Marseille: Souhil von der Polizei getötet – eine Version der Anwohner:innen ...
Am 4. August 2021 wurde Souhil bei einer Polizeikontrolle in Marseille im Stadtteil Belle de Mai brutal getötet. Anwohner:innen berichten detailliert, was geschehen ist und zeigen deutlich, dass es sich nicht um eine Handlung aus "Notwehr" handelte, so wie die Polizeigewerkschaft behauptet.
Marseille: Souhil K. von der Polizei getötet – eine Version der Anwohner:innen ...
Warnung!
Dieser Text enthält detaillierte Beschreibungen von brutaler Polizeigewalt mit Todesfolge.
Marseille, 6. August 2021
Am 4. August 2021 endete an der Kreuzung der Rue Fortuné Jourdan und der Rue Despieds im Stadtteil Belle de Mai in Marseille eine Polizeikontrolle von zwei jungen Leuten in einem Auto mit dem Tod von Souhil K., 21 Jahre alt, Vater eines eineinhalbjährigen Kindes. Ein weiteres Leben wurde wegen einer einfachen Kontrolle gestohlen.
Über ihre Gewerkschaft Alliance ließ die Polizei – wie üblich – erklären, dass sie angesichts eines flüchtenden, „polizeibekannten“ Fahrers „in Notwehr“ gehandelt habe. Dies taten sie, um die Angelegenheit zu begraben und den jungen Mann zu verleumden. Die Presse (France Bleu, Ouest-France, la Provence) hat die Informationen der Polizeigewerkschaft veröffentlicht.
Vor Ort, am 5. August, dem Tag nach der Tragödie, erzählten die Bewohner:innen des Viertels eine andere Geschichte. Die Nachbar:innen hatten die Szene tatsächlich von Anfang an miterlebt. Noch immer unter Schock stehend erzählen sie, genau wie einer der drei anwesenden Freunde, eine ganz andere Version: „Wir sind auf den Balkon gegangen, weil die Polizei extrem aggressiv war“, erklärt eine zutiefst schockiert Nachbarin von gegenüber. „Wir verstehen nicht, was passiert ist. Es war eine Routinekontrolle, die jungen Leute waren alle ruhig, es gab kein Geschrei“, fügt der Großvater hinzu, der ebenfalls auf dem Balkon war.
Der dritte Freund, der nebenan wohnt, erklärt: „Souhil und sein Freund sind zu mir gekommen. Sie wohnen in La Joliette [Stadtviertel in Marseille; Anmerk. d. Übers.]. Eigentlich wollten sie nicht bleiben, aber mein Vater hat sie beruhigt, indem er ihnen sagte, sie sollten dort parken. Sie blieben also und wir unterhielten uns.“ An den Ort des Geschehens zurückgekehrt, spricht er mit großem Schmerz, verzweifelt. Die beiden Jugendlichen und ihr Freund parkten an der Ecke der Rue Fortuné Jourdan und Despieds, gegenüber der Sparkasse. Sie waren geparkt, als ein Polizeiauto auf ihrer Höhe anhielt.
Die drei Polizisten stiegen aus und positionierten sich jeweils an einer Ecke des Wagens: der Erste auf der Fahrerseite; der Zweite, der nach Ansicht aller Zeug:innen eine passive Rolle spielte, auf der Beifahrerseite; der dritte und letzte Polizist, der Schütze, stellte sich am Heck des Wagens auf, um zu verhindern, dass das Auto zurücksetzen konnte. „Das Polizeiauto blieb in der Mitte der Straße stehen“, vervollständigt die Nachbarin.
„Sie haben die jungen Leute kontrolliert, sie waren von Anfang an sehr aggressiv. Sie waren voller Hass“, fügte der Großvater hinzu. Ein Satz kehrt immer wieder unter den anwesenden Bewohner:innen: „Derjenige, der mit Souhil sprach, sagte immer wieder: ‚Ich erkenne dich, das warst DU gestern! Damit kommst du nicht durch!‘“, sagt die Mutter von zwei Töchter im Alter von 6 und 8 Jahren, die das Geschehen ebenfalls von ihrer Wohnung aus verfolgt haben.
