[B] Erinnern heißt wachsam sein. Von Berlin-Neukölln bis Hanau.
Am 19. Februar jährt sich der Anschlag von Hanau zum dritten Mal. An diesem Tag vor 3 Jahren wurden Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov von einem rechtextremen Terroristen ermordet, bevor dieser noch seine Mutter und dann sich selbst tötete. Wie nach jedem Anschlag dominierte damals gesellschaftliche Ungläubigkeit über die „Tat eines Einzelnen“. Dabei genügt im Falle des Mörders von Hanau sogar der Blick hin zum Vater, der nicht nur die Ideen seines Sohnes vertritt, sondern Angehörige und Freund*innnen der Ermordeten bis heute verfolgt und bedroht.[1] Aber auch heute, genau 35 Monate nach dem Anschlag in Hanau tobt in Deutschland einmal mehr ein rassistischer Mob, der ganz grundsätzlich und immer wieder den Boden für derartige Mordkommandos bereitet.
Wenn es im Folgenden um die sogenannten „Silvesterkrawalle“ geht dann bleibt uns an dieser Stelle nichts anderes übrig, als einige Teile aus Behzad Karim Khani’s Kommentar in der Berliner Zeitung vom 10.01.23 zu zitieren: „Wissen Sie, es passieren merkwürdige Dinge, wenn man zwei Weltkriege anfängt und beide verliert. Wenn man bis zur letzten Kugel für die abartigste Idee der Geschichte kämpft. Und nachdem diese letzte Kugel verschossen wurde, Zwölfjährige mit Gewehren ohne Munition, mit Besenstielen losschickt. […] Merkwürdige Dinge passieren auch, wenn man beinahe seine gesamte Intelligenzija vergast, erschießt oder ins Exil verjagt. Und nach dem verlorenen Krieg einfache Arbeiter braucht. Menschen, die man holen kann, um die Trümmerhaufen, die bis gestern noch Berlin, Dresden oder Köln waren, wiederaufzubauen. Nachdem man ihnen zunächst in die Münder geschaut hat. Ihren Zahnbestand überprüft hat. Wie bei Nutztieren.“[2]
Auch wenn hier Vieles auf den Punkt gebracht wird, finden wir uns nicht in der Beschreibung der Situation als „merkwürdig“ wieder. Rassistische Hetze verschiebt kontinuierlich die Grenzen des „Denk- und Sagbaren“. Ein zwingendes Resultat dieser menschenfeindlichen Hasstiraden in den Medien sind dann Taten wie die in Hanau und Halle, aber auch die Organisierung militärischer Gruppen wie des Hannibal-Netzwerks oder des NSU.
Grenzenloseses Denken und Sagen.
Der Staat verkraftet es nicht, wenn sein Gewaltmonopol infrage gestellt wird. Und als Neukölln als Schwerpunkt der Auseinandersetzungen in der Silvesternacht ausgemacht wurde, dauerte es nicht lange, bis die Medien in das Konzert derer einstimmten, die eine „härtere Bestrafung der Täter“ oder auch die Vornamen der Festgenommen mit deutschem Pass einforderten. Ein besonderes Beispiel der widerlichen Hetze, die nicht neu, sondern ganz im Gegenteil in der Tradition des Weltkriegs-Anstifters Deutschland liegt, lieferte die B.Z. in ihrem Online-Auftritt.
Am 12. und 13.01.2023 veröffentlichte das uns gut bekannte Drecksblatt ganze fünf Artikel, die ganz systematisch aufeinander aufbauen und einzig und allein dem Zweck dienen, Menschen in Neukölln zur Zielscheibe zu machen. Aufbauend auf einigen Kommentaren des Neuköllner Bürgermeisters Martin Hikel (SPD) in der FAZ am 8. Januar 2023 („Martin Hikel: Ein paar Sozialstunden helfen nicht weiter“[3]), folgte am 12.01. um 9:02 Uhr „Nach Silvesterkrawallen – Hikel: Wiederholungstäter müssten „auch einmal länger in den Bau fahren“[4]. Das was danach kommt ist an Boshaftigkeit nur schwer zu überbieten. Um 10:38 Uhr: Lebensmittelkontrolleure twittern – So eklig sieht es in einigen Restaurant-Küchen in Neukölln aus![5]Um 15:45 Uhr: „Dreck auf S-Bahn Strecke außer Kontrolle – Müllproblem an der Herrmannstraße entgleist“[6]. Um 18:30 Uhr: „Aber Personal für Kontrollen knapp – Ekel-Restaurants in Neukölln entlarvt! Fleisch zu warm, Küche verkeimt“[7]. Abgerundet wurde das Ganze dann am 13.01. um 7:20 Uhr wieder vom Ausgangspunkt dieser Kampagne „Martin Hikel – Neuköllns Bürgermeister fordert mehr Lebensmittel-Kontrolleure“[8].
