Probleme im Prozess zum überregionalen antikapitalistischen Zusammenschluss
Seit einigen Jahren gibt es Anläufe, um einen überregionalen Zusammenschluss der antikapitalistischen antiautoritären Linken aufzubauen. Aber die Prozesse haben mit zahlreichen Problemen zu kämpfen. Eine Problemanalyse von Emanuel Kapfinger.
Seit 2015 riefen verschiedene Teile der antikapitalistischen, antiautoritären Linken mit mehreren einflussreichen Texte dazu auf, die Zersplitterung und Szene-Isolation zu überwinden und einen überregionalen, gesellschaftlich sichtbaren und handlungsfähigen Zusammenschluss aufzubauen. [1] Diese Aufrufe sind auf reges Interesse gestoßen und es wurden mehrere Prozesse gestartet, die in ihnen enthaltenen Denkanstöße praktisch umzusetzen. Jedoch sind diese Prozesse mittlerweile teils gescheitert, teils nicht recht in Fahrt gekommen.
So fand auf dem Kongress Selber machen in Berlin im April 2017 ein sehr gut besuchtes Treffen von Gruppendelegierten zur Frage einer überregionalen Organisierung statt. Konkrete Schritte folgten jedoch nicht. In Frankfurt am Main begann 2017 der sogenannte Koup-Prozess mit dem Ziel, eine regionale Organisierung aufzubauen. Trotz enormer Begeisterung scheiterte der Prozess im Jahr 2018, weil sich ausgerechnet die Basisinitiativen aus Frankfurt nicht beteiligt hatten. Dann lud die Zeitschrift Kosmoprolet eine Reihe von Gruppen und Einzelpersonen mit dem Ziel der Milieubildung für September 2017 zu einer Tagung in Neu-Anspach ein. Hieraus haben sich viele bilaterale Kontakte sowie eine Folgetagung im April 2019 ergeben, eine Dynamik zum Aufbau eines arbeitenden Zusammenschlusses stellte sich jedoch nicht ein. Mitte 2018 begann der Prozess Kongress der Kommunen, von dem sich jedoch vor einigen Monaten bereits einzelne Gruppen wieder zurückgezogen haben, und der mittlerweile insgesamt wieder infrage steht. Konfliktpunkte waren, soweit ich Einblick habe, die starke Orientierung an der kurdischen Bewegung, eine zu starke Verbindlichkeit des Zusammenschlusses und Probleme mit der Dominanz einzelner Gruppen. In Berlin hat sich Anfang 2018 das Widerstandskomitee gebildet, in dem sich sozialrevolutionäre Gruppen mit internationalistischer Ausrichtung treffen. Jedoch wird es aufgrund seiner starken Orientierung an der kurdischen Bewegung von anderen Berliner Gruppen kritisiert, die sich unter anderem darum nicht beteiligen. Im Januar 2019 hat sich der Zusammenschluss welche-gesellschaft.org gegründet, der bewegungsnahen Institutionen (NGOs, Teile der Gewerkschaften) und Akteuren sozialer Bewegungen besteht. Dieser Zusammenschluss steht zwar sozialrevolutionären Überlegungen in seinen Worten fern, stellt sich aber ernsthaft die Frage, wie aus Alltagskämpfen großflächige Veränderungen erwachsen können und bringt Akteure aus verschiedensten Kämpfen an einen Tisch. Regionale Prozesse gibt es außerdem in Niedersachsen und Nürnberg. Überregional wurden kürzlich die Assoziation autonomer Gruppen und die anarchokommunistische plattformgegründet.
