Die Gelbwesten und die neue Revolution

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In Frankreich gingen die vergangenen Wochenenden hunderttausende Menschen auf die Straße. Sie waren aufgebracht. Als Anlass mag die angekündigte Spritpreiserhöhung gedient haben, aber es blieb dabei nicht. Schon bald mischten sich diverse Forderungen in die Stimme des Aufruhrs, denn ein solcher wurde es, ausgehend von Straßenblockaden hin zu militanten Auseinandersetzungen mit der Polizei, deren Schwerpunkt Paris bildete.
Der Aufruhr hat den französischen Präsidenten Macron verängstigt. Er ruderte von seinen Umverteilungsmaßnahmen zuungunsten der unteren Schichten des Mittelstands ab und versprach stattdessen Sonderzahlungen, was einen Teil der Aufgebrachten beruhigen konnte, wenn auch nicht alle.

 

Aber der Aufruhr hat nicht nur den französischen Präsidenten in Angst versetzt. Die Sorge geht um, dass die geplante Umverteilung des europäischen Wohlstandes aus dem Mittelstand hin zur Oberschicht möglicherweise nicht ganz so einfach vonstatten gehen wird, wie gedacht. Offen wird selbst in der europäischen Elite spekuliert, ob die Umverteilung vielleicht derzeit nicht möglich ist. Denn die Angst geht um, dass die Menschen sich auch anderswo gelbe Westen anziehen könnten.

Dies haben sie bereits getan. So etwa in Belgien, wo sich der untere Teil der Mittelschicht mit dem Aufruhr identifizierte und ebenfalls auf die Straße ging. So aber auch in Deutschland. Dort wenngleich inspirierte der Aufruhr die Herzen derer, die ohnehin in Aufruhr sind und so zogen sich in Deutschland als erstes die Anhänger der neuen rechten Bewegung die gelben Westen über, wenn auch linke Gruppierungen durch die französischen Unruhen berührt wurden. Die Angst der europäischen Elite ist ihre Hoffnung, dass die Zeit des großen Widerspruchs gegen die Ausbeutung der ärmeren Schichten in Europa endlich gekommen ist.

Die Aufständischen in Frankreich eint nicht ein bestimmter Gedanke und keine gemeinsame Idee. Sie eint ihre Unzufriedenheit. Es eint auf den Straßen von Paris jene, die sonst unversöhnlich stehen, rechte Gruppen und linke Gruppen beziehen gemeinsam Position gegen Staat und Polizei. So ist es möglich, dass in anderen Ländern FaschistInnen und Anarchist_innen, Komunist_innen und Autonome sich von der Kraft der Aufrührer_innen inspirieren lassen können. Denn es ist dies kein linker Aufruhr und es ist dies kein rechter Aufruhr, es ist ein Aufruhr der Unzufriedenen.

Womit aber sind die Menschen so unzufrieden, dass sie bereit sind, die Ketten des Gesetzes niederzuwerfen und auf den Straßen der französischen Großstädten gegen ihren erst kürzlich von ihnen selbst gewählten Präsidenten zu opponieren? Sie sagen, dass das Geld ihnen nicht mehr zum Essen reicht, aber wie viele Menschen Hungern von denen, die Aufbegehren? Sie sagen, es reicht nicht mehr für die Miete, aber wie viele sind von Obdachlosigkeit bedroht? Verteidigen sie bloß ihr Essen und ihre Wohnungen oder verteidigen sie mehr? Reicht es noch für Essen, Wohnen und einen kleinen zusätzlichen Luxus oder reicht es beim Erwerb des kleinen Luxus nicht mehr für Essen und Wohnung?

Wir hören sie klagen über ihre eigene Not, aber wir hören keine Klagen über die Not der Armen in Bangladesh, wo die Hemden und Hosen für Europa produziert werden. Dort machen sie aus der Not heraus Kleidung, die sie selbst niemals anziehen werden für die Menschen in Europa.

Wir hören keine Klagen über das Elend in den Koltanmienen, wo die Armen aus XX aus Not heraus und unter Preisgabe ihrer Gesundheit und ihres Lebens giftigen Erze schürfen. Wir hören keine Klagen über die Not derer, die in China und Japan diese giftigen Erze auf Platinen löten, um die Gier der Menschen in Europa nach immer neuen smarten Geräten zu befriedigen.

