und Prekäre zu ihnen gestoßen, ohne Reibungen, ohne Spannungen. Dies hat nichts von einer Konvergenz.

Neue Frontlinien

Ergebnis: am Abend des zehnten Dezembers lernen die Fernsehzuschauer und Internetnutzer, dass es fortan die teilweise Zerstörung von Paris, Toulouse, Bordeaux und andere Städten, sieben Tote (seitdem wurde ein weiterer Toter gezählt) und um die 1500 Verletzte – menschliche Verluste ohne Präzedenz in der Metropole seit dem Algerienkrieg – braucht, um eine kleine Steuer zu stoppen, die beschleunigte Umsetzung einer geplanten Prämie (und keine Erhöhung) des Mindestlohns zu „erhalten“ und eine Senkung der Rentenbeiträge; um sich gleichzeitig von einer großen nationalen Debatte mit einem Haufen losgetretener Fragestellungen zu französischer Identität und zu Immigration flankiert zu sehen.

Sich dieser Inszenierung anschließend, verfolgten die Parteien weiter ihre ungeschickte Verführung der „Gelbwesten“ und riefen, wie die Regierung, zur Eröffnung einer „politischen Zeit“ auf, die die „Zeit der Revolte“ ablösen sollte, auf. Einmal ist keinmal, nur die französische kommunistische Partei behielt ihre Würde, zweifellos unfreiwillig, ignorierte die Aufregung des Moments und rief zu einer großen Mobilisierung auf – aber im Januar! und für den Fall, dass die Bewegung weitergeht… Niemand weiß, ob die Partei ihre Fehler vom Mai 68 wiederholt, oder ob sie, ohne es zu wissen, in die Zukunft der Kämpfe versetzt wurde. Hinsichtlich der molekularsten Ebene des Aktivismus:  Unnötig, die trotzkistischen Offiziellen oder diejenigen, die immer noch ihre eigene Ähnlichkeit zu diesen ignorieren, groß zu erwähnen: Sie rufen immer noch, unter egal welchen Bedingungen, Woche für Woche zur „Konvergenz der Kämpfe“ auf, zur Blockade der Universitäten und zum Generalstreik. Gerüchteweise hat in Saint-Denis eine Versammlung, die die „Konvergenz der Kämpfe“ zelebrierte, eine „Gelbweste“ aus den Vogesen eingeladen, um der Person ihm die Leviten zu lesen und ihn wissen zu lassen, dass er kein „echter“ Aufständischer sei, weil er sich als apolitisch bezeichnet und dass er weniger gelitten habe, als andere. Man sollte eher „Wettstreit der Ärgernisse“ sagen.

Bezüglich der Gewerkschaften ohne keynesianischen Staat – wie Kinder, die zum Schuldirektor bestellt werden, richten sie sich wunderbar nach dem Wort und der Rute der Regierung (Erinnern wir uns: Solidaires ausgenommen), wenn sie sich nicht gerade heftigst den Hals verdrehen, wie die liebe CGT, als sie die Mobilisierten schließlich unterstützte, um sich dann von ihnen zu distanzieren, ganz um sie zu unterstützen, aber indem sie sie nicht mehr unterstützt. Verstehe das, wer will. Das Wesentliche ist überall: Die Aktivisten sind verbittert. Woher sie auch kommen, all diese Kompromisse, diese Abwesenheiten un diese Gesinnungswandel werden in Erinnerung bleiben. Es bleibt zu hoffen, dass sie den Prozess beschleunigen, der (mindestens) seit der Bewegung von 2016 im Gang ist: Zerfall der gewerkschaftlichen Welt, ihre Relokalisierung in situierten Formen des Zusammenschlusses, ihr heterogen-Werden hinsichtlich dieses Unterfangens. Der Tod der Linken ist eine Tatsache, noch kein Grund zur Zufriedenheit: Im jetzigen Zustand bring er fast nichts hervor.