Soweit ein kurzer Rück- und Rundumblick über aktuelle Prozesse und einige ihrer Probleme. Letztere dürfen die sehr wichtige Arbeit, die in diesen Prozessen steckt, nicht überdecken. Jede Genossin, die ihre Zeit und Energie in sie steckt, leistet großartiges und bringt uns um vieles voran. Warum aber gelingt es bisher nicht, den Zusammenschluss antiautoritärer, antikapitalistischer Gruppen aufzubauen, obwohl ein so starkes Interesse vorhanden ist? Was hält die Gruppen vom Zusammenschluss ab? Was blockiert die Dynamik der Prozesse? Und warum gibt es so viele spezialisierte Prozesse, statt einfach den einen Zusammenschluss aufzubauen?
Meiner Meinung nach haben wir mit mehreren Problemen zu kämpfen, die den Prozessen nicht als ihre eigenen Fehler vorzuwerfen sind, sondern die aus den althergebrachten Praxisformen der radikalen Linken herrühren. Um diese Praxisformen zu überwinden, müssen wir diese Probleme bearbeiten und aus dem Weg schaffen. Im Folgenden beschreibe ich daher, welche Probleme die Prozesse hin zum Zusammenschluss blockieren und möchte Vorschläge unterbreiten, wie wir sie möglicherweise lösen können.
Die gegenwärtige politische Situation – Krise, Rechtsruck, Klimawandel, um nur die zentralen Dinge zu nennen – lässt uns dafür nicht mehr viel Zeit. Wenn wir uns nicht bald zusammenraufen und in die politische Offensive kommen, wird unser Leben richtig schwierig werden. Die Perspektive dagegen kann nur ein überregional sichtbarer und handlungsfähiger antikapitalistischer Zusammenschluss sein. Dafür reicht es nicht, 200 Leute aus der eigenen Ingroup zusammenzuschließen, sondern wir müssen mittelfristig einige tausend ansprechen und zwar auch unabhängig von der Szene-Zugehörigkeit.
Warum der überregionale Zusammenschluss?
Die zu Anfang genannten Textbeiträge und Aufrufe argumentieren ungefähr wie folgt für den überregionalen Zusammenschluss von Basisinitiativen:
Obwohl die gesellschaftliche Situation immer krisenhafter wird, fehlt eine handlungsfähige und sichtbare Gegenmacht, die die Krisen von links aus beantworten und für Emanzipation kämpfen kann. Das gilt sowohl für das Soziale – siehe die Wohnungsnot und die Rentenkürzungen – als auch für die Aufrüstung des Staates, wie in den Polizeiaufgabengesetzen oder dem Flüchtlingsregime. Die extreme Rechte erstarkt, global wie vor unserer Haustür. Die Gefahr von großen Kriegen rückt wieder näher. Der Klimawandel ist nur mehr sehr schwierig einzudämmen und stellt das Leben der nächsten Generationen überhaupt infrage.
Hiergegen offensiv vorzugehen sollte also eher früher als später passieren. Aber die antikapitalistische Linke ist derzeit nicht in der Verfassung, diese Gegenmacht zu organisieren. Sie besteht aus zahllosen Kleingruppen und aus vielen monothematischen Organisierungen (zum Beispiel zur Mietenpolitik oder fokussiert auf Antirassismus), jeweils ohne verbindlichen Zusammenhang miteinander. Die antikapitalistische Linke grenzt sich großteils von der Bevölkerung ab, statt mit ihr gemeinsam zu kämpfen. Zur Zeit haben zwar reformorientierte linksradikale Strömungen, die auf Hegemonie und linke Regierungsmehrheiten abzielen, federführend die iL, einen gewissen Schwung, aber es gibt im heutigen Kapitalismus offensichtlich keine wirklichen Spielräume für staatliche Reformpolitik, noch für großflächige Reallohnerhöhungen, wie spätestens seit dem SYRIZA-Debakel in Griechenland im Jahr 2015 klar geworden sein sollte. Die einzige Alternative ist das entschlossene Kämpfen im Bestehenden mit explizit antikapitalistischer Zielsetzung.
