Offener Brief an das Mobilitätswende Camp München - Strukturell diskriminierende Gegebenheiten und Vorgänge
Weiter unten ist die Antwort der Camporga zu finden. Dem Artikel hängt der offene Brief auch als PDF an.
Strukturell diskriminierende Gegebenheiten und Vorgänge. September 2021
„Das Mobilitätswende-Camp München soll ein Ort sein an dem sich alle wohl fühlen können. Dafür ist ein achtsamer, diskriminierungssensibler und solidarischer Umgang miteinander die Grundlage.“ [aus: Awareness Konzept des Camps]
Dies habe ich leider anders erlebt, die Diskrimierungsformen die ich erlebt habe und um die es in dem Brief geht, wurden auch nicht im Awareness Konzept angesprochen. Das ist der Grund warum ich diesen Brief schreibe.
Vorbemerkung:
Dieser Brief stellt die subjektiven Diskriminierungserfahrungen und Empfindungen eines Aktivistis und Besuchenden des Camps da.
Auch wenn ich im Vorfeld und während des Schreibens dieses Briefes immer wieder im Austausch mit anderen betroffenen Menschen war, spreche ich ausschließlich für mich. Ich kann und will mir nicht anmaßen für andere zu sprechen. Aufgrund von zahlreichen Gesprächen mit vielen anderen Menschen (nicht nur im Kontext dieses Camps) bin ich mir aber sicher, dass meine Erfahrungen und Empfindungen von vielen betroffenen Menschen geteilt werden. Dass dies oft unsichtbar ist, ist teil des Problems.
Ich habe an vielen Stellen, sowohl im Camp als auch auf der Website, gesehen, dass es den ernsthaften und wahrscheinlich auch oft erfolgreichen Versuch gab, sich die eigenen Privilegien bewusst zu machen und reell existierende Diskriminierungsmuster abzubauen. Diese Bemühungen will ich auf keinen Fall entwerten oder kleinreden. Mir geht es hiermit vor allem darum die Bemühungen und die Debatte um eine weitere Betroffenen-Perspektive zu erweitern und Menschen zur Reflexion ihres eigenen Verhaltens zu ermuntern.
Meine Erfahrung (anhand von ausgewählten Beispielen):
Als ich auf dem Camp ankam fielen mir relativ schnell die Spenden-Schilder bei der Essens- und Getränkeausgabe auf.
Über der Essensausgabe hingen Schilder mit der Aufschrift „Spendenempfehlung 15€ pro Tag“ und ein Spendenbarometer, davor eine Spendendose.
Bei der Getränkeausgabe hingen Schilder mit der Aufschrift „Alle Getränke 2€ Spendenempfehlung“, dabei war bemerkenswert, dass „2€“ um ein vielfaches größer geschrieben war als das Wort „Spendenempfehlung“. Mit ein paar Metern Entfernung war nur noch „2€“ gut lesbar. Bei der Getränkeausgabe gab es im Gegensatz zu der danebengelegenen Essensausgabe keine Spendendose.
Relativ bald fragte ich bei der Getränkeausgabe für mich und einen anderen Menschen nach zwei Getränken. Nachdem mir die Getränke gereicht worden waren sagte der Mensch, welche*r die Ausgabe betreute: „Das macht dann 4€.“. Dies war der erste Moment in dem ich mich wirklich unwohl gefühlt habe. Zwar empfand ich die, meinem Empfinden nach, penetranten und omnipräsenten Spenden-Aufrufe schon als belastend aber ich versuchte mir anfangs selbst einzureden, dass es bestimmt einen druck- und diskriminierungsarmen Umgang mit dem Thema Geld geben würde.
Da ich nicht die Kraft und emotionale Stabilität hatte mich zu Outen, um Getränke zu betteln oder eine potentielle Diskussion zu führen gab ich dem Menschen ohne weitere Ausführungen das geforderte Geld.
Im Laufe des Tages entfernten wir uns von dem Camp und versorgten uns mit weiteren Getränken bei konventionellen, kapitalistischen Verkaufsstätten.
Es ist Traurig, dass ein x-beliebiger Getränkeverkauf für mich ein diskrimierungsärmerer Raum ist als ein Mobilitätswende Camp.