Es war keine Klagen über den Tourismus zu hören, der ausgehend von Europa die Welt verdreckt und das Leben von Mensch und Tier selbst in den entlegensten Winkeln der Welt stört. Wir hörten keine Klage über den Exklusivtourismus, welcher den getressten Europäer_innen Ruhe und Frieden in den noch stillen Winkeln der Welt verspricht und sie Lärm und Abfall mitbringen lässt. Nichts wurde bisher gesagt zu den Toten an der Südküste Frankreichs, wo die Leichen der Hungrigen angespült werden, keine Klage über den Unwillen in Frankreich, hier mehr Hilfe zu bieten.

Keine Klage über die leer gefischten und mit Plastik aufgefüllten Meere. Keine Klage über die vergifteten Böden, über die wachsenden Wüsten. Über die moderne Waffenproduktion, über gefährliche Experimente mit dem Wohl aller. Keine Klage über die Technologie, die den Menschen auflöst in eine digitale Welt.

Worüber aber klagten sie in Frankreich? Sie klagten darüber, dass ihnen das Leben zu teuer wird. Wir hören die Klagen von Menschen, bei denen sich jeder selbst der nächste ist. Da, wo es andere betrifft, sehen die Menschen in den gelben Westen keinen Grund, die Stimme zu erheben, oder die Straßen zu blockieren. Sie sehen nicht, dass das Elend, welches sie ohne Klage hingenommen haben und weiterhin ohne Klage hinnehmen, zu ihrem Elend führt. Aber sie Klagen nur über dieses, weil sie an den anderen Verhältnissen in der Welt gar nichts ändern wollen. Sie wollen selbst nur gleich viel wie bisher, oder vielleicht sogar etwas mehr.

Es geht ihnen damit wie den Menschen in Deutschland. Hier ist kaum jemand aufgebracht, weil hier die Menschen haben, was sie oberflächlich glücklich macht. Hier sind es ein paar wenige Linke und zunehmend rechte Gruppen, die unzufrieden sind. Die rechten fürchten und hassen die Menschen, die nicht aus Deutschland kommen und sie wünschen sich, dass der Rest der Gesellschaft durch immer neue tatsächliche oder erfundene Verbrechen dieser Menschen in Aufruhr geraten. Die Linken dagegen hoffen, dass die Menschen in Deutschland von immer mehr Elend betroffen sind. Mehr Mietkämpfe, mehr Armut, denn mehr soziale Kämpfe brauchen auch Gründe, aus denen die Menschen um soziale Dinge kämpfen. Sie alle wünschen sich, dass die Menschen auch in Deutschland so aufgebracht wären, weil sie selber aufgebracht sind.

Tausend gute Gründe haben auch die Menschen in Europa, aufgebracht zu sein. Das blutende Herz ist bereit, Feuer zu fangen und strebt zum Aufstand. Es lodert hoch und heiß, bis der Mensch ausbrennt oder sein Gemüt gekühlt wird. Und da, wo es um Geld geht, ist das Gemüt leicht gekühlt. Und da, wo der Mensch verbrennt, bleibt ein Wrack zurück. Das Elend aber dauert fort, es bleibt bestehen, wie es zuvor war. Nur eine kleine Ungerechtigkeit wurde gebremst und zwar so lange, bis der Widerstand geringer ist, die Wut kleiner, die Tricks der Herrschenden ausgefeilter, die Menschen sich selbst und anderen noch fremder. Dann werden jene, die an der Spitze derjenigen Menschen in Europa stehen, die nie genug kriegen, ihre ursprünglichen Pläne umsetzen. Es ist das gleiche Prinzip seit hunderten von Jahren.

Doch das Herz blutet auch vielen aus anderen Gründen. Die aus dem Meer gefischten Leichen, die Ausbeutung der armen Kontinente, das Ertränken ganzer Länder in Gewalt und Krieg, die Verödung fruchtbarer Landstriche, die Verpestung der Luft, die Erwärmung des Erdenklimas. Das Handeln der Menschen als Sklaven, die Gewalt gegen Kinder, der Femizit, die Genitalverstümmelung. Die allumfassende Einsamkeit unter zahllosen Menschen, die Erschaffung einer Welt aus Plastikabfall, die Digitalisierung der Menschen. Dies ist der Schmerz und die Wut der Lebenden. Dieser Kampf ist der unsere. Schmerz und Mitgefühl blasen in die Glut aufrührerischer Feuer. Auch die Menschen, die das Leben lieben, kämpfen. Und manchmal ähnelt es dem Ausdruck der Aufständischen in Paris. Aber: Es sind die Motive, an denen sich die Kämpfe scheiden. Das Motiv der Aufständischen in Paris ist der soziale Kampf. Sie spüren, wie die Waffen der Herrschenden sich gegen sie richten, wo sie doch so lange ihr eigener kleiner Wohlstand durch genau diese Waffen erkämpft wurde. Nun stehen sie auf der Seite der Verlierer. Nun sind sie bereit zu kämpfen, dafür, dass sie wieder mit zu den Profiteur_innen der weltweiten Ausbeutung gehören. Dies ist keine Revolution, dies wird keine Revolution.

