Paris und die Linke

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Bild: Erstellt von Benh LIEU SONG; Lizenz CC 3.0

Die Attentate vom 13. November 2015 in Paris mit über 100 Todesopfern waren in den letzten Wochen eines der medial meistverhandelten Themen in der BRD. An der Thematisierung der Terror-Akte war in den sozialen Medien kein Vorbeikommen und so äußerten sich auch einige, wenn gar nicht alle relevanten, Linken Organisationen und Publikationsorgane zu den Vorgängen. Freilich sind derartige Terrorakte nichts neues. Weder in Europa und schon gar nicht im globalen Maßstab. Und faktisch fügen sie der Realität nichts so entscheidendes oder gar transformierendes hinzu, dass auf ihrer Basis eine Neubewertung der gesellschaftlichen Situation oder gar der Verhältnnisse erfolgen müsste oder könnte. Dennoch ist es in verschiedenen Hinsichten spannend, sich anzusehen, wie die (radikale) Linke in der BRD auf die terroristischen Attentate reagiert. Denn trotz der Bekanntheit des Phänomens ist ihre Relevanz sowohl als politisch-soziales als auch als mediales Ereigniss unbestritten. Ein Ereignis, von dem zu befürchten ist, dass es Wasser auf die Mühlen von Rassist_innen, Konservativen und Kulturalist_innen ist und somit die Linke objektiv vor eine Herausforderung stellt.

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Der vorliegende Text wurde ursprünglich auf dem rethnologie blog veröffentlicht.

 

Im Folgenden werden beispielhaft einzelne veröffentlichte Reaktionen aus dem linken Spektrum auf dargestellt und diskutiert werden.

 

 

Die antiimperialistische und leninistische Strömung

 

 

In der antiimperialistischen Strömung dominiert, wie zu erwarten war, die Erklärung terroristischer Akte mit der Kriegspolitik des Westens. Diese habe den Nahen Osten ‚destabilisiert‘ und mache den Jihadismus erst möglich.

 

 

Der IS strebt ein stärkeres militärisches Engagement Frankreichs und des »Westens« im Nahen Osten an, speziell in Syrien und im Irak. Diese militärische westliche Verstrickung, deren Ergebnisse bekannt sind – sie ist eine der wichtigsten Ursachen für die Destabilisierung des Irak und Libyens – stützt strategisch und ideologisch den IS.

 

Kommunistische Partei Frankreichs, in junge Welt vom 19.11.2015

 

 

Die dahinter stehende Idee ist, dass die Terrorist_innen eine militärische Eskalation herbeiführen wollen und somit sich ihre Interessen mit denen der westlichen Staatschefs decken würden. Der rechtskonservative Publizist Jürgen Todenhöfer, der auch schon mal ein Interview für Jürgen Elsässers rassistisches und antisemitisches „Compact Magazin“ gab, kommt in der jungen Welt ebenfalls zu dem Thema zu Wort. Er sieht den französischen Kolonialismus und den Rassismus gegen Muslime als ursächlich für die Pariser Attentate an:

 

 

Der Westen hat im Mittleren Osten Krieg gesät. Jetzt kommt der Krieg nach Europa zurück. (…) Die französische Regierung hat im Mittleren Osten eine besonders dunkle Vergangenheit. Als Kolonialmacht und als militärischer Aggressor. Deutschland nicht. Wenn es darum ging, in der muslimischen Welt militärisch zu intervenieren, war Frankreich immer vorne dabei.

 

Jürgen Todenhöfer, in junge Welt vom 17.11.2015

 

 

Unter der Überschrift „Terror führt zu Terror“ beschreibt die antiimperialistische Tageszeitung, dass in Reaktion auf die Pariser Attentate sowohl den den USA als auch von Frankreich auf die vom IS besetzte syrische Stadt Raqqa geflogen worden seien. Überdies wird konstatiert, dass Russlands Präsident Putin zu einer internationalen Koalition gegen den IS aufgerufen habe. Welcher Terror hier zu welchem Terror führen soll, wird in dem Artikel nicht näher konkretisiert, aber egal wie herum man es dreht und wendet: die Bombardements der IS-Hauptstadt werden hier als „Terror“ bezeichnet und somit mit den Attentanten des IS gleichgesetzt. Unbestritten bleibt auch in der jungen Welt, dass die IS-Attentate auf Paris abzulehnen sind. Zur politischen Lösung der Problematik kommt in der Zeitung schließlich die „Friedensbewegung“ zu Wort.