Die B.Z. und Martin Hikel liefern hiermit ein anschauliches Beispiel, wie scheinbar subtil rassistische Hetze und Menschenfeindlichkeit in – schon vorher fragwürdige Diskurse – eingebaut werden. So werden die Auseinandersetzungen in der Silvesternacht mit einer angeblichen allgemeinen Verwahrlosung des ganzen Kiezes und seiner Bewohner*innen in Verbindung gebracht. Das dabei ganz gezielt Menschen als „dreckig“, „chaotisch“ oder aberdirekt als „verabscheuungswürdig“ usw. beschrieben werden, ist in deutscher Nazimanier leider wirklich nicht merkwürdig. So stehen die hier bedienten Klischees in einer Linie mit der nationalsozialistischen Rassenhygiene, die ihrerseits ein entscheidender Eckpfeiler der Vernichtung im Dritten Reich war. Das, was in den genannten Artikeln geschrieben wurde, zielt darauf ab eine Gruppe von „Asozialen“ zu konstruieren, die im Anschluss an diese Zuschreibung – Wort für Wort – zum Abschuss freigegeben wird.
Jens Spahn (CDU) setzte dem Ganzen dann am 16.01. die Krone auf, als er von derselben B.Z. auf einem „Brennpunkt-Spaziergang“[9] begleitet wurde. Dabei redet er von „Männern mit Macho-Attitüde“ und „kriminellen Clans“, die sich „wie ein Geschwür“ ausbreiten würden. So ist Spahn einer derjenigen, der strukturelle Untedrückungsmechanismen wie das Patriarchat gezielt auf Bevölkerungsgruppen wie „die Araber in Neukölln“ projizieren. Homofeindlichkeit und Antisemitismus sind dann auch die zwei anderen Probleme, die – wenn man Spahn und anderen zuhört – immer die „der Anderen“, niemals aber die der „westlich zivilisierten Welt“seien. In diesem Fall die der Sonnenallee, Neuköllns und „der (asozialen) Araber“.
Sanderstraße, Sonnenallee, High-Deck-Siedlung oder Pallasstraße.
Die Liste der Orte, an denen an Silvester Bullen und ihre treuen Helfer*innen unter Beschuss geraten sind und nicht selten schnell den Rückzug antreten mussten, ließe sich über Berlin hinaus fortführen. Vor allem um den Kottbusser Damm in Neukölln konnten wir in den letzten Jahren eine eskalierende Auseinandersetzung mit den Bullen wahrnehmen. Diese beschränkt sich nicht auf die Tage um Silvester, sondern drückte sich bspw. auch auf der Tag-X Demo nach der Räumung des Köpi-Wagenplatzes in Form von Angriffen auf die Bullenkolonnen vor der Demo aus.
Es liegt uns fern für Andere zu sprechen. Dass irgendwelche Kartoffeln von Kai Wegner (CDU), über Franziska Giffey und Martin Hikel (beide SPD) oder auch Klaus Lederer (Die Linke), bis hin zum vorzeigeintegrierten Harki Ahmad Mansour sich anmaßen ihr Maul aufzureißen ist schon lächerlich genug.