Hinsichtlich der Bewegung der „Gelbwesten“ habe die letzten zwei Wochen ihren Anteil an Abwesenheiten, Spaltungen, Unschlüssigkeiten und Usurpationen mit sich gebracht. Unter den drei Tendenzen, die wir ausgemacht haben, – elektoralistisch [auf Wahlpolitik ausgerichtet] und staatsbürgerlich orientiert; verhandlerisch; „degagistisch“ [ auf die Absetzung der Regierung abzielend] und aufständisch – scheint ein Teil der ersten jetzt, sich mit der Forderung nach dem Bürgerentscheid an die Spitze zu stellen und eine Revolte, die von finanziellen Schwierigkeiten und erfahrener Abwertung/Verminderung [minorisation] herrührt, in der politischen Idealität zu verwässern. Der Höhepunkt der Sache liegt für die selbsterklärten Demokratisten darin, sich Repräsentanten nominiert zu haben, indem sie durch dazwischengeschaltete Klicks den Kandidaten der charismatischen Herrschaft zugejubelt haben. Bezüglich der opportunistischen Politiker jeglicher Richtung – sie gesellen sich bereits dazu, wenn sie sie nicht gar unterstützen oder bald den Vorschlag reformulieren. Man konnte diese zwei Typen von Gewählten übrigens sowohl am 8. als auch am 15. Dezember dabei sehen, wie sie sich auf den Pariser Plätzen vor die Kameras gedrängt haben.

Wenn der „Akt V“ in Paris letztlich verdienterweise eine klassische Tragödie war, mit seinem Gefühl der Niederlage und der allzubekannten Atmosphäre vom Ende der Bewegung, ist gleichzeitig die Angelegenheit zwischen dem Staat und den „Gelbwesten“ dennoch nicht entschieden. An diesem letzten Samstag war es im Effekt nur die polizeiliche Verwaltung der Körper, die über den Geschmack am wöchentlichen Aufstand, auf den inzwischen viele gekommen sind, zu triumphieren schien: Zusätzlich zu einem Kontingent, das mit dem der Vorwoche identisch war, waren wohl nicht weniger als die Schließung mehrerer Autobahnen in Richtung der Hauptstadt (sowie der großen Metropolen), die Sperrungen an ihren Zufahrten und das Filtern der Menschen an den Zugängen zu den Zügen notwendig, damit die Straßen von Paris sich nicht mit mehr als ein bisschen weniger als halb so vielen Demonstranten füllten, wie an den beiden vorausgegangenen Samstagen. Parallel war an jedem Kreisverkehr in Frankreich die Party in vollem Gange. Eine Möglichkeit, denen, die es vergessen haben sollten, in Erinnerung zu rufen, dass sich ein Aufstand von nun an nur noch ohne Ereignis und ohne Zentrum machen lässt.

Die strategische Ausrichtung geht daraus neu definiert hervor. Die zwei letzten Wochen haben letztendlich gezeigt, welches die Begrenzungen einer vom Ereignis polarisierten Politik, einer zu theatralischen und spektakulären Erklärung des Kampfes sind. Aber die Aktivisten und die Journalisten sind nicht die einzigen, die sich davon hypnotisieren lassen: Die langsame Dynamik der Bewegung ist nicht abgeflaut, soweit, dass sie heute wichtiger ist, als die Momente der Versammlung unter dem Blick der Kameras und der Repressionskräfte. Andererseits ist die Schwäche der Aufständischen und der Revolutionäre, wie immer, die Unterschätzung der repressiven und regierungstechnischen Ressourcen des Staates. In dieser Hinsicht muss man halt beklagen, dass der Spielraum für die kommenden Monate und Jahre noch sehr groß ist, und die Entrüstung fast nichts. Wie die sozialen Rechte des Wohlfahrtstaates werden auch all die in den liberalen Demokratien in den letzten zwei Jahrhunderten errungenen Freiheiten ihrerseits noch mehr mit Füßen getreten oder zurückgenommen werden können, wenn das nicht schon passiert. Die gegenwärtigen politischen Unruhen verursachen gleichzeitig einen Kampf an der Spitze des Staates, aus dem gut das Finanzministerium und seine „reformatorischen“ Absichten längerfristig als Sieger hervorgehen könnten und der im Namen von „zu viel Abgaben“ zu einer noch größeren Lähmung der „linken hand“ des Staates führen könnte, zu einer Zerstörung der letzten Auffangnetze für die Armen.

