Radikaler Zweifel
aus: Autonomes Blättchen, Ausgabe 50 (1)(2)
Der Zweifel – auch der am eigenen Vorgehen – ist essenzieller Bestandteil einer radikalen linken Praxis. Wir sehen uns genötigt, in eine zunehmend autoritäre Linke zu intervenieren. Autoritär formierte Subjekte verwechseln Entschlossenheit und entschiedenes Handeln mit dem Wegdrücken begründeten Zweifelns. Die ‚Ermittlungsarbeit‘, die zum bundesweiten Outing eines ehemaligen Kölner Aktivisten geführt hat, macht uns fassungslos. Geäußerte Zweifel am Vorgehen der Ermittlungsgruppe und an der Sinnhaftigkeit des Outings mit aktivem Täterschutz gleichzusetzen, ist eine gängige, aber wenig überzeugende Abwehrreaktion einer autoritär strukturierten Linken.
Das antirassistische Grenzcamp 2012 in Koln ist vielen immer noch als unrühmlicher Höhepunkt eines linksradikalen Autoritarismus in Erinnerung. Alle waren geschockt und paralysiert von der missbräuchlich-autoritären Auslegung des berechtigen Konzepts einer critical whiteness. Darüber wurden zahlreiche ungläubige (also zweifelnde) Genoss*innen mit Rassismusvorwürfen belegt und vom Camp ausgeschlossen. Die Vorwürfe durften nicht diskutiert werden, der Ausschluss blieb damit unhinterfragbar. Wärend des Camps hat die autonome Linke es nicht geschafft, sich erfolgreich und konsequent gegen einen derart machtbewussten Missbrauch einer vorgeblichen Diskurs-‚Awareness‘ zu wehren. Im Nachhinein habe viele ihre Sprache wiedergefunden und ein solches Vorgehen als autoritär-antilinks, regressiv-inquisitorisch und strukturell rechts bezeichnet. Ein Paradestück in Sachen Selbstzerlegung linker Strukturen. Wüssten wir nicht von der offenen Flanke weiter Teile der radikalen Linken gegenüber autoritären Anwandlungen, könnte man eine externe Inszenierung vermuten, die auf Zersetzung in Selbstbeschäftigung zielte.
Dieses Grenzcamp war kein singuläres autoritäres Ereignis. In Italien exerzieren die Disobedienti mehrfach die autoritäre Bevormundung ihrer eigenen Mitstreiter*innen: Ein inoffizielles ‚Zentral Komitee‘ dealt mit den Bullen vorab Aktionsverläufe aus und moderiert die Straßenwut der Vielen in eine handhabbare, respektable, ‚politikfähige‘ Widerstandssimulation herunter. Auch hier braucht es keinen Verfassungsschutz um den Antagonismus der Straße zu bereinigen – der Geltungsdrang und der Autoritarismus einer ganzen linken Strömung reichen aus. In Deutschland eifert(e) die Interventionistische Linke den Disobedienti nach – mit der Vorgabe von Aktionsbildern (ehemals nicht-konsensuale Aktionskonsense) bei Großmobilisierungen wie Castor-Schottem oder Ende-Gelände. Hier bemüht sich die IL insbesondere um die Moderation von Entscheidungsprozessen und die Pressearbeit. So sichert sie ihren Dominanzanspruch beim Aktionsablauf und dessen medialer Interpretation ab. All dies sind autoritäre Anmaßungen, die in vollständigem Widerspruch zur selbstbestimmten Konzeption von Autonomie und Kollektiv stehen.
Die linksradikale Paralyse mit dem Rückfall in einen staatshörigen Konformismus während des ersten Pandemiejahres 2020 (ohne selbstbewusst Eigenverantwortung zu übernehmen und ohne die absurde Teilung in eine nicht-ansteckende Arbeitswelt und das ansteckende Private demonstrativ zu unterlaufen) hat gezeigt wie anfällig wir gegenüber autoritären Konzepten sind. Besonders in Schockmomenten, in denen die floskelhafte Selbstgewissheit alter linker Rezepte nicht mehr zu tragen scheint. Selbst nach ausreichend langer Zeit für die eigene Meinungsbildung folgt ein Großteil der Linken blind und ideenlos den immer noch absurden Vorgaben einer keineswegs ideologiefreien Regierungsfahrt ‚auf Sicht‘: Wir lassen uns bei einer Inzidenz von 35 eine kraftvolle Demo (mit Abstand und Masken) zum Hanau-Gedenken verbieten, stecken uns aber bei einer Inzidenz von über 1500 unmaskiert zu Tausenden in Fußballstadien und auf Konzerten an – nur weil es wieder erlaubt ist.