 

 

Ich gehe davon aus, dass die Kriegführung Frankreichs auch hierzulande die Bevölkerung stärker gefährden wird. Eine Gewaltspirale setzt sich in Gang. Den Krieg zu forcieren ist der falsche Weg, politische Lösungsansätze sind voranzutreiben. Vergegenwärtigen müssen wir uns auch, dass die Kriege, die die USA im Irak, Afghanistan und Libyen geführt haben, diese organisierte Militanz erst hervorgerufen haben. Es gilt nun, alle am Konflikt beteiligten Parteien am Verhandlungstisch zusammenzuführen sowie die Integration perspektivloser Migranten in den europäischen Ländern zu fördern.

 

Lühr Henken vom Kasseler Friedensratschlag, in junge Welt vom 19.11.2015

 

 

Was genau die Idee „alle am Konflikt beteiligten Parteien am Verhandlungstisch zusammenzuführen“ impliziert, bleibt offen. So stellt sich die Frage, ob Henken dabei auf die Idee anspielt, den IS „diplomatisch anerkennen“ zu wollen, wie er von den der „Friedensbewegung“ zuzurechnenden Organisationen „Deutsche Friedensgesellschaft/Vereinigte Kriegsdienstverweigerer“ (DFG/VK) und „Pax Christi“ ins Spiel gebracht wurde. Hervorzuheben ist auch die Idee der „Gewaltspirale“, die also impliziert, Gewalt würde wie in einer Art Perpetuum Mobile aus sich selbst heraus hervorgebracht werden – wenn man die Spirale nicht unterbreche. Diese Theorie ist auf internationale Konflikte ebenso andwendbar wie auf politische Auseinandersetzungen zwischen „Links“ und „Rechts“ in der BRD. In ersterer Hinsicht wird allerdings eher von der antiimperialistischen Linken und der „Friedensbewegung“ Gebrauch von dieser Theorie gemacht, in letzterer Hinsicht eher seitens sozialdemokratischer oder konservativer Stadtverwaltungen oder seitens der Polizeibehörden. In einer ähnliche Kerbe schlägt Hannes Hofbauer in einem Kommentar von dieser Woche:

 

 

Nicht auszudenken, François Hollande hätte auf die Anschläge vom 13. November 2015 in Paris mit dem Rückzug der französischen Armee aus Syrien, Libyen, Mali, Niger, Gabun, Tschad und anderen Staaten Afrikas reagiert. Frankreich würde wohl von weiteren Attentaten verschont bleiben, die Franzosen könnten ohne Angst (und ohne Militärs) durch weihnachtlich geschmückte Straßen flanieren. Der Krieg wäre ins Stocken geraten. Und die radikalen Islamisten hätten ihre Sprengstoffgürtel abgelegt und sich ins Kalifat des »Islamischen Staates« aufgemacht.

 

Hannes Hofbauer, in junge Welt vom 25.11.2015

 

 

Hofbauer zu Folge stellt sich die weltpolitische Situation derzeit denkbar einfach dar. Wenn die NATO-Staaten den Krieg beenden, dann ist er eben auch vorbei. Das impliziert, dass die Ursache der blinden terroristischen Gewalt eben einfach nur die Gewalt der westlichen Militärapparate ist? Und was ist deren Ursache? In der leninistischen Lesart wahrscheinlich unmittelbare Profitgier. Offen bleibt dabei die Frage, was eigentlich davon zu halten wäre, wenn die Islamist_innen sich ohne ihre Sprengstoffgürtel ins „Kalifat des »Islamischen Staates« aufgemacht“ hätten. Ist es etwa weniger schlimm, wenn die Menschen im Nahen Osten dem nihilistischen und faschistoiden Terror des IS ausgesetzt werden? Oder entspricht der Jihadismus in Hofbauers Lesart einfach ‚der islamischen Kultur‘ schlechthin?