Am nächsten Tag fragte ich bei der Essensausgabe nach einer Portion zu Essen. Während mir das Essen gegeben wurde, wurde ich direkt darauf angesprochen, dass ich doch gerne etwas Spenden könne. - Als ob die zahlreichen Schilder, das Barometer oder die direkt neben mir stehende Spendendose so leicht zu übersehen wären. Ich entfernte mich ohne zu spenden dafür aber mit einem wirklich unschönen Gefühl.
Danach ging ich ein weiteres mal zu der Getränkeausgabe, da ich eine für mich potentiell emotional belastende Situation vermeiden wollte, reichte ich von mir aus sofort nachdem ich meinen Getränkewunsch geäußert hatte einen 5€-Schein über die Theke. Die Person hinter der Getränkeausgabe fragte mich darauf hin, wie viel Geld sie mir raus geben dürfe. Dies war für mich schon mal ein wirklicher Fortschritt im Verhältnis zum letzten mal. Trotzdem ging es mir mit der Situation noch immer nicht wirklich gut. Das Abkassieren und damit zwangsweise verbundene Outen ist immer noch eine extreme Hürde.
Ein weiteres Beispiel war auf den Dixi-Toiletten: Auf der Innenseite hing ein Zettel mit der Spendenempfehlung 15€/Tag, weiter wurde explizit darauf hin gewiesen, dass mensch doch gerne mehr spenden solle.
Das Problem:
Die omnipräsenten Aufforderungen zu Spenden in Form von Aushängen, Schildern und durch direktes Ansprechen erzeugen durchgehend das Bild, dass Mensch nur willkommen ist, wenn Mensch in der Lage ist die geforderten Spendenempfehlungen (annähernd) zu zahlen. Sollte dies nicht möglich sein, wird durchgehend ein Unwohlsein- und Ausgrenzungsgefühl erzeugt. Ob es dabei eine interne Policy gab, dass menschen die sich als Arm offenbaren von den Spendenempfehlungen ausgenommen sind weiß ich nicht. Dies spielt aber auch keine wirkliche Rolle, da es nicht nach außen kommuniziert wurde.
Der Ausschluss bzw. die Diskriminierung im alltäglichen Miteinander von Menschen in finanziell prekären Situationen ist, leider auch innerhalb der Klimagerechtigkeits- bzw. anderen (radikal) Linken Bewegungen, allgegenwärtig.
Dass dies aber auch bei der Deckung von Grundbedürfnissen auf einem Klimacamp stattfindet ist nochmal drastischer: Gab es bei der Essensausgabe wenigstens kein direktes abkassieren, wurde trotzdem durchgehend suggeriert man müsse bezahlen.
Bei den Getränken wurde dies nicht nur suggeriert sondern es war de facto so. Ich hatte zwar noch die Möglichkeit um ein 0,5l Getränk zu betteln, aber genau das führt einem vor Augen, dass man nicht dazugehört.
Dass vor der Bar klein das Wort „Spendenempfehlung“ stand, war eine Farce. Aufgrund des Abkassierens, der sehr dominanten „2€“ und das zT vorkommende direkte Vorrechnen des Preises hatte die Preispolitik nichts mehr mit einer Spende oder einer Empfehlung gemein. Dass es offiziell keinen Fixpreis gab, ist ja allein deswegen schon notwendig um keine Probleme mit dem KVR zu bekommen.
Auch die Höhe der geforderten Spenden übersteigt das Budget von vielen Menschen weit. Als Beispiel der Hartz 4 Regelsatz. Wenn mensch die im Hartz 4 Regelsatz aufgeschlüsselten Kategorien
- Nahrungsmittel, Getränke, Tabakwaren
- Freizeit, Unterhaltung, Kultur
- Bildung
- Beherbergungs- / Gaststättendienstleistung
nimmt (das bedeutet aber auch, dass ein Hartz 4 beziehender Mensch während der Zeit des Camps auf alles sonst was in diese Kategorien fällt verzichten muss) ist die Geldsumme die täglich zur Verfügung steht: 7,05€.
Die tägliche Spendenempfehlung von 15€ (ohne Getränke) ist damit allein schon nicht leistbar. Von der fixpreisähnlichen Spendenempfehlung von 2€/Getränk ganz abgesehen.
Dabei darf aber nicht vergessen werden, dass viele Menschen nicht mal über dieses Geld verfügen. Sei es weil der Regelsatz als Sanktion gekürzt wurde, weil Mensch aus dem Hartz 4 System rausfällt oder aus zahlreichen anderen Gründen.