„Sie sagten, er sei bereits am Vortag einer Kontrolle entkommen“, fügt der Großvater hinzu. „Sie waren hasserfüllt“, sagt auch der dritte Freund, der sich vom Kontrollpunkt entfernt, um auf der anderen Straßenseite Geld abzuheben und auf der Treppe auf seine Freunde zu warten – was zeigt, dass es sich nicht um eine Notsituation handelte. „Souhil war gestresst, weil das Auto seiner Mutter gehörte. Er hatte keine Versicherung und er hatte Angst, dass sie das Fahrzeug stilllegen und es seiner Mutter wegnehmen würden“, fügt der dritte junge Mann, sich überwindend hinzu.
„Der Polizist, der hinter dem Wagen stand, auf Höhe des Nummernschilds, entfernte sich. Er telefonierte, um die Zulassung des Fahrzeugs zu überprüfen“, sagt die Mutter der beiden Mädchen, die das Geschehen genau beobachten konnte. „Genau in dem Moment, als der dritte Polizist nicht mehr im Weg war, fuhr der junge Mann zurück“, fügt die Mutter hinzu. „Beim Rückwärtsfahren auf die andere Straße fuhr er gegen das Bein des Polizisten, der am vorderen Teil des Fahrzeugs stehen geblieben war. Er wurde leicht getroffen und fiel zu Boden. Er begann laut zu schreien, aber man konnte sehen, dass er fast unverletzt war. Er ist schnell aufgestanden“, sagte der Großvater. „Der Polizist hinter dem Auto, der sich zurückgezogen hatte zum telefonieren, kam zurück als er seinen Kollegen schreien hörte. Das Auto fuhr direkt an ihm vorbei, er schoss auf den jungen Mann und traf ihn“, präzisiert die Mutter. „Das Fahrzeug fuhr schnell rückwärts, um der Polizei auszuweichen. Als der Fahrer getroffen wurde, krachte es in ein anderes Auto auf der Straße dahinter und fuhr sogar auf den Bürgersteig. Es hätte fast den dritten Freund getroffen und schwer verletzt, der auf den Treppenstufen geblieben ist“, sagt der Großvater.
Keiner der Polizeibeamten befand sich vor Ort, als der hintere Beamte schoss. Der gestürzte Polizist war weit vom Fahrzeug entfernt. „Die Version der Verteidigung aus Notwehr ist völliger Blödsinn. Der Polizist, der geschossen hat, war weit außerhalb der Reichweite des Fahrzeugs“, sagt die Mutter, „mindestens zwei Meter“, fügt der Großvater hinzu. Was den gestürzten Polizisten betrifft, „so war er zu diesem Zeitpunkt sehr weit weg, weil er vor dem Wagen stand und das Auto auf der anderen Straßenseite fuhr“, so die Mutter. „Es stimmt, der junge Mann hat versucht, sich der Kontrolle zu entziehen, aber das ist alles. Dafür bringt man doch keinen jungen Menschen um“, sagte sie bestürzt.
Sie fügt hinzu: „Das Auto stand still. Der junge Mann, der getroffen wurde, bewegte sich nicht. Wir schrien, sie sollten die Feuerwehr und einen Krankenwagen rufen. Aber sie haben nichts getan, sie haben nicht den Rettungsdienst gerufen. Es ist furchtbar, einen jungen Menschen auf diese Weise sterben zu lassen.“ Eine zweite Nachbarin vom gegenüberliegenden Balkon sah die ganze Szene ebenfalls. Voller Wut fügt sie hinzu: „Sie waren so hasserfüllt, diese Polizeibeamten. Das Einzige, was sie machten, war, den anderen jungen Mann herauszuholen, ihm Handschellen anzulegen und auf dem Boden liegend mit einem Schlagstock auf ihn einzuschlagen. Er schrie: ‚Hören Sie auf, mich zu schlagen! Sie sehen, dass ich mich nicht wehre!‘ Nach dem dritten oder vierten Mal hörten sie schließlich auf.“ „Der Polizist, der von dem Auto angefahren wurde, stand auf und beteiligte sich sogar an der Verhaftung, was zeigt, dass er nichts hatte, nicht einmal einen Bruch. Als der Krankenwagen eintraf hatte er dann wieder Schmerzen und bewegte sich nicht“, fügt der Großvater hinzu.