Die Basis dieser Gegenmacht, so die Grundidee der genannten Texte, besteht in der Organisierung vieler Menschen in ihren unmittelbaren Lebensverhältnissen, damit sie in ihren Konflikten widerstandsfähig werden. Diese Organisierung im Alltag ist insofern die Basis von Gegenmacht, weil erst durch sie auch gesamtgesellschaftlicher Druck aufgebaut werden kann: „Die Basis einer gesellschaftlichen Kraft ist die Organisierung.“ (Bremer Kollektiv) Hier ist in den letzten Jahren einiges in Bewegung geraten. Zahlreiche Stadtteil-Initiativen und Frauenstreik-Basisgruppen wurden gegründet, und auch die Selbstorganisierung von Mietshäusern und in den Betrieben, etwa im Gesundheitssektor, ist in einer enormen Entwicklung begriffen.
Diese lokalen Organisierungen stellen aber erst dann eine Gegenmacht mit wirklich antikapitalistischem Potential dar, wenn sie sich zu einem überregionalen Zusammenschluss mit explizit antikapitalistischer Perspektive zusammentun. Die Texte führen diesen Gedanken in verschiedener Weise aus: Erst dann können sich die einzelnen lokalen Kämpfe auf die Emanzipation vom Kapitalismus beziehen, die nur kollektiv erreichbar ist. Erst dann wird eine Alternative zum Bestehenden öffentlich sichtbar, die als praktisches Argument gegen Ideologien von Alternativlosigkeit, Nationalismus und Rassismus fungieren, und die überhaupt den Kampfgeist der Menschen beflügeln kann. Erst dann ist ein kollektives Handeln auf politischer Ebene möglich. Erst dann kann zum Beispiel politisch gestreikt oder können bei Großevents die organisierten Basiskollektive mobilisiert werden. Und diese grundlegendere Gegenmacht wäre dann nicht allein abstrakt auf die Überwindung des Kapitalismus ausgerichtet, sondern würde dann gerade auch die einzelnen lokalen oder sektoralen Kämpfe beflügeln, also eben zum Beispiel den Mietenkampf oder den Arbeitskampf im Gesundheitssektor.
Um dies möglich zu machen, müssen wir aber konkret die organisatorische Aufgabe des überregionalen Zusammenschlusses bewältigen, die meines Ermessens im Augenblick vor zahlreichen Problemen steht.
Unartikulierte linksradikale Ängste vor dem Zusammenschluss
In den Diskussionen um den überregionalen Zusammenschluss wird immer wieder die Unsicherheit geäußert, ob dieser angestrebte Zusammenschluss wirklich das Richtige sei. Ich glaube, dass das an zwei linksradikalen Ängsten liegt. Zum einen die Angst, aus dem Schutz der Szene in eine öffentliche Sichtbarkeit zu treten, und zum anderen die Angst vor einer Bevormundung der Basis durch einen übergeordneten Apparat. Beide – vor allem aber die erste – werden oft nicht direkt ausgesprochen, so dass sie auch schlecht diskutierbar sind. Das ist ein Problem. Wir müssen diese Ängste und ihre Ursachen verstehen und diskutieren und perspektivisch innerhalb des noch zu entwickelnden Zusammenschlusses Strukturen schaffen, die diese Ängste auflösen helfen.
Die Angst vor dem Verlassen der linken Szene betrifft üblicherweise die etwas besser gestellten Genossinnen, die meist studiert haben und sich auf einer bürgerlichen Berufslaufbahn befinden, oder Genossinnen, die das vorhaben. Oft sind diese Jobs nur symbolisch und sozial, nicht aber finanziell „besser gestellt“. Ein überregionaler und sichtbarer Zusammenschluss bereitet natürlich den Kleingruppen und Szeneläden, in denen man unter sich und anonym bleibt, ein Ende. Sichtbarkeit bedeutet gerade, dass man sowohl im Alltag, zum Beispiel am Arbeitsplatz, als auch in öffentlichen Diskussionen so auftritt, dass man den Antikapitalismus ernst meint und dafür auch in konkreten Konflikten den Kapitalismus wirklich herausfordern will. Ein größerer, überregionaler Zusammenschluss bedeutet auch, dass man tatsächlich kollektiv viel angreifbarer wird. Solange man in der Anonymität der linksradikalen Kleingruppe bleiben kann, kann man – trotz allem „radikalen“ Engagement – insgesamt immer noch unter dem Radar bleiben. Solange man in dieser Anonymität bleibt, genießt man noch relativ viele Freiheiten, man riskiert keinen Ausschluss aus bestimmten sozialen Milieus und gefährdet die bürgerliche Berufslaufbahn nicht.