Die Preispolitik und der Umgang mit dem Thema Geld auf dem Camp stellte eine strukturelle Diskriminierung von Menschen dar, welche sich in finanziell prekären Lebenssituationen befinden. Es wurde durchgehend ein Druck auf die Besuchenden und politisch aktiven Menschen ausgeübt. Ich fühlte mich dadurch weder Willkommen noch als Teil des Camps.
Bei allem Verständnis für die Ängste die eigenen Kosten nicht zu decken, ist dieses Verhalten nicht tragbar. Um es nochmal zu betonen, es geht nicht um Einzelpersonen, die nicht taktvoll, etc. waren sondern das Camp in Gänze hat diese Diskriminierung gelebt und reproduziert.
Immer die selben Kämpfe:
Vorweg, mir sind die Spendenaufrufe und auch die hohe Summe an Kosten im Nachgang des Camps bewusst.
In verschiedensten Kontexten, auch wenn nicht hier, habe ich Bedenken an einer (de facto) Fixpreispolitik im Vorfeld bei Planungen von diversen Projekten bzw. Aktionen geäußert. Die Antworten sind im Grunde immer die selben, nämlich:
„Wir haben Kosten in höhe von XY€. Die müssen wir wieder rein bekommen. Mit radikaler Spendenpolitik geht das nicht.“
„Das wurde schon mal bei XY probiert, dass hat nicht geklappt. Da haben alle einfach ohne zu bezahlen das ausgenutzt.“
„Wir schreiben ja ›Spendenempfehlung‹ hin, also ist jede*r Willkommen. Wenn eine*r mal nicht zahlen kann, kann er*sie das ja einfach an der Bar sagen.“
„XY€ pro Tag/pro Getränk kann sich ja jede*r leisten. Das ist eh viel billiger als woanders.“ Die Antworten reden das Problem entweder klein oder unterstellen betroffenen Schmarotzertum.
Ich verstehe, dass Menschen Angst haben, die eigenen Kosten nicht zu decken. Für viele Menschen ist es auch die Lebensrealität, dass ein Betrag von 15€/Tag bzw. 2€/Getränk schon irgendwie immer drin ist. Auch die oben ausgeführten Antworten kamen bei mir so gut wie immer von Menschen die selbst nicht betroffen sind. Da scheint oft der Bezug zu menschen für die dies nicht möglich ist zu fehlen. Werden dann die Probleme von betroffenen Menschen in Plena oder anderen Orgatreffen angesprochen, wird meistens – von nicht betroffenen – das Problem klein geredet oder gar die Diskriminierungserfahrungen den Menschen abgesprochen.
Dass aufgrund der fehlenden Betroffenenperspektiven in dem eigenen Umfeld so ein Verhalten immer und immer wieder auftritt ist für mich nachvollziehbar und verständlich, aber keine Entschuldigung!
Meiner, natürlich subjektiven, Erfahrung nach, in verschiedensten Kontexten (auch Camps in vergleichbarer Größe), ist es aber immer möglich mit einem radikalen Spendenkonzept mit Gewinn, aber zumindest auf Null raus zu kommen.
Ja, mensch muss sich Gedanken machen, wie Essen billig oder kostenlos organisiert werden kann. Ja, mensch muss vielleicht auf teurere Marken-Getränke verzichten. Und Ja, mensch muss sich Gedanken machen, wie allgemein Kosten gering gehalten werden können. Aber das ist es wert und es ist auch Notwendig!
Es ist nicht an mir, mich im Nachhinein in die konkreten Essens- und Getränke-Logistik - und Beschaffung einzumischen. Trotzdem als Beispiel: Mir ist die Getränkeauswahl auf dem Camp aufgefallen, exemplarisch beim Spezi, dies war von einer Marke die im Einzelhandel eher im oberen Preissegment angesiedelt ist. (Ich war aber in der Beschaffung nicht involviert, daher besteht natürlich die Chance, dass bestimmte Absprachen/sonder Konditionen getroffen wurden.)
Alternativen und Lösungsideen:
Um die Diskriminierung abzubauen, sehe ich eine Reihe an einfach umsetzbaren Möglichkeiten. Ich führe im folgenden ein paar Beispiele an.
Grundsätzlich bei der Beschilderung, natürlich ist es gut transparent mit den vorhandenen Kosten umzugehen. Auch eine Spendenempfehlung ist sicher nicht per se verkehrt. Aber ein Hinweis, dass es natürlich auch vollkommen OK ist, wenn mensch nicht oder weniger Spenden kann (im Gegensatz bzw. als Ergänzung zu den vorhandenen Hinweisen, dass Mensch doch gerne mehr spenden könne) wäre schon mal ein erster Schritt, Druck raus zu nehmen.