 

 

Doch statt vernünftig zu agieren, hat Hollande der Irrsinn gepackt. Vollgestopft mit judäo-christlichem Überlegenheitsgefühl und Missionswahn schickt er seinen Flugzeugträger aus, um die Bombardements gegen Muslime im Nahen Osten zu verstärken und brabbelt dabei – als Wiedergänger George Bushs – vom »Kampf gegen den Terror«.

 

Hannes Hofbauer, in junge Welt vom 25.11.2015

 

 

Die Möglichkeit, dass kulturalistische Ideologie in Hofbauers Text enthalten ist, bleibt vor dem Hintergrund des o.g. Zitat keine reine Unterstellung. Wenn die politischen Entscheidungen des französischen Präsidenten – wie diese nun inhaltlich zu bewerten sind sei hier dahingestellt – auf ein „judäo-christliches Überlegenheitsgefühl“ und nicht auf materielle Bedingungen zurückgeführt werden, dann liegt auch die Annahme nicht weit, dass „die Islamisten“ eben im „Kalifat“ an ihrem angestammten und kulturell richtigen Platz seien.

 

Die Ideen, die in den Texten der jungen Welt bezüglich der Pariser Attentate zur Sprache kommen sind dabei keinesfalls vollkommen aus der Luft gegriffen. Dass westliche Staaten jihadistische Kräfte zumindest toleriert, stellenweise aber auch aktiv gefördert, haben, ist kein Geheimnis. Die Ursache dafür ist zum Einen der auf den Kalten Krieg zurückgehende Impuls, reaktionäre, konservative Kräfte im Nahen Osten zu verankern, um gesellschaftliche Modelle jenseits von Marktwirtschaft und Neoliberalismus auszuschalten. Ganz praktisch: um fortschrittliche und kommunistische Kräfte zu eliminieren. Auf der anderen Seite hatte die Förderung des Jihadismus mit der westlichen Bündnispolitik zu tun, die repressive Staaten wie Saudi-Arabien, Bahrain, Qatar oder auch die islamisierte Türkei als Stabilisatoren einer durchaus weltökonomisch relevanten Region ansieht. In diesem Sinne haben die Autor_innen in der jungen Welt und die Protagonist_innen der „Friedensbewegung“ Recht, wenn sie den Staatschefs der NATO-Länder Verlogenheit vorwerfen, wenn diese nun in Reaktion auf die Terroranschläge selbst zu drastisch-militaristischer Rhetorik greifen. Vollkommen deplatziert ist jedoch die schematische Idee der „Gewaltspirale“ und die eindimensionale Begründung des Terrorismus mit westlicher Kriegspolitik. Auch wenn die westliche Propaganda von ‚militärischen Interventionen‘ für Weltfrieden und Freiheit keinerlei Glaubwürdigkeit besitzt, macht dies den Umkehrschluss, die Beendigung dieser Kriegspolitik würde auch den Jihadismus ausmerzen, kein bisschen richtiger. Denn der Jihadismus ist eben nicht einfach eine unpolitische Rachereaktion auf einen westlichen Krieg gegen ‚die islamische Welt‘. Er ist eine (post-)moderne Krisenideologie, eine Reaktion der Unmöglichkeit einer kapitalismusimmanenten Subjektivierungsperspektiven für große Teile der Weltbevölkerung. Er ist eben keine genuin islamische Antwort auf ein „judäo-christliches Überlegenheitsgefühl“, auch wenn er sich gerne in seinen Publikationen als solche geriert. Dabei ist dies nichts anderes als eine kulturalistisch-rassistische Vorstellung von der Welt, die zwar durch die Waffengewalt des IS wirkmächtig, aber keinesfalls wahr, wird. Ein materialistisches Verständnis der komplexen Krisenerscheinungen und Barbarisierungstendenzen wird so durch simple und identitätslogische Gewaltspiralenlogiken verstellt. Die Kritik der aus Antiimp- und ML-Kreisen, die antimuslimischen Rassismus immer weit von sich weist, schlägt so zumindest in Kulturalismus um. völkischer Ideologie leistet dieses Verständnis ohnehin Vorschub. Ganz unverhohlen lässt man Jürgen Elsässer Todenhöfer die rassistische und völkisch-nationalistische Mehrheitsgesellschaft in der BRD verharmlosen: „Sie [die Muslime, K.-H. K] können für den perversen IS-Terror genauso wenig wie ihr für den perversen Terror der deutschen Rechtsradikalen, die Flüchtlingsheime anzünden und die seit der Wiedervereinigung 180 Menschen teilweise bestialisch ermordet haben.“

