Balkanroute rückwärts – Flucht, Staatlichkeit und Repression (Teil III)
Die serbisch-kroatische Grenzregion stand im Zentrum des zweiten Artikels der Serie über die Situation auf der sogenannten „Balkan-Route“. Im dritten und letzten Beitrag schildert re:volt-Autor Felix Broz seine Erfahrungen in Belgrad und Skopje, der Vorhölle der EU.
Belgrad ist nicht nur die Hauptstadt Serbiens, sondern auch die Stadt, in der sich außerparlamentarische Gruppen, NGOs und UN-Institutionen im Land konzentrieren. Im Rahmen unserer Delegationsreise hatten wir die Möglichkeit, mit einigen Aktivist*innen aus unterschiedlichen linken Nichtregierungs-Gruppen vor Ort über ihre politische Arbeit zu sprechen. Die anarchistischen Genoss*innen von No Borders nehmen uns mit auf einen Gang durch die Innenstadt Belgrads. Hier gibt es zahlreiche Orte, an denen sich die Auswirkungen der serbischen und europäischen Grenz- und Flüchtlingspolitik ablesen lassen. Im sogenannten "Afghan Park" nahe des Hauptbahnhofes wird schnell klar, wie effektiv das europäische Grenzregime und der schmutzige EU-Türkei-Deal Flüchtende von der "Balkanroute" fernhalten. Anders als noch vor zwei Jahren sind hier mittlerweile kaum noch Menschen anzutreffen, die auf eine Gelegenheit zur Überquerung der Grenzen zur EU warten oder auch nur Hoffnung darauf haben.
Serbische „Politik der Härte“
Während im Jahr 2015 zwischen 800.000 und 1.000.000 Menschen das Land durchquerten, übernachteten viele in provisorischen Zelten und Hütten zwischen dem Afghan Park und den angrenzenden Bahngleisen. Die Behörden duldeten die – schon damals – unmenschlichen Zustände. Gleichzeitig drohten die Repressionsorgane Hotelbetreiber*innen mit hohen Strafzahlungen, sollten sie Flüchtende beherbergen. Ziel dieser politischen Praxis war es, so der Behördensprech, „alle Anreize für einen längeren Aufenthalt in Serbien abzuschaffen“. Angesichts der außerordentlich niedrigen Anzahl an flüchtenden Menschen, die in diesem Land einen Asylantrag stellen (im Jahr 2017 zwischen 70 bis 80 Personen insgesamt), ist diese Aussage blanker Hohn. Wie viele Flüchtende sich momentan in Serbien aufhalten, ist unklar. Regierungsstellen nennen eine offizielle Zahl von 3.800 Personen. Ihre reale Zahl dürfte weitaus höher liegen. Alles in allem entsteht das Bild einer durch und durch menschenverachtenden Politik. Offensichtlich geht es vor allem darum, sich mit politischer Härte als verlässlicher Partner der EU-Außenpolitik zu profilieren.
Welche Folgen diese politische Linie praktisch mit sich bringt, machen uns zwei Vertreter*innen der NGO Praxis deutlich. Sie berichten von Vorfällen, bei denen Flüchtende von Ungarn oder der Ukraine nach Serbien abgeschoben wurden, obwohl die betreffenden Personen nie das Land durchreist hatten. Solche eigentlich rechtswidrigen Deportationen flüchtender Menschen nach Serbien lassen vermuten, dass es Deals zwischen den jeweiligen Regierungen gibt. Sie sind Ausdruck unterschiedlicher Machtpositionen zwischen etablierten EU-Mitgliedern und „bemühten“ EU-Beitrittskandidaten – wie eben Serbien und Mazedonien. Generell hören wir von vielen Menschen aus zivilgesellschaftlichen Organisationen, dass der serbische Staat permanent grundlegende Menschenrechte mit Füßen tritt. Sie kritisieren die mangelhaften und nicht ausreichenden Unterkunftsplätze und berichten uns mit Sorge über „gefängnisartige“ Camps oder unzureichende Verpflegung (Dazu mehr in Teil II der Artikelserie). Selbst medizinische Hilfe wird häufig nicht gewährt. Darüber hinaus sind verhältnismäßig viele „unbegleitete minderjährige Flüchtlinge“ im Land, was sich bereits in der Grenzstadt Šid zeigte. Manche Kinder und Jugendliche gelten derzeit als „staatenlos“, vor allem, wenn sie alleine gereist sind oder ihre Angehörigen während der Reise verloren haben. Sie haben einen noch schwereren Zugang zu Sozialleistungen und damit zu einer Existenzsicherung. Ihre ökonomisch und sozial aussichtslose Lage macht sie damit auch zu einem leichten Ziel für kriminelle Strukturen. Nicht wenige wurden und werden im „Afghan Park“ angesprochen. Sie stecken ohne Hoffnung auf Besserung ihrer Lage fest: Menschenschmuggler*innen zwingen sie, ihre „Schulden“ für bisherige oder missglückte Grenzüberwindungen zu bezahlen. Als Folge dieser Erpressung müssen viele zwangsweise für diese Strukturen arbeiten.