Die Binarität eines autoritär aufgenötigten Freund-Feindschemas funktioniert als Schablone auch im Ukraine-Krieg und lähmt weite Teile einer emanzipatorischen, antimilitaristischen Linken. Eine Kritik am Nationalismus in der Ukraine und am Bellizismus der Grünen muss weiter möglich sein, ohne die Verantwortung Russlands für diesen Angriffskrieg damit in Frage zu stellen. Der Feind meines Feindes ist halt nur in einer eindimensionalen Reduktion der Wirklichkeit mein Freund. Unterkomplexe Gewissheiten taugen nicht als Kompass für eine emanzipatorische Weltsicht.
Wir fürchten, die Reihe lässt sich noch weit in die Zukunft fortsetzen – sofern es uns nicht gelingt, den Autoritarismus unserer eigenen politischen (Selbst-)Organisation zu erkennen und zu bekämpfen.
Regressiver Autoritarismus in der IL-Ermittlungsgruppe
Dieser Autoritarismus hat leider auch die mehrmonatige Ermittlungsarbeit der IL zur ‚Aufdeckung‘ einer sexistischen Chatgruppe geprägt, die Nacktbilder und Absprachen zum gezielten ‚Rumkriegen‘ geteilt haben soll. Nachweislich wiederholte Zweifel an der Evidenz der ‚Beweise‘ aus den Reihen der IL und außerhalb wurden autoritär weggedrückt.
Alle, die wir aus sechs verschiedenen Ortsgruppen der IL persönlich und vertraulich konsultiert haben, melden erhebliche Zweifel an dem Outing vom Juli 2022 an. Wir stellen eine gehörige autoritäre Schieflage fest, wenn nach außen behauptet wird, dass sich die IL bundesweit einig war und ist in der Entscheidung, das Outing von einem der angeblich mindestens drei mutmaßlichen Täter durchzuführen. Die Täterschaft sei eindeutig und zweifelsfrei geklärt. IL-Intern sieht das in einem Statement der Ermittlungsgruppe bereits anders aus: „Die Chat Verläufe und Aussagen der Quelle könnten theoretisch gefälscht/manipuliert sein, deswegen sprechen wir von ‚Hinweisen‘. Wir und die Betroffenen kennen die Quelle nicht und haben keinen Kontakt mehr zu ihr. (…)“ (IL-interner Bericht der IL-Ermittlungsgruppe)
Die „Hinweis-„-lage ist tatsächlich alles andere als zweifelsfrei – die nebulöse, einzige Quelle, die keiner kennt / kennen will und die am Rande eines bundesweiten IL-Treffens kurz in Erscheinung getreten sein soll, einen Mailkontakt hinterlassen haben soll und ihre Ansprechbarkeit nach wenigen mails später gelöscht haben soll, hat in der offiziellen IL-Darstellung mehrfach die Gestalt gewechselt. Wann, mit wem und was die Quelle kommuniziert hat – diesbezüglich existieren von Seiten der IL mehrere, sich widersprechende Varianten: Ursprünglich a) ausführlicher, wiederholter Mailkontakt mit der Betroffenen selbst. Neuerdings jedoch b) Mailkontakt nur mit Mitgliedern der IL-Ortsgruppe der Betroffenen (gemäß IL Köln auf Kölner FLINTA-Treffen).
Die mangelnde Konkretheit (sowohl des Chatmediums als auch des über die Zeit mehrfach wechselnden Szenehintergrunds der Chatgruppe) erscheint uns, als solle sie sich einer Belast- und Hinterfragbarkeit entziehen können. Was könnte das Kultivieren eines solchen Recherchenebels rechtfertigen? Eine besonders aufwändige Form des Quellenschutzes? Vielleicht. Das Problem dabei ist, dass die ohnehin ramponierte Glaubwürdigkeit einer Quelle in Form von lediglich abgetippten(!) Chatinhalten so weit abrutscht, dass sie die Nachvollziehbarkeit des gesamten Vorgehens gegen den einen der angeblich drei Täter beschädigt.