 

 

Die antinationale Strömung

 

 

Aus den Reihen der antinationalen Strömung wurde vor allem ein kurzes Statement des libertärkommunistischen „ums Ganze“-Bündnisses wahrgenommen.

 

 

Wir hoffen für die Opfer und ihre Freund*innen, dass ihr Tod nicht wie Wasser auf die Mühlen der Konservativen und Rechtspopulist*innen wirkt, die nun in den Flüchtlingen die Attentäter*innen sehen wollen und in den Folgetagen für Verschärfungen von Kontrollen eintreten werden. Wir wünschen uns, dass der Tod dieser Menschen nicht dafür instrumentalisiert wird die Wut gegen noch Ohnmächtigere, die hierher Geflüchteten, zu lenken. Denn sie flüchteten genau vor dem, was uns in Paris das Fürchten lehren will.

 

„ums Ganze“ auf Facebook

 

 

Das Bündnis erwähnt hierbei genau jenen Zusammenhang, der beispielsweise in den Publikationen der jungen Welt unterbelichtet blieb: der Jihadismus ist nicht in erster Linie eine abzulehnende aber verständliche Widerstandsreaktion der ‚islamischen Welt‘ gegen den ‚westlichen Imperialismus‘, sondern eine nihilistische und mörderische Bewegung unter der in aller erster Linie die Menschen im Nahen Osten zu leiden zu haben. Darunter sind Millionen von Muslimen, Atheist_innen, Christ_innen, Jesid_innen und Angehörige zahlreicher anderer Religions- und Bevölkerungsgruppen. Die Perspektive in der Stellungnahme von „ums Ganze“ verschiebt sich hierbei in Richtung eines Aufrufs zum Widerstand gegen die kapitalistische Weltordnung – über alle nationalen und pseudo-kulturellen Grenzen hinweg:

 

 

Wir müssen verstehen, dass das Phänomen des Terroranschlags kein Importgut ist, sondern aus dieser gesellschaftlichen Ordnung selbst erwächst. Denn „diese Weltordnung nimmt eine ungeheure Masse Menschen einfach nicht mehr mit. Neben hoffnungslosen Versinken in Drogen, Entertainment, Verblödung und Entkräftung im Überlebenskampf bieten sich nur die beiden Dinge als Identitätsrettung an, die objektiv so überflüssig werden, wie sich so manche Menschen subjektiv fühlen: Nationalismus und religiöser Fundamentalismus. Beides verlangt Menschenopfer, Blutbäder, Terrorakte, das Unbewohnbar-machen immer weiterer Zonen der Welt“ (Georg Seeßlen). Als Antifaschist*nnen rufen wir dazu auf, diesen Ersatzhandlungen entgegen zu treten. Unser Ziel als Kommunist*nnen ist, diesen Kampf überflüssig zu machen.

 

„ums Ganze“ auf Facebook

 

 

Die Analyse ist alles andere als ausführlich oder tiefgehend. Aber das Statement zielt im Gegensatz zu den Kommentaren aus der antiimperialistischen Linken in die richtige Richtung. Nämlich auf die kapitalistische Vergesellschaftungsweise als solche und nicht auf die Handlungen einzelner vermeintlicher und tatsächlicher Akteure.