Von den 1970er Jahren bis zum letzten Jahrzehnt sind die Krisen im Endeffekt immer Vorwand für „Schocktherapien“, die an den Gesellschaftskörper gerichtet sind, der bevorzugte Modus der Verschärfung neoliberaler Regierungsmodalitäten des Kapitalismus. Letzte Feststellung zur aktuellen Kräftekonfiguration: Wir haben am 6. Dezember die „schwachen Glieder“ der Macht im gegenwärtigen Kampf beschrieben – Medien, Polizei, Bürgermeister. Wir müssen heute zugeben, dass diese drei Instanzen nicht nur seit zwei Wochen wieder in fester Hand sind, sondern auch, dass sie in keinem Fall die politischen Ziele für die Basiszellen der Bewegung dargestellt haben.

In zwei Wochen hat die lebendigste Frontlinie des Konfliktes in Wirklichkeit die Innenstädte der regionalen Hauptstädte und von Paris verlassen, um sich an die Kreisverkehre und in die Gemeinden zu verlagern, in die nächste Nähe der „Gelbwesten“ und dessen, was sie tagtäglich tun. An mehreren Besetzungen und Blockaden stellen die Beratung und die Versammlung in Ermangelung anderer Dinge wünschenswerte Aussichten dar. Die Regierung hat das perfekt verstanden, weil sie bereits ihre große nationale Beratung mit den Gemeindeverwaltungen (von denen einige ihre Beschwerdehefte geöffnet hatten) gestartet hat und quasi die aus der Mobilisierung hervorgegangenen Verständnisse und Praktiken des Lokalen absetzt, um ihnen den immerwährenden republikanischen Monolith gegenüberzustellen.

« Rien n’aura eu lieu que le lieu excepté peut-être une constellation »

Gemäß einem Paradox, das nicht offensichtlich ist, ruht der Geist einer Mobilisierung, vor allem dann, wenn sie neu ist, nie in ihren Forderungen, sondern in ihren Praktiken. Der Richtung einer Politik liegt nie ihren Ideen, sondern in ihren Handlungen. Dass die Bewegung unersättlich ist, dass sie nicht zu sagen weiß, was sie stoppen wird (Frage, die jedem Teilnehmenden von allen gewöhnlichen Reportern gestellt wird), zeigt in diesem Sinne deutlich genug, dass es um mehr geht, als um eine Sache der Geschwindigkeitsbegrenzung, des Dieselpreises, der Kaufkraft oder sogar der demokratischen Erneuerung – mehr als um 42 Vorschläge oder jedes andere Programm: einen Ort, ein politisches Vermögen der Lokalität, wie in der ZAD, wie an den Plätzen der Revolten ohne Anführer des letzten Jahrzehnts, aber ohne die Tücke dieser Orte ohne vorherige Verbundenheiten. Die Front ist da. Macron weiß es. Er, der geglaubt hatte, mit den Vermittlungen des „Sozialen“ Schluss zu machen, sieht sich nun mit wirklichen Solidaritäten konfrontiert – die schwach, erodiert, zittrig, aber nicht abwesend sind. Lokal, in diesen vielfältigen Zwischenräumen des Territoriums, zwischen Metropolen und Land. Es ist übrigens ohne jeden Zweifel dort, durch diese bereits existierenden Verbundenheiten hindurch, die in ein bekanntes, zugängliches, vorstellbares Milieu integriert sind, wo sich Tag für Tag, in dieser Bewegung oder einer anderen, die Basis einer wirklich ökologischen Politik herausbildet, die die alte, quälende sozialistische Frage überwindet, indem sie sie transformiert.