Das es eine Revolution wird, können nur diejenigen glauben, die an dem alten Bild der Revolution festhalten. In früheren Zeiten, da ging die Revolution von den Ausgebeuteten und Verarmten aus. Sie waren das revolutionäre Subjekt. Sie profitierten nicht von ihrer Ausbeutung, sie waren bloß Ausgebeutete. Heute aber sind die Ausgebeuteten in Europa vielfältig selbst Teilhaber_innen der globalen Ausbeutung. Sie können die Revolution des alten Typs nicht mehr durchführen, weil sich ihre objektive Lage gegenüber den Ausgebeuteten von früher verändert hat. Die Klasse der Ausgebeuteten existiert so nicht mehr.

Die Klasse der Ausgebeuteten hat vielleicht sogar nie existiert. Denn oft waren diejenigen, die für das Ende ihrer Ausbeutung kämpften, selbst in Systeme der Ausbeutung verstrickt. Die Alten beuteten schon immer die Jungen aus, die Männer schon immer die Frauen und dergleichen. Und die erfolgreichen Revolutionen waren nicht erfolgreich, denn wir leben immer noch in Knechtschaft. Die alten Revolutionen sind alt. Ihre Lebzeit ist vorbei, ihre Perspektive heute für Europa hoffnungslos und falsch. Eine neue Art der Revolution muss her.

Die neue Revolution ist nicht die des sozialen Kampfes. Sie hat nicht darin ihren Ursprung, auch wenn er Teil von ihr ist. Die neue Revolution rückt neue Aspekte in den Mittelpunkt. Die neue Revolution ist ökologisch, dass heißt, sie wird dafür kämpfen, dass trotz der nicht mehr aufzuhaltenden globalen Zerstörung der Natur, das Leben auf diesem Planeten erhalten bleibt. Sie wird sich dafür einsetzen, die Schäden wiedergutzumachen, um ein Leben für alle Menschen zu ermöglichen. Die neue Revolution ist feministisch. Das bedeutet, dass sie sich dafür einsetzt, die Beherrschung der Frau durch den Mann zu beenden. Diese Herrschaft zu beenden ist nur möglich, indem die Strukturen des Patriarchats erfasst werden und verstanden wird, woher dieses Herrschaftsverhältnis kommt, wie es funktioniert und wieso Männer und Frauen sich für dessen Erhalt einsetzen. Die neue Revolution setzt sich für die Freiheit der Jugend ein. Sie beendet die Herrschaft über die Jugend, sie beendet das Instrumentalisieren der Jugend für die eigenen Interessen gegen ihre Interessen. Auch hier sind Erfolge nur möglich, wenn die Struktur dieses Herrschaftsverhältnisses erkannt wird. Die neue Revolution kämpft nicht gegen die Regierung und nicht gegen den Staat. Vielmehr versucht sie, die Dialektik im Herrschaftsverhältnis von Staat und Gesellschaft zu verstehen und sich aus dieser zu entfernen. Die neue Revolution verlässt das Bild des Angriffs und wählt den Weg der Selbstverteidigung. Das bedeutet, dass die neue Revolution mit dem Aufbau der eigenen Strukturen beginnt und diese gegen Angriffe verteidigt. Doch steht der Aufbau und die Entwicklung des eigenen Selbst und der eigenen Verkehrswege und Verbindungslinien im Vordergrund.

Dies ist die neue Revolution. Sie hat begonnen in Rojava, enden wird sie mit der Freiheit der Menschen in aller Welt.

 

 

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Ergänzungen

Wobei die darinliegende Kritik doch völlig richtig ist: Gelbe Westen kämpfen in der Summe für die eigenen Mehrheitsinteressen.

Ein Blick und Solidarisierungen über den eigenen Tellerand finden nicht oder nur marginal statt. Die Subjektivität der Kämpfe und Riots wird zum emanzipativen Wert erhoben. Da aber auch der völkische Mob gut auf Barrikaden und Riot kann, ist das Ganze anschlussfähig für die neue und alte Rechte.

Der Fehler liegt in jeder Hinsicht im System.

Fordern wir niedrigere Steuern, Autofahren und Sitzlandschaften mit Flachbildplasmafernseher für alle in Frankreich?

Lieber: Alles für Alle und vor allem offene Grenzen!

So geht Revolution 4.0