Die staatliche Diskriminierungspolitik betrifft jedoch nicht allein illegalisierte, flüchtende Menschen in den Grenzgebieten zu Kroatien, Ungarn und Bulgarien. Das Unvermögen der serbischen Regierung, den aktuell Flüchtenden notwendige Versorgung und Perspektiven zu geben, geht einher mit einer massiven Ausgrenzung angestammter Bevölkerungsgruppen. Die Rede ist von den sogenannten „legal unsichtbaren“ Menschen, zu denen vor allem die Bevölkerungsgruppe der Roma zählt. Nach offiziellen Angaben machen sie mehr als zwei Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Ihre Entrechtung hat viele Facetten, aber eine der dramatischsten und folgenreichsten ist die Staatenlosigkeit zahlreicher Roma. In der noch immer stark patriarchal geprägten Ordnung der serbischen Gesellschaft ist es so zum Beispiel für „unregistrierte“ Romnija* schwer, ihre Geburten registrieren zu lassen und die Staatsangehörigkeit zugesprochen zu bekommen. Ein Augenmerk vieler serbischer NGOs liegt dementsprechend darauf, Flüchtenden und Kindern aus serbischen Roma-Familien in den landesweit 500 bis 600 informellen Siedlungen gleichermaßen den Zugang zu staatlichen Wohlfahrtsleitungen zu ermöglichen. Ein Spagat, der mit sehr wenig finanziellen Mitteln zu meistern ist.
Mazedonien und die Vorverlagerung der EU-Außengrenzen
Die Delegationsreise führt uns von Serbien weiter nach Mazedonien. Die Lage der Roma ist hier kaum anders: Sie sind von enormer Ausgrenzung betroffen, ein Genosse beschreibt es als „worst situation“, als schlimmstmöglichen Zustand. Aufgrund der gesellschaftlichen Isolation sind sie häufig gezwungen, mit Pferdewagen in der Stadt umherzufahren, um selbst im Hausmüll noch Verwertbares für das eigene Überleben zu suchen. Von circa 2. Millionen Einwohner*innen stellen Roma einen Bevölkerungsanteil von bis zu 185.000 Personen dar, sind aber politisch kaum im herrschenden politischen Betrieb sichtbar.
Auch die wenigen Flüchtenden, die sich in Mazedonien selbst aufhalten gelten als weitestgehend „vergessen“ und sind den katastrophalen Zuständen in den derzeit sieben staatlichen Lagern ausgesetzt. Nichtsdestotrotz spielt der südosteuropäische Staat eine wichtige Rolle in der europäischen Abschottungspolitik: Aktuell ist sein repressives Grenzregime ein wesentlicher Grund, warum die in Griechenland steckengebliebenen Flüchtenden nicht Richtung Serbien und weiter in die EU aufbrechen können.