Mit dem Abenteuer der „Gelbwesten“ bekräftigt sich die Lokalität also als potenzieller Knotenpunkt einer kommenden politischen Subjektivierung, die den gegenwärtigen wie zukünftigen Sphären der Repräsentation gegenüber antagonistisch ist. Diesbezüglich ist der Aufruf aus Commercy vollkommen klar: „Dies ist nicht der Moment,  unser Wort einer handvoll Leute anzuvertrauen, selbst wenn sie aufrichtig scheinen. Dass sie uns allen zuhören oder dass sie niemandem zuhören! Aus Commercy rufen wir also dazu auf, überall in Frankreich Volkskomitees zu bilden, die in regelmäßigen Vollversammlungen zusammenkommen. Orte, an denen das Wort sich befreit, an denen man wagt, sich auszudrücken, sich darin zu üben, einander zu helfen.“ „Wer braucht Ansprechpartner? Die Journalisten und die Politik. Wir nicht unbedingt.“, bekräftigt auf einer Facebookseite Alice L, Staplerfahrerin in Zeitarbeit, 28 Jahre alt, die in der Bretagne lebt. „Unsere Organisation, sie existiert bereits per Telefon, zwischen Freunden, zwischen Nachbarn, an den Kreisverkehren. Nur weil das nicht in ihr Schema vom klassischen Streik passt, ist es doch nicht so, dass es keinen Wert hat.“ (Le Monde, 10/12/2018). Am 9. Dezember haben die Komitees zur Verteidigung der katalanischen Republik, die das schon seit langem wissen, sich auch gelbe Westen angezogen und die Mautstellen im ganzen regionalen Territorium geöffnet. Dort unten koexistieren Erfahrungen des Munizipalismus in den Dörfern mit den „syndicats de barris“, eine Art Stadtviertel-Komitee, die aus den solidarischen Praktiken in den „urbanen Bereichen des Volkes“ [zones urbaines populaires] entstanden sind, gegen den verwalterischen Munizipalismus der Stadtregierung von Barcelona.

Auf den Kreisverkehren hier gibt es bereits Gemeinschaftshütten, diese Häuser des Volkes [maisons du peuple], ihre Suppen, ihre Crepes, das ganze Geflecht von Versorgung und Unterstützung, Spenden, die gegenseitige Hilfe, die sich ausbreitet, mobilisiert jenseits der Bewegung in Richtung der Einzelhändler oder Produzenten, geht auch in Richtung der Ärmsten, die nicht an der Bewegung teilnehmen, in Issoire, in Caen, in Villefranche sur Saone und anderswo. Es gibt all diesen Austausch von Leistungen, Zeit, Nahrungsmitteln, all die informellen Haltungen, den üblichen anti-kommerziellen Ethos der ländlichen und halb-ländlichen Gegenden, mit dem viele nicht gebrochen haben. Es gibt diese neuen provisorischen“Familien“ oder eher ihre Rückzugsbasis, in den Häusern, bei den Nachbarn, die sich um die Kinder kümmern, während der Kampf weitergeht. Man hat viel gesagt und geschrieben, dass die „Gelbwesten“ vor allem an das Monatsende denken. Nichts ist simplistischer. Die Angst vor sozialem Abstieg der folgenden Generation, vor einer nicht nur eingeschränkten, sondern regressiven sozialen Mobilität und noch viel mehr die Sorge um den nicht nur ökonomischen, sondern ökologischen und vor allem ethischen Verfall der Lebensbedingungen sind in fast allen Köpfen. Die „Notwendigkeit der gegenseitigen Hilfe und Unterstützung, die eine letzte Zuflucht im begrenzten Kreise der Familie oder der Nachbarn in den Armenvierteln der Großstädte, in den Dörfern, oder in in den Geheimbünden der Arbeiter gefunden hatte, bestätigt sich aufs Neue in selbst unserer modernen Gesellschaft“, verkündete bereits Kropotkin im Jahr 1902.

Das konstruktive Ideal der Bewegung liegt folglich in ihrer wirksamen Ethik, nicht in den demokratischen Fantasmen, die nur eine Entführung jener auf die Fahrbahn der Institutionalisierung sind, der ultimative Ausdruck einer Bürokratisierung der Begehren und einer Erpressung hin zur „Ausfahrt“ der Politik.

Was ist ein gestalterisches Vermögen, wenn nicht die Möglichkeiten des Zusammenschlusses, der Ansteckung, die Konstellation der Revolten, in der Lage, sich zusammenzufügen? Die Praktiken der gegenseitigen Hilfe bleiben freilich fragil, weit davon entfernt, Hilfsgemeinschaften, Kooperativen, Debattierclubs und andere Syndikate der direkten Aktion des 19. Jahrhunderts zu etablieren. Der aktuelle Moment ruft nach anderen kollektiven Formen, die besser an diese Rückkehr der Lokalität als hauptsächliches Element der emanzipatorischen Politik angepasst sind. Die Beratung und die Versammlung sind in diesem Rahmen nur Teile unter vielen in einer Anordnung von Autonomien, die es zu erfinden gilt, Woche für Woche, Kampf um Kampf.

Abgesetzte Agenten der imaginären Partei

16. Dezember 2018

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