Es ist tatsächlich wenig glaubwürdig, wenn das Outing dem dringenden Schutz weiterer Betroffener vor einer misogynen Chatgruppe Rechnung tragen soll, und gleichzeitig lapidar-selbstgefällig gesagt wird: „Es ist nicht unser Interesse, der Quelle weiter nachzuspüren“ (IL Köln auf Kölner FLINTA-Treffen). Dabei wäre die Quelle für jede ernsthafte Ermittlung der wichtigste Strohhalm, um die immer noch unbelegte Chatgruppe aufzuspüren und darüber tatsächlich weitere potenzielle Betroffene vor den mutmaßlichen Mittätern wirksam zu schützen.
Es mutet überdies extrem autoritär an, wenn auf einer derart wackligen Beweislage dem Beschuldigten vorgehalten wird, dass er „nicht kooperiert und nicht zu einer Aufklärung beigetragen“ habe. Für uns ist es bei den eklatanten Ungereimtheiten der belastenden Quelle mehr als fragwürdig wenn mit dem Verweis auf einen, „zugegeben etwas unflexiblen Leitfaden“ (IL Köln auf Kölner FLINTA-Treffen) die Anhörung des mutmaßlichen Täters verweigert wird, weil dieser die Tat bestreitet und damit das Kriterium der Einsicht als Voraussetzung fur die ‚Täterarbeit‘ nicht erfüllt. Eine sorgfältige ‚Ermittlungsarbeit‘ sollte unserer Meinung nach der Täterarbeit vorangestellt und nicht über deren Umkehr überflüssig gemacht werden. Wie soll denn eine Kooperation des Beschuldigten aussehen, wenn (wie die IL selbst als Möglichkeit konstatiert) die Existenz der Chatgruppe möglicherweise ein Fake ist?
Ist es nicht haarsträubend selbstgerecht und fatalistisch, wenn die IL Köln auf Nachfrage in einer Veranstaltung zur nachträglichen Rechtfertigung des Outings zugesteht, sie finde Vorgehen, Umstände und Zeitpunkt des Outings „unglücklich“ und sehe beim Abarbeiten des IL-Leitfadens durchaus „Verbesserungsbedarf“ (IL Köln auf Kölner FLINTA-Treffen)? In Anbetracht der Auswirkung eines bundesweiten Outings mit Namen und Foto müssen wir der IL Köln vorhalten, naiv, unkritisch und absolut unverantwortlich gehandelt zu haben und die persönliche + politische Dimension des eigenen Handelns nicht überblickt zu haben. Fassungslos machen uns ebenfalls die nachfolgenden Veröffentlichungen über das Outing hinaus (inklusive namentlicher Nennung der Partnerin des Beschuldigten). Selbst, wenn mensch (trotz aller Unstimmigkeiten) von der Schuld des vermeintlichen Täters überzeugt sein sollte – was könnte der emanzipatorische Gehalt einer Sippenhaft sein?
Das Outing ist unserer Meinung nach nicht zu verantworten. Es ist politisch falsch und erfüllt seine proklamierte Schutzfunktion weiterer Betroffener nicht.
In zahlreichen, so genannten „EncroChat“-Verfahren geht es exakt um die Glaubwürdigkeit einer nicht verifizierbaren Quelle. Französischen Behörden war es vor zwei Jahren gelungen, Tausende verschlüsselter Chats vermeintlich ‚krimineller Banden‘ zu hacken. Der französische Staat erklärte die Quelle zum Staatsgeheimnis. Europaweit ‚begnügen‘ sich nun Gerichte mit (von Bullen angefertigten) Chat-‚Abschriften‘. Deren Verwertbarkeit steht zu Recht in der Kritik einer kritischen Zivilgesellschaft aber auch von besorgten Rechtswisenschaftler*innen, weil sich damit einfach alles ‚beweisen‘ ließe und die „Glaubwürdigkeit des rechtsstaatlichen Verfahrens an sich“ auf dem Spiel stehe. Auf dieser Grundlage werden nun die ersten langjährigen Haftstrafen verhängt – ein Skandal, sollte man meinen.
Nicht so für die autoritäre Linke. Sie verfährt exakt gleich und gibt sich mit der (Selbst-)Konsistenz der nicht nachvollziehbaren Quelle mit einer Bestätigung der Betroffenen als nachträglichem Glaubwürdigkeits-Boost zufrieden: Die Betroffene soll bestätigt haben, die von der Quelle zugespielten (nicht-einvernehmlichen) Nacktbilder seien nur von diesem Abend des (einvernehmlichen) Sexdates denkbar. Auch eine Übereinstimmung in Details des Sexdates zwischen anonymer Quelle und vertraulicher Schilderung der Betroffenen gegenüber der Ermittlungsgruppe schließt eine Dritte als Chattende (und auch als Verantwortliche für die Nacktfotos) mitnichten aus!
