Systemblockade in Italien
Am 4. März fanden Parlamentswahlen in Italien statt. Entgegen dem Wunsch der dominanten Eliten verloren die pro-europäischen Parteien des Establishments, der euroskeptische Populismus ist im Vormarsch. Raffaele Traini mit einer Analyse und Perspektive für die Linke.
Die Parlamentswahlen in Italien vom 4. März sind die Fortsetzung eines „anti-Establishment“- Trends, der sich schon bei der Brexit-Wahl, den Präsidentschaftswahlen in den USA 2016 und dem Verfassungsreferendum in Italien 2016 manifestiert hat.
Auch diesmal sind die Ergebnisse ganz anders ausgefallen, als sie sein sollten. Sie hätten eine Fortsetzung der Austeritätspolitiken der letzten sieben Jahre, die auch die derzeitige Übergangsregierung hochhält, mit anderen Mitteln garantieren sollen. Eine diesbezügliche kontroverse Änderung des Wahlgesetzes seitens der lange Zeit dominanten Partito Democratico (PD, Demokratische Partei) [1] zielte darauf ab, eine Mehrheit für die pro-europäischen Parteien des Establishments (also PD und Berlusconi) zu garantieren. Bei zunehmender Wahlenthaltung – die Wahlbeteiligung sank weiter von 75% im Jahre 2013 auf 73% – stimmte die Wahlbevölkerung bewusst gegen diese Option.
Das Wahlergebnis katapultierte die populistische und klassenübergreifende 5-Sterne-Bewegung (M5S) auf den ersten Platz in den meisten italienischen Regionen, wo sie oft auch die gesamte Mitte-Rechts-Koalition überholte. Gleichermaßen profitieren konnte die Lega, die Berlusconi überholen und somit die dominante Partei der Mitte-Rechts-Koalition werden konnte. Es handelt sich hier um eine Umbennung der ehemaligen Lega Nord, um die nationalistischen statt bloß regionalistischen Ambitionen klar zu machen.
Das Ergebnis symbolisierte auf eine Art und Weise eine systemische Veränderung. Beide Gewinner der Wahlen adressierten die sich verschlechternden Lebensbedingungen nach zehn Jahren Krise und der neoliberalen Beschränkungen der EU. Die M5S zog in den Wahlkampf mit der Forderung nach der Einführung einer bedarfsabhängigen Grundsicherung, da Italien neben Griechenland das einzige EU-Land ist, das ein solches soziales Auffangnetz nicht kennt. Und die Lega forderte die Einführung einer Pauschalsteuer, die angeblich steuerliche Gleichheit schaffen soll. Das würde zwar den Reichen am meisten nützen, wirkt aber attraktiv im Angesicht einer sehr komplizierten Steuerbürokratie. Die Lega beutete natürlich auch den dominanten Trend der Anti-Geflüchteten Paranoia und der Ablehnung der EU-Regelungen, für ihre Sache aus. Dabei hatte sie jene Regelungen in ihrer letzten Amtsperiode noch gemeinsam mit Berlusconi unterzeichnet. Diese Taktiken hatten zur Folge, dass die klassischen Establishment-Parteien vernichtend geschlagen wurden: Die Stimmen dieser Parteien fielen von insgesamt 70 Prozent auf 30 Prozent im Laufe der letzten, von der Finanzkrise dominierten 12 Jahre.
Gewissermaßen ließ sich auch eine Spaltung in Metropole und Provinz erkennen – so ähnlich wie bei den letzten Parlamentswahlen in Österreich und Frankreich oder beim Verfassungsreferendum 2017 in der Türkei. In Norditalien wurde in den meisten Metropolen (oder zumindest in den reicheren Gegenden) die neoliberale pro-Globalisierungs-Partei PD, die sich sonst überall auf dem absteigenden Ast befindet, belohnt.