Aus unseren Perspektiven haben wir unzählige Gründe mit einem Lächeln auf die Silvesternacht zurückzublicken. Ja, Bullen wurden an unzählbaren Orten in dieser Stadt angegriffen und die Zahlen zeigen, dass das für die meisten Rebell*innen juristisch folgenlos bleiben wird. So wurden bisher 59 Angriffe gegen Bullen und 43 gegen ihre Helfer*innen angezeigt.[10] Und ja, anders als es so oft behauptet wird, ist die Feuerwehr in solchen Auseinandersetzungen aktive Unterstützerin der Bullen, wenn sie ausrückt um brennende Barrikaden zu löschen, die als Hindernis zwischen den Rebellischen und der Staatsgewalt errichtet werden.
Anstatt die vollkommen verständlichen Angriffe auf die rassistische und menschenfeindliche Staatsgewalt kaputtzureden, stellen wir uns konsequent an die Seite derer, die jeden Moment nutzen, um den Mörder*innen in Uniform entschlossen entgegentreten. Momente, in denen die Angst die Seite wechselt und Kieze für kurze Zeit oder eine lange Nacht zu unregierbaren Zonen werden. Wir suchen den Schulterschluss, ob in unseren Texten oder praktisch auf den Straßen. Wir sind solidarisch mit denen, die sich um den Kottbusser Damm, auf der Sonnenalle, in der High-Deck-Siedlung und um die Pallasstraße in Schöneberg zusammengefunden haben, um die Gunst der Stunden zu nutzen und den Feind*innen der Freiheit entgegenzutreten.
„Es ist geschehen, folglich kann es wieder geschehen.“
Was der italienische Überlebende von Ausschwitz Primo Levi über die Schoah und die Verbrechen des Dritten Reiches geschrieben hat, gilt gleichermaßen für Hanau, Halle, die von den Bullen Ermordeten, den NSU oder das Hannibal-Netzwerk. Hanau war kein Einzelfall. Die tagtäglichen rassistischen Morde auf der Welt sind keine Einzelfälle, sondern Ausdruck des kapitalistischen Systems, das neben anderen strukturellen Unterdrückungsmechanismen auf Rassismus angewiesen ist, um Mehrwert zu generieren.
Selbst wenn wir wollten, könnten wir uns nicht schützend vor die Menschen stellen, die nicht erst seit Silvester, im (medialen) Kreuzfeuer stehen. Aber wer will überhaupt, dass sich jemand anderes – wenn auch gut gemeint, aber ungefragt – vor eine*n selbst stellt? Wir wollen nicht tatenlos zuschauen, ganz im Gegenteilaber festhalten, dass wir auch nicht schweigend zu Boden schauen, sondern das Recht der Unterdrückten betonen, sich mit allen Mitteln gegen den Staat und seine Schergen zur Wehr zu setzen. Wir sehen uns in der Verantwortung und sind bereit uns anzuschließen, einzureihen und die Lücken zu füllen!
Hanau zu Erinnern heißt sich gerade zu machen, wenn die Menschenfeinde in Staat und Medien Zielscheiben auf den Rücken unserer Nachbar*innen und Gefährt*innen malen. Wir schließen uns dem Aufruf von Migrantifa Berlin[11] an und sagen: #HanauIstÜberall #SayTheirNames
Rigaer 94
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[1] https://www.fr.de/rhein-main/hanau-attentaeter-vater-aengstigt-hinterbli...
[2] https://www.berliner-zeitung.de/kultur-vergnuegen/kommentar-meinung-berl...
[3] https://www.faz.net/agenturmeldungen/dpa/martin-hikel-ein-paar-sozialstu...
[4] https://www.bz-berlin.de/berlin/neukoelln/nach-silvester-schande-hikel-w...
[5] https://www.bz-berlin.de/berlin/neukoelln/so-eklig-sieht-es-in-einigen-r...
[6] https://www.bz-berlin.de/berlin/neukoelln/diese-maschine-reinigt-die-bah...
[7] https://www.bz-berlin.de/berlin/neukoelln/ekel-restaurants-kontrolle
[8] https://www.bz-berlin.de/berlin/neukoelln/hikel
[9] https://www.bz-berlin.de/berlin/neukoelln/brennpunkt-spaziergang-mit-jen...
[10] https://www.tagesschau.de/inland/silvester-krawalle-111.html
[11] https://twitter.com/BEMigrantifa/status/1615330440134512640?cxt=HHwWgMC-...