Korpsgeist in Sachsen
Warum PolizistInnen oft anonym bleiben und fast nie verurteilt werden
Mit einer Spezialchemikalie aus einem Hochdruck-Löschgerät ist die Polizei im Februar gegen eine antirassistische Protestaktion im Stadtteil Leipzig-Schönefeld vorgegangen. Dieser Einsatz, so viel steht fest, war „grundsätzlich unzulässig“. Doch verantworten muss sich trotzdem niemand: „Wir ermitteln immer noch gegen unbekannt“, sagt der Sprecher der Leipziger Staatsanwaltsanwaltschaft.
Aufklärung unwahrscheinlich
Die Betroffenen des Chemikalien-Einsatzes werden sich bei dieser Behauptung ein zweites Mal die Augen reiben müssen. Die Polizei selbst hat durch Videokameras den Reizstoffeinsatz vermutlich klar und damit beweissicher dokumentiert. Frei zugängliche Bilder zeigen solche Kameras und auch die Gesichter von BeamtInnen, die im allernächsten Umkreis des Polizeiübergriffs standen. Und überhaupt ist die Vorstellung absurd, dass bei der Polizei niemand wüsste, wer das Sprühgerät getragen und benutzt hat. Üblicherweise wird über jede geleerte Pfefferspraydose Protokoll geführt.
Dass das Verfahren trotzdem ins Leere läuft, ist weder Zufall noch Ausnahme: In Sachsen geführte Ermittlungen gegen PolizeibeamtInnen haben nur sehr selten Aussicht auf Erfolg. Das ergab kürzlich eine Anfrage der Linksfraktion im Sächsischen Landtag.
Demnach führten laut einer Zählung des Innenministeriums die Staatsanwaltschaften im Freistaat seit dem Jahr 2009 zwar mehr als 2000 Ermittlungsverfahren gegen PolizistInnen wegen des Vorwurfs, im Dienst Straftaten begangen zu haben. Zumeist handelt es sich um Körperverletzung, Nötigung, Bedrohung und Strafvereitelung. Fast immer werden die Verfahren eingestellt.
Das zeigen die Zahlen:
- In rund 30 Fällen wurden die Ermittlungsverfahren mit dem Antrag auf Erlass eines Strafbefehls oder einer Anklageerhebung abgeschlossen. Das sind nur anderthalb Prozent aller Verfahren.
- In zehn Verfahren ergingen Urteile gegen beschuldigte BeamtInnen mit strafrechtlichen Konsequenzen. Das sind nur fünf Promille aller Verfahren.
- Umgekehrt werden etwa 98 Prozent aller Ermittlungsverfahren gegen PolizistInnen eingestellt, zumeist durch die Entscheidung der Staatsanwaltschaft, dass für eine Anklageergebung kein Anlass bestehe.
Von „Berufsrisiko“ kann keine Rede sein
Die Gründe sind im Einzelnen nicht nachvollziehbar, die Zahlen aber prinzipiell irritierend. Nach aktuellen Angaben des Statistischen Landesamtes führt nämlich fast ein Drittel aller Ermittlungsverfahren in Sachsen zur Anklageerhebung oder zu einem Antrag auf Erlass eines Strafbefehls. Die Berufsgruppe der Polizisten jedoch ist im Freistaat nicht nur unerwartet häufig von Ermittlungsverfahren betroffen, sondern auch besonders gut vor jedweden Folgen geschützt.
Derzeit sind sachsenweit etwa 70 Verfahren wegen vermuteter Straftaten im Dienst anhängig, die Statistik werden sie aber nicht wesentlich beeinflussen. So gingen in die nun vorgelegte Zahlenreihe nur Fälle ein, über die noch Unterlagen vorliegen, was bei etlichen längst eingestellten Verfahren kaum zutreffen wird.
Unbekannte in Uniform
Noch gar nicht in die Zählung eingegangen sind Verfahren, die gegen „Unbekannt“ geführt werden, wenn beispielsweise nur bekannt ist, dass Tatbeteiligte eine Uniform trugen – so, wie in Schönefeld. Eine praktische Abhilfe, etwa durch Einführung einer Kennzeichnungspflicht von PolizeibeamtInnen, steht dagegen nicht in Aussicht. Die fehlende Möglichkeit einer eindeutigen Identifizierbarkeit gilt als plausibler Grund, warum etwa Strafanzeigen wegen unrechtmäßig angewandter Polizeigewalt kaum zur gerichtlichen Klärung führen (im krassen Gegensatz zu Fällen, in denen sich BeamtInnen selbst Gewalt ausgesetzt sehen).
Mitunter entsteht gar der Eindruck, dass die fürsorgliche Milde der Staatsanwaltschaften, deren „Hilfsbeamte“ PolizistInnen sind, munter ausgenutzt wird. So leugnete die Polizei im Februar 2011 einen sogar durch Fotos dokumentierten Schlagstockeinsatz gegen eine antifaschistische Demonstration in der Leipziger Innenstadt komplett.
Auch der Vorfall in Schönefeld sollte auf ganz plumpe Weise abmoderiert werden, zunächst war die Rede von einem „Placebo-Effekt“ durch pures Wasser; und als der Bluff aufflog, von einer angeblichen „Notlage“ der BeamtInnen. Da deren Namen jedoch nicht ermittelt werden können, darf auch diese Darstellung als überholt gelten.
„Sozialadäquates Verhalten“?
Fakt ist: Allein die Staatsanwaltschaft Leipzig hat seit dem Zwischenfall in Schönefeld ein Dutzend Ermittlungsverfahren gegen PolizistInnen wegen Körperverletzung im Amt eingeleitet. Doch Sorgen machen müssen sich die Beschuldigten kaum, zumindest nicht aus Gründen der Statistik. Dort nicht eingerechnet sind Ermittlungsverfahren wegen Straftaten, die PolizistInnen in ihrer Freizeit begangen haben sollen. Darüber, so das Innenministerium, habe man schlicht keinen Überblick.
Allerdings ist die Grenze schwer zu ziehen, wie ein Blick in die Tagespresse zeigt: Gegen die Polizeipräsidenten von Chemnitz und Zwickau, Uwe Reißmann und Johannes Heinisch, besteht derzeit der Verdacht einer Vorteilsnahme im Amt. Grund sind von ihnen augenscheinlich auch privat genutzte VIP-Karten für Motorsport-Events auf dem Sachsenring. Wert der Ausflüge: mindestens 500 Euro – pro Ticket.
So eines sollen auch die Partnerinnen jener Spitzenbeamten bekommen haben, die sich unbeirrt auf eine „dienstliche Notwendigkeit“ berufen. CDU-Innenminister Markus Ulbig bescheinigt seinen Leuten „sozialadäquates Verhalten“. Würde wider Erwarten die Staatsanwaltschaft in Dresden, wo Ulbig bereits als nächster Bürgermeister im Gespräch ist, zu einer anderen Bewertung gelangen – man müsste sich vor Staunen schon wieder die Augen reiben.