Eine neue Republik
In Italien wird gängigerweise zwischen „Erster Republik“ und „Zweiter Republik“ unterschieden bei der Betrachtung des post-faschistischen Italiens. Nach dieser Erzählung fängt die sogenannte ,,Erste Republik“ nach Ende des Zweiten Weltkriegs an und dauert bis 1994. Sie ist dominiert gewesen von der Christdemokratie, deren „natürliche“ Opposition die Kommunistische Partei gebildet hat. Unterbrochen worden ist diese Geschichte nur von der unheiligen Allianz gegen den linksradikalen bewaffneten Kampf der 1970er. Die sogenannte „Zweite Republik“ hingegen zeichne sich durch eine Bipolarität von Mitte-Links gegen Mitte-Rechts ab, wobei das erste Lager von der sich zunehmend neoliberalisierenden Sozialdemokratie der PD; das Mitte-Rechts-Lager vom Charisma Berlusconis geführt wird.
Die Wahlen 2013 bezeichneten den Anfang des Endes der klassischen Mitte-Links Regierungen und damit das Ende der ,,Zweiten Republik". Die neoliberale Ideologie, sowie unternehmerfreundliche Gesetzgebung, ersetzten nun vollständig traditionelle linke Werte. Die Verbindung mit Gewerkschaften, Verbänden und zivilen Plattformen wurde aufgelöst sowie eine law-and-order-Haltung auch gegenüber sozialen Bewegungen eingenommen. Die Wahlen 2018 brachten diesen Prozess zu seinem logischen Abschluss: Unter Führung von Matteo Renzi hörte die PD auf eine Massenpartei zu sein und wandelte sich um in eine Elitenpartei, die auf absehbare Zeit keine entscheidende Rolle mehr im politischen System einnehmen wird. Gleichzeitig wurde Berlusconis Partei, die von zahlreichen Korruptionsskandalen und dem politischen Betätigungsverbot ihres ,,Führers“ erschüttert wurde, durch die Lega im Norden und M5S im Süden Italiens ersetzt. So entstand also eine „Dritte Republik“ als eine „Bürgerrepublik“ – so die Worte des M5S-Führers Luigi di Maio – im Zuge der Zerstörung der beiden großen pro-Globalisierungs-Parteien.
Wodurch zeichnet sich die Entstehung dieser „Dritten Republik“ aus?
Einerseits gab es eine massive Herausforderung des globalen Status Quo im Jahre 2011 durch eine Vielzahl von Basisbewegungen für radikale Demokratie, die populare Macht und Souveränität gegen diejenige der Eliten forderten. Obwohl unterschiedliche autonome Bewegungen die bestehenden Institutionen des italienischen Staates durch Kämpfe in der Bildungssphäre, den Wohnverhältnissen und den Arbeitsplätzen herausforderten, konnte letztlich die M5S, die sich bis heute als Bewegung statt als Partei begreift, vom Unmut der Menschen profitieren. Sie nutze diesen in opportunistischer Manier aus und institutionalisierte ihn dadurch, dass sie mal links, mal rechts blinkte je nach aktueller Stimmungslage.
Andererseits traf eine explosive Mischung an neoliberalem Eigentumsindividualismus gemeinsam mit einem sich nach 9/11 herstellenden und mittels IS-Anschlägen verstärkenden xenophoben Sicherheitswahn auf die Unfähigkeit der EU, im Angesicht der großen Migrationswelle im Zuge des Arabischen Frühlings eine einheitliche Strategie zu entwickeln. Das führte zu einer impliziten Front zwischen den Bossen und einem Großteil der „einheimischen“, weißen Mittel- und Unterklassen. So wurde dann auch die „Nationale Präferenz“-Ideologie [2] der Lega, deren Motto „Prima agli Italiani“ („Zuerst den Italienern!“) an den Lepenismus [3] und Trumps „America First“ erinnert, in unterschiedlichen Graden in den Diskurs der anderen im Parlament vertretenen Parteien integriert. Nicht zuletzt sorgte diese Verschiebung dafür, dass mittlerweile auch Kindern von Migrant*innen, die in Italien geboren werden, die italienische Staatsbürger*innenschaft verweigert wird.
Die Blockade der Institutionen
Kann sich in dieser schönen neuen Welt der Aufstieg der neuen Parteien in eine Regierungsbildung niederschlagen?