Darüber verfällt auch die weniger-autoritär strukturierte Restlinke in eine verzagte Ängstlichkeit, in der hinter vorgehaltener Hand zwar gesagt wird „Das geht wirklich gar nicht“, aber öffentlich widersprechen? – lieber nicht. Für manche Genoss*innen ist das Anzweifeln der Beweislast schon das heiße Eisen, das gar an der Definitionsmacht der Betroffenen rütteln könnte (was natürlich Unsinn ist, denn es geht um den Wahrheitsgehalt einer externen Zeugin). Die Quelle bleibt ALLEN der Beteiligten den Nachweis schuldig, wo diese Bilder aufgetaucht sein sollen, ob sie tatsächlich der Beschuldigte (und keine dritte Person als Falle verdeckt) angefertigt hat und ob tatsächlich der Beschuldigte (und keine dritte Person) in diesem unbekannten Chat sexistische Statements gepostet hat. Ohne diesen Nachweis können wir den Beschuldigten nicht zum Täter erklaren. Liebe Leute, das geht beim besten Willen und auch bei voller Solidarität mit der Betroffenen nicht!
Wären wir in einem anderem Kontext mit einer solchen Anklage staatlicherseits konfrontiert, würden unsere linken Anwälte diese ‚Beweise‘ zu Recht zerpflücken und alle würden der Haltlosigkeit beipflichten. Zweifel am Vorgehen der Ermittlungsgruppe und an der Sinnhaftigkeit sowie der Legitimation des Outings mit aktivem Täterschutz gleichzusetzen, ist eine (vorhersehbare) autoritäre Abwehrreaktion, die durch keinerlei Schutz Betroffener zu rechtfertigen ist. Die Löschung abweichender Meinungen (vermutlich auch dieses Textes) erscheint einer Linken in der Autoritätsfalle berechtigt und im Sinne einer Abweichler*innen-Prävention notwendig. Zum Glück gibt es sie noch, die weniger autoritär geführten Zeitschriften und Portale, die eine von progressivem Zweifel und selbstkritischem Widerspruch geprägte Debatte wertschätzen.
Die verbreitete Angst davor, einen tief empfundenen Widerspruch in einer Szene zu äußern, in der die Mehrheit einfach ‚auf-der-vermeintlich-richtigen-Seite-stehen‘ möchte, das konformistische Abnicken einer absolut zweifelhaften Position sind Ausdruck einer unfassbar autoritären Deformation unserer derzeitigen Linken, die uns an die Hochphase des antideutschen Unwesens erinnert. Diese Angst reduziert linke Debatten auf das gleichermaßen inhaltsleere wie langweilige Nachsprechen gefälliger Denkhülsen. Widerspruch kann sich allenfalls eine gestandene Genoss*in leisten, die sich zutraut, den dann entfesselten Shitstorm auszuhalten – was für ein Armutszeugnis.
Wir fordern die IL auf, sich von diesem Outing zu distanzieren. Bis zur Klärung durch eine unabhängige, externe Recherchegruppe werden wir unsere Zusammenarbeit mit der IL in unseren Städten aussetzen. Wir sehen die Grundlage für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit massiv beschädigt.
Darüber hinaus fordern wir (innerhalb und außerhalb der IL) auf, sich nicht nur hinter vorgehaltener Hand (und damit konsequenzlos) von autoritären Strukturen zu distanzieren. Kommt raus aus dieser Autoritätsfalle und lasst die traumatische Sprachlosigkeit des Kölner Grenzcamps von 2012 und des Kölner Outing-Skandals von 2022 hinter euch. Lernen wir einige unserer Grundfertigkeiten neu: lautstark zu widersprechen und selbstbewusst zu widerstehen.
ein überregionaler Zusammenschluss autonomer und anarchistischer Gruppen
Kontakt:
radikalerzweifel@zeromail.org
(pgp-key auf Anfrage)
(1) https://autonomesblaettchen.noblogs.org/
(2) https://autonomesblaettchen.noblogs.org/files/2022/09/nr50web.pdf