In der Hauptstadt Skopje treffen wir einen Aktiven der neuen linken Bewegung Leftist Movement Solidarity (LEVICA). Er berichtet uns von den konkreten Auswirkungen der Vorverlagerung der europäischen Außengrenzen und führt uns die menschenverachtende Migrationspolitik des Landes nochmals genauer vor Augen Vor allem das Camp nahe der griechischen Stadt Idomeni, welches an der Grenze zwischen Mazedonien und Griechenland liegt, hat hierbei traurige Berühmtheit erlangt. Bereits im Herbst und Winter 2015 gingen die mazedonischen Repressionsbehörden im Zuge der de facto Grenzschließung mit brutaler Gewalt gegen die Menschen an der Grenze vor. Nur wenige Monate später erfolgte im Mai 2016 die brutale Räumung durch die griechische Polizei. Bei Idomeni handelt es sich allerdings nur um ein Beispiel für die enge Verzahnung von EU-Interessen mit dem vasallenhaften Vorgehen des mazedonischen Staates. Die Beziehungen zwischen Mazedonien und der EU sind an vielen Stellen eng verzahnt und mafiös, das zeigen die Erfahrungen der Genoss*innen von LEVICA.
Die EU auch nimmt einen enormen Einfluss auf die politischen Entscheidungen der Regierung. In diesem Zusammenhang berichtet der Genosse vom Besuch des frischgekürten österreichischen Bundeskanzlers Sebastian Kurz (ÖVP) im November 2016 in Skopje. In seiner damaligen Funktion als österreichischer Außenminister bedankte Kurz sich ausdrücklich für die Schließung der sogenannten Westbalkanroute und revanchierte sich postwendend mit Werbung für die damalige autoritäre Regierungspartei Mazedoniens (VMRO-DPMNE). Der EU-Staatenbund intervenierte auch, um die legalen Zugänge von Mazedonier*innen in den europäischen Raum zu begrenzen. Konkret ging es dabei um die Praxis Bulgariens, das früher relativ unkompliziert Pässe an Mazedonier*innen vergab, sofern sie bulgarische Vorfahren nachweisen konnten. Ein solches Vorgehen ist inzwischen unterbunden worden.
Neben der effektiven Kontrolle der Migrationsbewegungen zielt das enge Verhältnis ebenso auf eine tiefgreifende Neoliberalisierung des Landes ab. Nach der Unabhängigkeit von Jugoslawien im Jahr 1991 setzte eine massive Umstrukturierung ein. Innerhalb von nur fünf Jahren erfolgte die Privatisierung von fast 93 Prozent der Betriebe und der vorhandenen Infrastruktur. Möglich machte dies nicht zuletzt die massive Korruption, welche auf der tiefgreifenden Verarmung und sozialen Perspektivlosigkeit weiter Teile der Gesellschaft basiert. Das Gewinnstreben machte vor kaum etwas Halt: In den Jahren 2015 und 2016 kam es zu entsprechenden Versuchen, von den illegalisierten Migrationsbewegungen zu profitieren. Während die Regierung nichts tat, um Flüchtende mit dem Notwendigsten zum Leben zu unterstützen, erlebten mafiöse Strukturen eine kurzzeitige Blüte. Das gemeinsame Ziel, schnell Geld zu verdienen, führte Staatsbeamt*innen und Polizei, Bahnarbeiter*innen und Menschenhändler*innen in einer dubiosen Melange zusammen. Vor diesem Hintergrund verwundert es wenig, dass nicht nur linke Basisaktivist*innen die politischen Parteien und ihre Vertreter*innen als durchweg korrupte „Vasallen der EU“ betrachten.