 

 

Die „antideutsche“ Strömung

 

 

Die der antideutschen Strömung zuzurechnende Wochenzeitung „Jungle World“ machte die Pariser Attentate in der vergangenen Woche zu ihrem Titelthema. Zunächst erläutert Bernhard Schmid in einem längeren Artikel die Gefahren des ausgerufenen Notstands.

 

 

Hollande will zudem »radikalisierten« Personen, die eine doppelte Staatsbürgerschaft besitzen, die französische Staatsangehörigkeit entziehen. Eine solche Maßnahme war bislang eine ideologische Forderung von Rechten. Sie zieht eine Grenze zwischen »uns« und »ihnen«, ändert jedoch nichts an der Gefährlichkeit von jihadistischen Zellen. Ebenso wenig wie die Versammlungsverbote, da der »Islamische Staat« (IS) eher selten Demonstrationsgenehmigungen in Frankreich beantragt. Es hätte die Anschläge auf keinen Fall verhindert.

 

Bernhard Schmid, in Jungle World Nr. 47

 

 

Schmid impliziert sogar die Gefahr einer faschistischen Machtergreifung durch die Kombination aus Ausnahmezustand und rassistischem Hype.

 

 

Unter diesen Voraussetzungen dürfte das nächste französische Staatsoberhaupt ab 2017 kein So­zialdemokrat mehr sein, sondern voraussichtlich ein Konservativer oder gar eine Rechtsextreme. Man darf also die schlimmsten Befürchtungen hegen, wenn Hollande seinen Nachfolgern weitreichende Sondervollmachten hinterlässt.

 

Bernhard Schmid, in Jungle World Nr. 47

 

 

Jörn Schulz behandelt in seinem Artikel die politischen Auswirkungen der Attentate. Die Strategie der Jihadist_innen des IS sei es, die „Grauzone“ auf beiden Seiten auszuschalten. Also eine Eskalation herbeizuführen, die Muslime dazu drängt, sich entweder zum IS zu bekennen, oder sich vom Islam abzuwenden und westlichen nicht-Muslime den kulturalistischen Rassismus aufzwingt. Die Analyse, dass eine Eskalation im Interesse der Terrorist_innen ist, findet sich auch auf Seiten der antiimperialistischen Strömung. Die Schlussfolgerungen sind allerdings komplett konträr. Während die Antiimperialist_innen wie oben gezeigt davon ausgehen, dass eine Einstellung jeglicher militärischer Aktionen gegen die Jihadist_innen den Terrorismus beenden würde, geht Schulz in der Jungle World gerade davon aus, dass die Eskalation nur mit einer militärischen Zerschlagung der jihadistischen Zentren zu erreichen ist.

 

 

Die Eskalation voranzutreiben und so die Unentschlossenen und Unwilligen zu zwingen, sich »ihrer« Seite anzuschließen, gehörte bereits zum strategischen Grundrepertoire von al-Qaida. Der IS will nun die »Grauzone« in Europa besei­tigen, die es muslimischen »Heuchlern« erlaubt, zu leben wie andere Menschen auch. »Die Muslime im Westen werden sich schnell vor die Wahl gestellt sehen, ob sie Apostaten werden (…) oder die Hijra (Auswanderung) in den Islamischen Staat vollziehen«, so Dabiq; der Artikel endet mit einer Beschwörung der als bald bevorstehend imaginierten Apokalypse. Die Stärkung der Bastion im Nahen Osten bleibt also das Ziel, ein deut­licher Hinweis darauf, dass deren Beseitigung das wirksamste Mittel im Kampf gegen den globalen Jihad ist.

