Zweiter Aufruf zur Tag-X Demo im Antifa-Ost-Verfahren | second call to action for the Day-X protest in the antifa-east-trial

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[english version below]

United we stand – Trotz alledem, autonomen Antifaschismus verteidigen – Aufruf Teil II

Unser erster, bereits veröffentlichter Aufruf zur geplanten Tag-X Demonstration in Leipzig zum Ende des derzeit laufenden Antifa-Ost Verfahrens hatte eine ziemlich große inhaltliche Leerstelle. Diese wurde uns dank solidarischer Kritiken deutlich.

Wiedermal wurde der Fokus auf einen sich an der Praxis orientierenden autonomen Antifaschismus gelegt. Wir sind wütend, dass auch wir einen für uns wichtigen Moment ausgelassen haben, obwohl – oder vielleicht gerade weil – dieser so deutlich sichtbar ist wie lange nicht mehr. Dazu haben wir hier näheres geschrieben. Wir müssen die antipatriarchalen Leerstellen markieren, Positionen schärfen und Haltung stärken und einen autonomen feministischen Antifaschismus etablieren. Um vereint Seite an Seite zu stehen, müssen wir ein gemeinsames Selbstverständnis teilen oder zumindest bereit sein, dieses zu entwickeln.

Daraus resultierend folgt eine Erweiterung unseres Aufrufs:

Autonome Fantifa in die Offensive!

Wir halten es für notwendig, geschlossen und kraftvoll auf staatliche Repression zu antworten. Wir wollen uns durch Repression weder spalten noch den Mut nehmen lassen, für unsere politischen Ziele einzustehen. Wir dürfen uns dabei aber nicht bloß eine antifaschistische Praxis zum Maßstab nehmen.

Dieses „Wir“, im Sinne einer autonomen antifaschistischen Bewegung, von dem wir im ersten Aufruf sprachen, hat es vielleicht so nie gegeben. Die Spaltung innerhalb des autonomen Antifaschismus vollzog sich immer auch anhand verschiedener Standpunkte. Auch unter denjenigen, die sich auf eine militante Praxis bezogen, gab es Spaltungen, Diskussionen, Streit und Widersprüche. Es gründeten sich Fantifagruppen, damit die Leerstellen der feministischen, antipatriarchalen und antikapitalistischen Politik aufgezeigt werden konnten und sich nicht allein im Kampf gegen Faschist*innen erschöpften.

Wir wissen von Gefährt*innen aus autonomen Frauen*gruppen, die sich schon vor Jahrzehnten erst mit Neonazis gekloppt haben und danach noch mit den Mackern, die mit ihnen auf den Straßen unterwegs waren. Grund dafür war zumeist die fehlende Positionierung der Genossen gegen sexualisierte Gewalt. Weniger lange her ist zum Beispiel die Spaltung der Berliner autonomen Antifa-Szene Anfang der 2000er, die daraus resultierte, dass die AAB sich weigerte, Definitionsmacht anzuerkennen. In diesen Konflikten zeigte sich, dass einige unter den autonomen Antifas einen revolutionären und antipatriarchalen Standpunkt vertraten während andere wiederum einem geradezu bürgerlichen Verständnis folgten, das das Problem lediglich bei den Neonazis ausmachte und nicht auch im Sexismus. Die patriarchale Gesellschaft wurde lange als Nebenwiderspruch abgetan.

Unserem Verständnis des autonomen Antifaschismus geht immer auch eine antipatriarchale Überzeugung voraus. Das zeigt sich nicht allein in unserer Analyse von Faschismus als antifeministisch und queerfeindlich. Ebenso wichtig ist es, überall und auch in den eigenen Reihen gegen Sexismus, sexualisierte Gewalt und Täterschutz vorzugehen.

Der Outcall gegen J.D. hat einen „Antifaschisten“ als Vergewaltiger entlarvt und offenbart, dass es erhebliche strukturelle Probleme im Umgang mit sexualisierter Gewalt innerhalb der Antifa und insbesondere im Umfeld der Beschuldigten des 129-Verfahrens und des Solidaritätsbündnis Antifa Ost gibt. Die Reaktionen auf den Outcall vor einem Jahr gingen oft kaum über Mitleidsbekundungen hinaus. Spätestens seitdem bekannt wurde, dass J.D. mit den Repressionsbehörden zusammenarbeitet, schien seine Täterschaft und der Täterschutz in seinem Umfeld in Vergessenheit geraten zu sein und der Fokus auf ihm als Verräter lag bei den Aussagen, die er tätigte, nicht aber bei der sexualisierten Gewalt, die er Genoss*innen antat.