Bei der Essensausgabe gab es ja eine Spendendose, dies ist schon mal ein guter Weg, aber ein Ansprechen, dass Mensch spenden könne oder solle macht die Bemühungen in großen Teilen zunichte. Ich weiß nicht ob das Ansprechen Teil der Policy des Camps war, aber selbst wenn nicht, ist es die Verantwortung der am Camp Beteiligten sich selbst und evtl. später dazustoßende Helfende für einen bewussten Umgang mit dem Thema zu sensibilisieren.
Bei den Spenden für Getränke wäre eine alternative Möglichkeit ebenfalls mit Spendendosen zu arbeiten. Das Abkassieren stellt eine extreme Hürde dar. Aber auch bei Spendendosen wäre es wichtig auf einen Bewussten Umgang zu schauen.
Die radikale Spendenpolitik, das heißt Spendendosen ohne Kontrolle ob Mensch was rein wirft und mit klarer Kommunikation, dass Mensch auch willkommen ist, wenn Spenden nicht möglich sind, ist ein deutlich diskriminierungsfreierer Umgang.
Schlussbemerkungen:
Ich hoffe, dass meine Kritik erstmal angenommen werden kann. Ich hoffe, dass Menschen die direkt das Bedürfnis haben, die Preispolitik und den Umgang mit dem Thema Geld zu rechtfertigen, kurz innehalten und sich überlegen in welcher Position, davon betroffen oder nicht, sie selbst sind. Wie es oft auch bei vielen anderen Diskriminierungsformen der (selbst) Anspruch ist.
Mir ist es wichtig nochmals zu betonen, dass mir sehr bewusst ist, dass Menschen ernsthaft versucht haben einen diskriminierungssensiblen Raum zu schaffen.
Ich habe mich bewusst für das Mittel des offenen Briefes entschieden. Dies soll das Camp und die Orga auf keinen Fall an einen Pranger oÄ. stellen, die von mir beschriebenen Diskriminierungsformen stellen (leider) auch keine Ausnahme innerhalb einer (radikal) linken Bewegung dar.
Ich habe mich für das Mittel des offenen Briefes entschieden, weil ich hoffe durch meine Perspektive zu der generellen Debatte, wie es uns möglich ist möglichst diskriminierungsarm zusammenzuleben, beizutragen.
Allerdings finde ich es aber fair und sinnvoll erst der Orga die Möglichkeit zu geben selbst was dazu zu sagen. Deswegen habe ich diesen Brief 7 Tage vor der Veröffentlichung per Mail an das Camp geschickt. Ich würde eine etwaige Antwort auf diesen Brief vollständig mit dem Brief gemeinsam veröffentlichen. Sollte die Veröffentlichung der etwaigen Antwort (oder Ausschnitten davon) in Ordnung sein, bitte ich um eine kurze Rückmeldung.
Solidarische Grüße
Die Antwort der Camporga:
Hallo,
wir möchten uns herzlich für deinen Brief und deinen Input bedanken. Wir stimmen dir in deinen Kritikpunkten zu und möchten uns für unser diskriminieredes Verhalten bei dir und allen weiteren Betroffenen entschuldigen. Wir werden deinen Brief in unseren Reflexions- und Auswertungsprozess aufnehmen. Wir wollen aus den diesjährigen Fehlern lernen und unsere Ergebnisse dazu später veröffentlichen.
Hier sind schon erste Punkte, die beim Besprechen deines Briefs aufgekommen sind:
Wir hatten zu hohe Ausgaben. Wir werden diese nochmal durchgehen, um zu schauen, wo wir diese hätten reduzieren können.
Unsere Spendenempfehlungen hatten einen Festpreischarakter, gerade bei der Getränkeausgabe wurde abkassiert. Das war falsch. Wir wollen darüber diskutieren, wie es hätte besser laufen können und sollen.
Die weiteren Punkte und das Thema, wie ein diskriminierungsarmer Umgang mit dem Thema Geld bei uns geschaffen werden kann, werden wir weitergehend besprechen.
Wenn du oder andere Betroffene Unterstützung wollt, könnt ihr euch gerne an unsere Awarenessgruppe vom Camp unter der Email:
mowecampawareness@riseup.net wenden.
Solidarische Grüße,
die Camporga