 

Jörn Schulz, in Jungle World Nr. 47

 

 

Dabei unterliegen beide Strömungen einer ideologischen Verkürzung. Sie nehmen die westlichen Staats- und Militärapparate zum Ausgangspunkt ihrer Analysen. Die einen sehen sie dabei als Verursacher aufgrund militärischer Destabilisierung des Nahen Ostens – die anderen als potenzielle Retter, deren Eingreifen die Barbarisierung stoppen und Stabilität, Menschenrechte und Demokratie herstellen könnte. Beide Sichtweisen werfen ein Schlaglicht auf grundlegende Probleme der deutschen Linken. Die Komplexität der Situation wird auf einen politizistischen Blickwinkel verkürzt: „Militäreinsätze: Ja oder Nein?“ lautet gewissermaßen die zu Grunde liegende Frage. Dabei werden die Menschen im Nahen Osten unsichtbar gemacht. Sie geraten zu passiven Objekten westlicher Politik – wahlweise ‚imperialistischer Aggression‘ oder ‚pazifistischer Tatenlosigkeit‘ bzw. ‚Unentschlossenheit und Inkonsequenz‘. Ein sozialer Wandel in der Welt ist freilich nur durch ein komplexes interagieren diverser lokaler und globaler Akteur_innen herbeizuführen, deren gemeinsamer Nenner zumindest die emanzipatorische Überwindung von Kapitalismus und Nationalstaat ist. Ansätze solcher Bewegungen werden gerade im Angesicht eines zerfallenden Nahen Ostens auch real immer präsenter, wenn auch lange nicht so präsent wie die faschistisch-nihilistischen Gegenbewegungen.

 

Auch im Kulturalismus steht die antideutsche Strömung ihren politischen Gegner_innen aus dem antiimperialistischen Spektrum in nichts nach. Während in der jungen Welt die Idee stark gemacht wird, der IS sei eine islamische Antwort gegen den vermeintlich auf „judäo-christlichem Überlegenheitsgefühl“ basierenden westlichen Imperialismus, verbreitet auch die Jungle World Positionen, die von einer ‚islamischen Welt‘ ausgeht, die sich vom IS abwenden müsse, damit er besiegt werden könne. Dies könne freilich nur auf Basis innerkultureller Diskurse geschehen, die westliche Akteur_innen zwar beeinflussen, aber nicht führen könnten. Kulturelle Differenz eben. Diese Annahme lässt unter anderem der israelische Terrorismusforscher Yoram Schweitzer in einem Interview mit der Jungle World verlauten.

 

 

Der IS wurde von denselben geistigen Führern scharf kritisiert, die zuvor al-Qaida unterstützt haben. Diese Leute kennen die Sprache, und man muss mit ihnen kooperieren, weil sie – aus ihren eigenen Gründen – den IS bekämpfen. Es gibt eine ­Rivalität zwischen al-Qaida und dem IS, man hat religiöse Führer wie Abu Qatada und Abu Muhammad al-Maqdisi, die in Jordanien wieder im Gefängnis sitzen. Sie werden nicht mit den USA oder Frankreich kooperieren, aber vielleicht mit den Jordaniern, Ägyptern oder Saudis. Sie sollten der Propaganda des IS den Stachel nehmen, nur so geht das. Der Westen kann mit seiner Sprache islamische Jugendliche nicht erreichen. Auch mit islamischen Anführern in Europa muss kooperiert werden, denn der IS ist auch eine Bedrohung für sie und betrachtet sie als Kafir, als Apostaten.

 

Yoram Schweitzer, in Jungle World Nr. 47

 

 

Da überrascht es kaum, dass die Jungle World nach den dramatischen Ereignissen in Paris erneut eine Bühne für Thomas von der Osten-Sacken bot. Von der Osten-Sacken publiziert immer wieder Artikel, in denen er den o.g. Trugschluss propagiert, westliche Staaten könnten den Nahen Osten mit fachlich korrekt durchgeführten Militärinterventionen stabilisieren. Genau so wenig materialistisch fällt sein Kommentar zu Paris aus.

 

 

Warum sie Paris hassen. Und was wir ­verteidigen müssen.