Während unseres Aufenthaltes in Mazedonien läuft der Wahlkampf für die Parlamentswahlen auf Hochtouren. Hoffnung auf Veränderung gibt es jedoch kaum. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt momentan bei circa 52 Prozent und der durchschnittliche Monatslohn beträgt zwischen 120 und 360 Euro. Das Ergattern eines Jobs ist dabei im privaten genauso wie im staatlichen Sektor häufig von der Zugehörigkeit zur „richtigen“, also herrschenden, Partei abhängig. Das Land ist als Produkt europäisch-neoliberaler Politik gezielt verarmt worden. Um von den hausgemachten und von der EU-Politik produzierten Problemen abzulenken, ist daher das rassistische Ticket im Wahlkampf umso beliebter. Gleichzeitig werden vor allem jene diskreditiert, die Flüchtende unterstützen und politisch linke Basisarbeit voranbringen. Die Schließung von „zu kritischen“ Zeitungen und Fernsehsendern durch die Vorgängerregierung stärkte die reaktionäre Hegemonie in der Presselandschaft umso mehr. Wir sprechen mit einem Aktivisten, der uns ein Video aus dem mazedonischen Staatsfernsehen zeigt. Es zeigt Szenen, welche heimlich bei einem Essen von mazedonischen Linken und griechischen Anarchist*innen aufgenommen wurde. Eine Stimme aus dem Off behauptet: „Diese Leute werden bezahlt, die Muslimisierung in Mazedonien voranzutreiben“, und weiter: „Sie destabilisieren Mazedonien.“ Wir merken deutlich: Auch über mediale Hetze hinaus sind regierungskritische Positionen einer enormen Repression ausgesetzt. So geht der Genosse davon aus, dass die staatlichen Behörden im Land ca. 20.000 Personen überwachen.
Auch der Wahlsieg der Sozialdemokratischen Partei (SDSM) hat die tiefgreifende politische Krise im Land nicht überwunden. Im Gegenteil. Die neue Regierung zeigt sich bereits sehr gefügig gegenüber den EU-Interessen. So wurde etwa Ausnahmezustand an der Grenze zu Griechenland im Dezember vom Parlament bis zum 30.06.2018 verlängert. Ein solches Vorgehen projiziert die Verarmung innerhalb der mazedonischen Bevölkerung auf Menschen, deren Flucht in gewisser Weise ebenfalls ein Produkt der EU-Außenpolitik ist.
Die politische und ökonomische Situation in Mazedonien bleibt somit auf längere Zeit gesehen ungewiss. Mit der Hoffnung auf ökonomische Verbesserungen werden die mazedonischen Regierungen lediglich weiter handzahm EU-Interessen durchsetzen. Sobald die EU-Mitgliedsstaaten ihre ökonomischen Interessen gefährdet sehen, ist eine Einmischung in nationale Politik nicht weit. Gleichzeitig läuft die Repressionsmaschinerie gegen linke Organisierungen beständig weiter. Auch Initiativen gegen Korruption und Vetternwirtschaft sehen sich einer enormen Kriminalisierung ausgesetzt. Auf der Fahrt zum Flughafen komme ich ins Gespräch mit dem Fahrer Leon. Auf die Frage nach den bevorstehenden Wahlen winkt er ab: „Es ist egal, wer regiert. Am Ende stecken sich alle das Geld in die eigenen Taschen.“
„Balkanroute rückwärts - Flucht, Staatlichkeit und Repression“
Im Oktober nahm re:volt - Autor Felix Broz an einer Bildungsreise des Vereins „Helle Panke e.V. - Rosa-Luxemburg-Stiftung, Berlin“ durch Südosteuropa teil. Im Vordergrund stand die aktuelle Situation auf der sogenannten „Balkanroute“. Nachdem Ende 2015 ein Großteil der regionalen Staatsgrenzen weitestgehend geschlossen wurden, stecken tausende Menschen auf der Flucht in verschiedenen Staaten Ex-Jugoslawiens sprichwörtlich fest. Das repressive europäische Grenzregime mit seiner umfassenden Sicherheitsarchitektur unterbricht ihre Flucht an den unmittelbaren EU-Außengrenzen sowie den nationalen Grenzen möglicher Beitrittskandidaten (Serbien, Mazedonien). Was sie dann erleben müssen, ist Stigmatisierung, Illegalisierung und eine umfassende gesellschaftliche Ausgrenzung. In der dreiteiligen Artikelserie für das re:volt magazine zeichnet Felix Broz die aktuelle Situation um Flucht, Staatlichkeit und Repression auf der Route Österreich / Slowenien, Kroatien / Serbien und Mazedonien nach.