In den letzten Monaten haben sich viele Gruppen solidarisch mit den Betroffenen von sexualisierter Gewalt erklärt und das Solidaritätsbündnis Antifa Ost gestand sich ihr Fehlverhalten in Bezug auf Täterschutz zumindest teilweise ein. Andere Reaktionen auf den Outcall in Form von Kommentaren oder ganzen Texten zeigen, dass das Problem einer fehlenden antipatriarchalen Haltung sich nicht auf oben genannte Kontexte beschränkt. Als besonders negativ sind Spekulationen hervor zu heben, die den Outcall als Ursache für seine Zusammenarbeit mit den Repressionsbehörden  und den Einlassungen vor Gericht kritisierten.

Wir finden es wichtig und richtig, sich mit den Beschuldigten des 129-Verfahrens zu solidarisieren. Unter diesen Vorzeichen muss aber auch immer reflektiert werden, wie Solidarität aussehen kann, ohne patriarchale Dynamiken zu reproduzieren. Stattdessen braucht es Solidarität, die mit der Dynamik bricht, dass Täter und Täterschützer*innen unbehelligt bleiben, nur weil sie Repression erfahren oder dadurch gar einen besonderen Status innezuhaben scheinen.

Wir sind uns bewusst, dass sich Beschuldigte während des laufenden Prozesses nicht unbedingt öffentlich mit ihrer Täterschaft bzw. ihrem Täterschutz auseinander setzen werden oder können, von den Umfeldern hingegen erwarten wir dies. Lange sahen wir nicht, dass sich die Beschuldigten und ihre Umfelder selbstkritisch mit ihrer Täterschaft bzw. ihrem Täterschutz auseinander setzten. Das letzte Statement zum Umgang mit sexualisierter Gewalt und Täterschaft im SAO kann nur ein Anfang sein. Der Kampf gegen sexualisierte Gewalt muss ein notwendiger Teil von einem antipatriarchalen Antifaschismus sein. Interne Widersprüche und Kritiken dürfen nicht einfach totgeschwiegen werden. Wir erwarten eine selbstkritische Haltung zu sexualisierter und patriarchaler Gewalt innerhalb einer autonomen Antifa. Diese braucht es nicht nur von den beteiligten Cis-Männern, sondern auch von den FLINTA*s. Auch wenn FLINTA*s strukturell potentiell Betroffene patriarchaler Gewalt sind, können sie diese genauso mittragen oder sogar selbst ausüben.

Eine militante Praxis, die sich ausschließlich im Boxen von Neonazis erschöpft, schafft keine Bewegung, sondern ermöglicht, dass Täter wie J.D. ihren Gewaltfetisch in unseren Reihen ausleben können. Wir sind hingegen der Überzeugung, dass die Stärke eines autonomen Antifaschismus in der Vielfältigkeit seiner militanten Praxis und deren regelmäßiger Reflexion und Auseinandersetzung besteht.

Obwohl die Geschehnisse viel an Vertrauen zerstört haben, lasst uns wieder zusammen rücken, in Auseinadersetzung gehen und zusammen kämpfen!

Feministischer Antifaschismus – Her zu uns!  

Kommt zur autonomen Tag-X Demo in Leipzig am Samstag nach der Urteilsverkündung im Antifa Ost-Verfahren!

 


 

United we stand – In spite of everything, defend autonomous anti-fascism – call to action part II

Our first, already published call to action for the planned Day X protest in Leipzig towards the end of the current Antifa Ost proceedings had a fairly large gap in terms of content. This was made clear to us thanks to solidaric criticism.

Once again, the focus had been placed on an autonomous anti-fascism oriented towards praxis. We are angry that we, too, left out a moment that was important to us, although – or perhaps precisely because – it is more clearly visible than it has been for a long time. We have written more about this here. We have to highlight the anti-patriarchal gaps, sharpen positions and strengthen attitudes and establish an autonomous feminist anti-fascism. To stand united side by side, we must share, or at least be willing to develop, a common understanding of our cause.

This is why we expanded on our previous call to action:

Autonomous Fantifa into the offensive!

We believe it is necessary to respond with unity and force to repression from the state. We don’t want to be divided by repression, nor do we want to be discouraged from standing up for our political goals. However, here we must not solely take anti-fascist praxis as a yardstick.

This „we“, in the sense of an autonomous anti-fascist movement, of which we spoke in the first call to action, may never have existed in this way. The divide within autonomous anti-fascism always stemmed from different standpoints. Even among those who referred to a militant praxis, there were divisions, discussions, arguments and contradictions. Fantifa groups were founded so that the gaps in feminist, anti-patriarchal and anti-capitalist politics could be pointed out and so that these politics were not solely exhausted in the fight against fascists.