 

Thomas von der Osten-Sacken, in Jungle Word Nr. 47

 

 

In diese ’sie vs. wir‘-Konstruktion lässt sich freilich viel hineininterpretieren. Gemeint könnte beispielsweise sein: ‚Wir Atheist_innen gegen die Religiösen‘. Oder auch: ‚Wir Kommunist_innen gegen die Konservativ-Reaktionären‘. Von der Osten-Sacken muss jedoch bewusst sein, dass derartige identitätslogische Gegenüberstellungen vor allem eine sehr prominente Interpretation nahe legen. Die kulturalistisch-rassistische Idee vom ‚Kampf der Kulturen‘. Von der Osten-Sackens Anliegen ist es, den Jihadismus, genau so wie den völkischen Nationalismus ideologisch aus der kapitalistischen Moderne zu exkommunizieren.

 

 

Der Abscheu, den das Paris der Französischen Revolution, der civilisation, der freien Liebe und des savoir vivre hervorruft, ist auch in Europa nur zu wohlbekannt. Schon in all der antiwelschen Propaganda deutschvölkischer Provenienz im 19. Jahrhundert gegen die leichtlebige Marianne drückte sich ein ganz ähnliches antiemanzipatorisches und antimodernes Ressentiment aus.

 

Thomas von der Osten-Sacken, in Jungle Word Nr. 47

 

 

Eine Aussage in dem vorliegenden Kommentar ist nicht zu bestreiten: die Jihadist_innen, genau wie andere konservative Reaktionäre, verachten den ‚moralischen Vefall‘, der für eine breite Masse erst durch bürgerliche Freiheiten abgesichert wird. Der Umkehrschluss, dass deshalb konträre Vorstellungen von Werten, Normen und Kultur ursächlich für den Terror seien, wird dadurch jedoch nicht gerechtfertigt. Um dies zu erkennen, wäre jedoch eine Differenzierung zwischen Ideologie und ihrem Gegenstand notwendig und dazu ist von der Osten-Sacken nicht bereit.

 

 

Diese Ideen wären nicht nur gegen die Islamisten zu verteidigen mit jener Militanz der barbusigen Marianne, die das Volk auf dem berühmten Bild von Delacroix auf die Barrikaden führt, sondern auch gegen ein Europa selbst, das sich, wie es dieser Tage leider scheint, aufgegeben hat und wenig mehr bietet als Besuche zum Dialog in Teheran, müde diplomatischen Floskeln und nationalistische Aufmärsche, die, finden sie in Paris statt, an eine andere, ganz ungute französische Tradition anknüpfen. Es gälte nun, für ein Europa zu kämpfen, das so nur noch in den Phantasien und Projektionen ­islamistischer Krieger existiert.

 

Thomas von der Osten-Sacken, in Jungle Word Nr. 47

 

 

Von der Osten-Sacken unterscheidet sich in sofern noch von rechten Hetzer_innen, als dass er Freizügigkeit nicht als ‚moralischen Vefall‘ geißelt, der die ‚westliche Kultur‘ zerstöre. Gemein macht er sich jedoch mit ihnen, wenn er die vermeintliche europäische Inkonsquenz anprangern und fordert, Europa möge doch endlich mal zu seinen genuinen Werten stehen.

 

 

Fazit

 

 

Mit materialistischer Analyse haben viele der linken Statements zu Paris und den Folgen nicht mehr viel zu tun. Zwar werden viele Wahrheiten berührt, wie beispielsweise die Verstrickung westlicher Staaten in die Unterstützung des Jihadismus oder aber die reaktionär-faschistische Charakter des IS und anderer Islamist_innen. Es gelingt allerdings sehr selten, diese Beobachtungen in einer kritische Theorie der kapitalistischen Moderne einzuspinnen. Teils sind da linke Bewegungen außerhalb Europas schon weiter. Auf der politischen Ebene wird der Blick von den Kämpfen um Würde und Freiheit, die seit 2011 in vielen arabischen Staaten ausgebrochen sind, weggelenkt und auf die Frage nach dem ‚richtigen‘ oder ‚falschen‘ politisch-militärischen Verhalten westlicher Staaten gelegt. Die Debatte sollte folglich nicht auf dem derzeitigen Stand stehen bleiben.

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