Auch in Italien wählen die Bürger*innen die Abgeordneten, die wiederum die Präsident*innen der Kammern und die Regierung wählen. Das geltende Wahlgesetz hat hingegen mit 33 Prozent für die M5S und 37 Prozent für die gesamte Mitte-Rechts-Koalition für eine institutionelle Blockade gesorgt. Es gibt auch eine Reihe von anderen, sich überschneidenden Spaltungen:
Da gibt es zu erst einmal ideologische Probleme. Wie schon ausgeführt, gehören PD wie Berlusconi mehr zum nationalen und europäischen Establishment mit zugehöriger Rhetorik, während M5S und Lega euroskeptisch sind und versuchen, sich aus den Beschränkungen der EU zu entwinden. Zum anderen herrscht ein Zustand der Tripolarität vor. Keine der Parteien oder Koalitionen kann eine Regierung bilden ohne Unterstützung von zumindest einem der beiden anderen Parteien oder Koalitionen.
Dann gibt es noch den Widerspruch zwischen dem popularen Wunsch nach einer effektiven, euroskeptischen Regierung und dem Unwillen von Teilen der M5S und Lega-Wählerschaft, miteinander in eine Koalition zu gehen: Während die M5S die Lega zu den „alten Parteien“ zählt aufgrund ihrer ehemaligen Regierungsbeteiligungen in Berlusconi-geführten Regierungen, hält die Lega die M5S für nicht hart genug in punkto Migrationsfragen und kritisiert einige andere ihrer „linken“ Vorschläge.
Zusätzlich können wir sicher sein, dass der Präsident, sowie andere Staatsinstitutionen die Parteien geradezu dazu nötigen werden, so schnell wie möglich eine verantwortliche Regierung zu bilden, um keine Probleme mit den Märkten und der EU zu bekommen.
Und natürlich fürchten sich die unterlegenen Parteien vor Neuwahlen, da die PD-Basis zur M5S und Berlusconis Basis zur Lega zu tendieren scheint. Selbstverständlich könnte sich auch einfach die institutionelle Blockade erneuern.
Es stellt sich derzeit also eine klassische Situation des „Mexican standoff“ [4] her: Jeder kann verlieren durch eine Allianz mit einem Rivalen und gleichzeitig aber auch durch Neuwahlen.
Alte Feinde, neue Herausforderungen
Trotz massenmedialer Präsenz, dem Einbruch des Geschichtsbewusstseins bezüglich der Resistenza im Zweiten Weltkrieg und der derzeit ausufernden Xenophobie und des Nationalismus konnten die faschistische Casa Pound und Italia agli Italiania – eine Front der Forza Nuova und der Fiamma Tricolore – kaum Stimmen gewinnen und zogen nicht ins Parlament ein.
Zusätzlich zu großen Antifa-Mobilisierungen gegen beide Rechtsparteien im Februar 2018 liegt der Grund ihrer Schwäche in der Stärke der Lega. Die Lega war in der Lage, alte und neue Formen nationalistischer, patriarchaler und xenophober Diskurse und Praktiken auf der Straße, in sozialen Netzwerken, in Think-Tanks und auf parteipolitischer Ebene zusammenzuführen und zu erneuern. Ganz ähnlich wie die Mitte-Rechte Nea Demokratia in Griechenland in den Jahren 2011 bis 2015 aus der Basis der Chrysi Avgi (Goldene Morgenröte) schöpfen konnte, indem sie ihre Haltungen zur Migration und zum Sicherheitsdiskurs übernahm. Damit erschuf sich die Lega einerseits einen harten Kern an Militanten und bespielte andererseits tatsächliche Bedürfnisse mit Vorschlägen zur Reform der Renten, des Bankensystems und der Steuern.