We know of companions from autonomous women’s groups who, decades ago, fought first with neo-Nazis and then with the blokes who were with them on the streets. Reason for this mostly was the male comrades’ lack of positioning themselves against sexualised violence. Not so long ago, for example, there was a split in the Berlin autonomous Antifa scene in the early 2000s, which resulted from the AAB refusing to recognize the affected persons’ power of definition. These conflicts showed that some among the autonomous anti-fascists took a revolutionary and anti-patriarchal stance, while others followed an almost bourgeois understanding which saw the problem solely in neo-Nazis and not also in sexism. Patriarchal society has long been dismissed as a negligible contradiction.

Our understanding of autonomous anti-fascism is always preceded by an anti-patriarchal conviction. This is not only evident in our analysis of fascism as anti-feminist and anti-queer. It is just as important to take action against sexism, sexualized violence and the protection of perpetrators everywhere, including within our own ranks.

The outcall against J.D. has exposed an „anti-fascist“ as a rapist and revealed that there are significant structural problems in dealing with sexualized violence within Antifa and especially in the environment of the accused of the 129 procedure and the solidarity alliance Antifa Ost. The reactions to the outcall a year ago often went little beyond expressions of sympathy. At the latest after it became known that J.D. works with the repressive authorities, his perpetrator ship and the protection of perpetrators in his environment seemed to have been forgotten and the focus on him as a traitor was on the statements he made, but not on the sexualised violence he committed against comrades.

In recent months, many groups have declared their solidarity with those affected by sexualized violence and the solidarity alliance Antifa Ost has at least partially admitted their misconduct in relation to the protection of perpetrators. Other reactions to the outcall in the form of comments or entire texts show that the issue of a lack of an anti-patriarchal stance is not limited to the contexts mentioned above. Speculations that criticized the outcall as the reason for his cooperation with the repressive authorities and the statements in court should be emphasized as particularly negative.

We think it’s important and right to show solidarity with the accused in the 129 trial. Under these circumstances, however, it is always necessary to reflect on how solidarity can look like without reproducing patriarchal dynamics. Instead, what is needed is solidarity that breaks with the dynamic that perpetrators and those who protect them remain unmolested simply because they experience repression or even appear to have a special status as a result.

We are aware that the accused will not necessarily be able to deal publicly with their perpetration or their protection against perpetrators during the ongoing process, but we expect this from those around them. For a long time we did not see the accused and those around them self-critically dealing with their perpetration or their protection against perpetrators. The last statement on dealing with sexualised violence and perpetration at SAO can only be the beginning of the process. The fight against sexualized violence must be a necessary part of an anti-patriarchal anti-fascism. Internal contradictions and criticism cannot simply be hushed up. We expect a self-critical stance regarding sexualized and patriarchal violence within an autonomous Antifa. This is needed not only from the cis men involved, but also from the FLINTA*s. Even if FLINTA*s are structurally potentially affected by patriarchal violence, they can also support it or even exercise it themselves.

A militant praxis that exhausts itself exclusively in boxing neo-Nazis does not create a movement but enables perpetrators like J.D. to live out their violence fetish in our ranks. We are convinced that the strength of an autonomous anti-fascism lies in the diversity of its militant praxis and its regular reflection and debate.

Even though the events have destroyed a lot of trust, let’s come together again, not avoid our conflicts and fight together!

Feminist Anti-fascism – Come to us!

Come to the autonomous Day X protest in Leipzig on the Saturday after the verdict in the Antifa Ost trial!

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Ergänzungen

Eine militante Praxis, die sich ausschließlich im Boxen von Neonazis erschöpft, schafft keine Bewegung, sondern ermöglicht, dass Täter wie J.D. ihren Gewaltfetisch in unseren Reihen ausleben können. Wir sind hingegen der Überzeugung, dass die Stärke eines autonomen Antifaschismus in der Vielfältigkeit seiner militanten Praxis und deren regelmäßiger Reflexion und Auseinandersetzung besteht.

Ein antifaschistischer Kampf ist in vielen Regionen ein reiner Abwehrkampf und war es auch früher. Lange Haare, die falsche Kleidung, Hautfarbe oder Musik und vieles mehr waren Grund genug für Neonazis, Gewalt auszuüben. Ganz ohne Triggerwarnung gab es einfach auf die Fresse und führte dazu, das sich Leute organisiert haben, um sich gemeinsam besser verteidigen zu können. Es gab spektrenübergreifend Widerstand, auch wenn man sich nicht als "Antifa" verstanden hat, einfach weil es notwendig war und in vielen Gegenden immer noch ist. In den letzten Jahren hat sich der politische Diskurs weit von dem entfernt, was für viele die politische Grundlage war - antifaschistischer Widerstand.Die Gewalt von Neonazis betrifft viele und eine immer feingliedrige Definition von neu geschaffenen Akronymen und Worten schafft keine Bewegung. Für Neonazis und Bullen ist es schlicht nicht von Relevanz, ob sich jemand als Antifa, Fantifa, Migrantifa, MigrFantifa, Kommunist, Anarchist, ... definiert oder welche Pronomen favorisiert werden.