Der zweite Nachbar fährt fort und kommt zu dem Schluss: „Diese Art von Polizist hat auf der Straße Nichts zu suchen, mit einem solchen Hass. Die ganze Zeit über riefen die Nachbarn, die Bewohner ihnen zu, sie sollen um Hilfe rufen. Der Polizeibeamte, der geschossen hat, antwortete jedoch nur: ‚Ich beschütze meinen Kollegen‘.“ „Er nahm sich die Zeit, sein Fahrzeug umzuparken, während der Verletzte ohne Hilfe blieb“, fügte die Mutter vom gegenüberliegenden Balkon hinzu. „Zugleich nahmen sie sich die Zeit, Verstärkung anzufordern. Wir selbst haben nicht angerufen, wir waren wie gelähmt von der Szene. Es war so surreal, wir waren überzeugt, dass sie den Rettungsdienst anrufen würden“, gibt sich die erste Frau die Schuld.
Die Mutter von gegenüber ist an diesem Nachmittag, genau 24 Stunden nach den Ereignissen, noch immer unter Schock: „Stellen Sie sich vor, es hat mindestens sieben oder acht Minuten gedauert bis sie endlich dazu bereit waren, Hilfe zu rufen. Während dieser Zeit verblutete der junge Mann!“ „Und sie hielten alle davon ab, sich zu nähern“, fügte die zweite Nachbarin hinzu, „aber als es immer voller wurde, konnten sie eine Frau nicht davon abhalten, herüberzukommen und mit einem T-Shirt auf die Brust des Jungen zu drücken, das ein Mann gerade ausgezogen und ihr gegeben hatte. Die Nachbar:innen und die Menschen, die zusammen gekommen waren, wurden schließlich des Platzes verwiesen, als die polizeiliche Verstärkung eintraf. Sie hatten keinen Zugang mehr zum Tatort und zu der Straße.
„Die Sanitäter trafen nach 15 Minuten ein. Der Junge war tot, seine Augen waren schon offen“, erklärt die Mutter. „Meine kleinen Mädchen konnten gestern nicht schlafen, sie hatten Albträume, ein Junge mit offenen Augen kam in ihr Zimmer und weckte sie auf. Wir sind bis zwei Uhr nachts aufgeblieben“, erzählt sie weiter. „Auf jemanden zu schießen, ihn zu treffen, aber nicht um Hilfe zu rufen, die Nachbarn daran zu hindern, zu helfen, den jungen Mann die ganze Zeit auf seinem Sitz zu lassen, ihn nicht einmal aus dem Auto zu holen, keine erste Hilfe zu leisten – Was soll das bedeuten?“, betont die Mutter. „Das ist unmenschlich. Das waren junge Leute, die sich in einem Auto unterhielten“, sagt der Großvater erschüttert.
Wie üblich versucht die Polizeigewerkschaft Alliance, den von einem Polizeibeamten begangenen Mord mit dem Argument der Notwehr zu vertuschen. Alle Berichte der Nachbar:innen und unmittelbaren Zeug:innen des Geschehens sind präzise, detailliert, mit Sicht aus verschiedenen und unverstellten Blickwinkeln auf den Tatort. Sie stimmen alle darin überein, dass keiner der Polizeibeamten zum Zeitpunkt der Schießerei in Gefahr war und dass keiner von ihnen dem Opfer zu Hilfe kam, das sich in unmittelbarer Todesgefahr befand. Schlimmer noch, sie hinderten die Anwohner:innen sogar daran durch ihre Autorität.
Wir dürfen nicht zulassen, dass die Polizei einem jungen Menschen ungestraft das Leben raubt.
Verbreiten wir die Aussagen der direkten Zeug:innen und Bewohner:innen, nicht die der Polizeigewerkschaft Alliance. Lasst uns reagieren.
Übersetzt aus dem Französischen.
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