Sollte eine solche trumpistische Perspektive aus der institutionellen Blockade siegreich hervorgehen, könnte dies ähnlich wie im Vorlauf zu den Wahlen zu einer gesunden links-rechts Polarisierung und zu einer Revitalisierung von antagonistischen Basisbewegungen führen, die jedoch weiterhin an einer systemischen Alternative arbeiten müssten. Sollte hingegen die M5S, die ja für sich geworben hatte mit Plänen zur Einführung einer bedarfsabhängigen Grundsicherung sowie alternativen Entwicklungsmodellen, siegreich aus dem Patt hervorgehen, könnten neue soziale Bewegungen entstehen, die Druck aufbauen, damit genau jene Vorschläge umgesetzt und ausgebaut werden. Natürlich ist auch möglich, dass sich tatsächlich eine M5S-Lega-Regierung herausbildet, was einen großen Raum für politische Interventionen der Linken eröffnen würde; oder aber, dass sich eine Regierung der Waffenruhe bildet, die sich auf das jährliche Budget sowie möglicherweise ein neues Wahlgesetz einigt, was den derzeitigen Zustand hinauszögern würde.
In jeder Hinsicht wird sich ein Novum in Westeuropa herstellen: Bisher wurden soziale Bewegungen nicht konfrontiert mit souveränistischen Nationalisten in den Satteln der Regierung. Während sich diese als neue Elite installieren werden, muss jede vernünftige soziale Alternative diese Eliten daran messen, wie sehr sie mit radikaler Demokratie oder nicht doch eher mit dem Autoritarismus verbunden ist. Gleichzeitig muss sie sie daran bemessen, ob sie in der Lage sind, die Lebensbedingungen der Menschen im Angesicht von supra-nationalen und nationalen Beschränkungen zu verbessern. Gleichzeitig muss die selektive und unsinnige Solidarität der „Nationalen Präferenz“ bekämpft werden.
Als Basis einer solchen sozialen Alternative müsste angesetzt werden bei denen, die schon vom System der repräsentativen Politik ausgeschlossen sind: Jugendliche, Migrant*innen sowie Teile der armen Stadt- und Peripheriebewohner*innen. Sprich bei denselben Klassensektionen, die die größten Kämpfe gegen die Zerstörungen des finanziellen Totalitarismus der letzten Jahre in Italien geführt haben.
Raffaele Traini ist unabhängiger und militanter Forscher in Italien.
Aus dem Englischen übersetzt von Alp Kayserilioğlu.
Anmerkungen:
[1] Das neue Wahlgesetz von 2017, das nach der Ablehnung des ersten Entwurfs auch Rosatellum bis genannt wird, beinhaltet ein gemischtes Wahlsystem, das Elemente sowohl des Verhältniswahlrechts als auch des Mehrheitswahlrechts enthält. Die Einführung von vielen Wahlbezirken, die nach Mehrheitswahlrecht funktionieren, sollte Koalitionen statt einzelne Parteien wie M5S stärken. Zusätzlich sollten innerhalb von Koalitionen die starken Parteien gestärkt werden, also zum Beispiel Berlusconis Partei gegenüber der Lega.
[2] Das Konzept der „Nationalen Präferenz“ wie es in den 1980ern vom rechtsradikalen Club du l'Horloge-Kreis in Frankreich entwickelt wurde, ist zu einem Kernelement rechter Parteienprogrammatik wie zum Beispiel der des Front National geworden. Es beinhaltet die Vorstellung, dass der Bezug wohlfahrtsstaatlicher Leistungen und anderer Formen öffentlicher Hilfsleistungen und Rechte an eine bestimmte ethnisch-nationalstaatliche Identität statt an Bedürftigkeit gekoppelt wird.
[3] Lepenismus bezeichnet eine staatszentrierte, post-globale, souveränistisch-rechte politische Perspektive, die sich aus dem Namen der Vorsitzenden des rechtsradikalen Front National, Marine Le Pen, ableitet.
[4] Der Mexican standoff bezeichnet umgangssprachlich eine Situation, in der keine der beteiligten Partien eindeutig gewinnen noch durch offensives oder defensives Verhalten die Situation lösen kann. Der Mexican standoff ist ein Markenzeichen des Italowesterns: Drei Rivalen stehen sich mit gezückten Waffen gegenüber, keiner schießt, um nicht Zielscheibe des jeweils Dritten zu werden, keiner steckt die Waffe weg, um nicht das erste Opfer zu sein.