Diese Gewalt wird auch nicht weggeglitzert oder durch Fabelwesen wie Einhörnern einhalt geboten. Etwas mehr nähe zur Realität würde einigen ganz guttun, bevor das böse erwachen kommt.

 

Der Text formuliert eine notwendige Kritik, an der Art und Weise wie patriarchale Herrschaft, Sexismus und sexuelle Gewalt in Antifa-Zusammenhängen analytisch reflektiert und mit praktisch-politischen Konsequenzen versehen wurde.

Falsch und unsolidarisch wäre eine Darstellung, die suggeriert, eine Auseinandersetzung hierzu habe überhaupt nicht stattgefunden oder sei lediglich oberflächlich oder alibimäßig erfolgt. Dies macht das Engagement derjenigen unsichtbar, die diese Auseinandersetzung offensiv eingefordert haben, aber auch aller anderen Genossinnen und Genossen, die sich dieser Auseinandersetzung ernsthaft gestellt und sie mit hohem Interesse und Engagement geführt haben.

Selbstverständlich kann heute gesagt werden, das war der Problematik nicht angemessen. Aber welchen Maßstab gibt es dafür, um dies zu beurteilen? Was markiert den Punkt, wo politische Gruppen sagen können und dürfen, eine Auseinandersetzung ist in „ausreichender“ Form passiert. Welche „Zwischenergebnisse“ und inhaltliche „Differenzen“ dürfen Gruppen für sich definieren und gleichzeitig die Schwerpunkte ihrer politischen Arbeit verfolgen?

Ähnlich verhält es sich mit einer ganzen Reihe an inhaltlichen Setzungen, die der Text vornimmt: Die komplexe Auseinandersetzung um das Konzept der Definitionsmacht (DefMa) wird völlig unzulässig und inadäquat zum Lackmustest erklärt, um die Welt in Gut und Böse einzuteilen. Zitat: „In diesen Konflikten zeigte sich, dass einige unter den autonomen Antifas einen revolutionären und antipatriarchalen Standpunkt vertraten während andere wiederum einem geradezu bürgerlichen Verständnis folgten, das das Problem lediglich bei den Neonazis ausmachte und nicht auch im Sexismus.“

Es gab und gibt gute Gründe für die Definitionsmacht. Wer sonst, wenn nicht in erster Linie die Betroffenen von sexuellen Übergriffen und Gewalt, sollten darüber bestimmen dürfen, was sie erlebt haben? Etwas ganz Anderes ist aber das politische Konzept der Definitionsmacht: Wenn es als politische Leitschnur die Forderung erhebt, in Fällen des Vorwurfs eines sexuellen Übergriffs sei ausschließlich der Darstellung der ‚Frau‘ bzw. des ‚Opfers‘ zu folgen. Keine Frage, das ist für linke Gruppen der einfachste und vermeintlich sicherste Weg. Die grundsätzliche Problematik (Was ist wirklich passiert? Wie ist angemessen darauf zu reagieren?) wird so aber einfach unter den Tisch fallen gelassen. Im Kern ist dies eine antiaufklärerische und vernunftsfeindliche Position. Anstelle von Überprüfen, kritisch Hinterfragen, Plausibilitäten checken – alles Werte, die die Linke für sich gerne in Anspruch nimmt – tritt Glauben und im schlimmsten Fall Ignorieren. Statt geschlechtliche Identitäten zu hinterfragen, werden sie im Konzept der DefMa noch negativ verstärkt: ‚Frauen‘ oder vermeintlich Betroffene sind immer Opfer, wenn sie es sagen. Die spricht ‚Frauen‘ per se die Fähigkeit ab, strategischen Interessen zu folgen, zu lügen und bewusst Unwahrheiten zu verbreiten. Noch wird es der Problematik gerecht, das selbstverständlich auch ‚Frauen‘ von Wahrnehmungsstörungen, Fehlinterpretation, psychischen Erkrankungen – wie alle anderen Menschen – betroffen sein können.

Deshalb hier ein klares Plädoyer: Der Kampf gegen Patriarchat und Sexismus muss nicht immer in der Unterstützung des Konzepts der DefMa liegen. Lasst uns darüber solidarisch streiten! Antifa voran!