Der Zusammenschluss muss diesen sozialen und ökonomischen Ausschluss auffangen können. Er muss die Leute auffangen, wenn sie in persönliche Krisen geraten oder vereinsamen. Vorstellbar ist auch, entsprechend dem Ansatz der Solidarisch-Gruppen, dass wir uns gegenseitig weiterhelfen, wenn Leute aus ihren Jobs fliegen. Um die Ängste aufzulösen, müssen wir auf solche Unterstützung bauen können.
Zum Zweiten, die Angst vor der Apparatdominanz. Die scharfe Kritik an zentralistischen Organisationen (wie dem Konzept der Kommunistischen Partei) und Apparaten (wie den Gewerkschaften) gehört zu den grundlegenden Einsichten der antiautoritären Linken. Allerdings schlägt diese Kritik immer wieder in eine bloße Anti-Haltung um: Dann wird jede Form von zentralen Instanzen eines Organisierungsprozesses als Problem und letztlich als ebenso problematischer Apparat wie all die anderen gesehen.
Um gesellschaftlich handlungsfähig und sichtbar zu sein, benötigen wir aber zentrale Instanzen wie zum Beispiel Kasse, Website, Massenzeitung, Bildungsmaterial, Koordinierungsarbeit, Verwaltungsarbeit. Diese sollten aber nicht autonom arbeiten, sondern die Autonomie sollte jederzeit an der Basis liegen. Um das zu gewährleisten, ist eine klare Analyse der basis- und rätedemokratischen Struktur nötig. Diese Analyse muss Mechanismen wie die folgenden umfassen: Alle zentralen Positionen werden gewählt, und sie sind gegenüber den Wählenden rechenschaftspflichtig und jederzeit abwählbar. Sie sind nach dem Rotationsprinzip besetzt, niemand kann die Positionen für längere Zeit innehaben. Die Basis muss in ihrer Handlung jederzeit vollständig frei sein – es gibt keine Organisationsdisziplin. Diese Mechanismen müssen allerdings nach dem jeweiligen Bedarf und auch nach pragmatischen Gesichtspunkten ausgestaltet werden. Diese Analyse der Struktur muss gemeinsam mit der scharfen Kritik am Zentralismus explizit gemacht werden. Das sollte die bloße Anti-Haltung entkräften.
Keine Disziplin?
Der Punkt mit der Abwesenheit von Organisationsdisziplin ist möglicherweise kontraintuitiv. Wie soll ein so großer politischer Zusammenschluss funktionieren, wenn alle einzelnen Gruppen vollständig autonom sein sollen? Widerspricht sich das nicht? Ist es nicht selbstverständlich, dass Organisationsdisziplin in so einem großen Zusammenschluss nötig ist? Die Autonomie der Basis heißt aber nicht, dass es kein gemeinsames Handeln gibt und jede Gruppe bloß unabhängig ist. Die einzelnen Gruppen schließen sich ja gerade zusammen, um zusammenzuarbeiten und gemeinsam zu handeln. Praktisch heißt das, dass es intensive Kontakte zwischen den Gruppen gibt und dass sie sich auf Vollversammlungen regelmäßig treffen. Sie führen eine gemeinsame Diskussion, sprechen gemeinsame Aktionen ab und entwickeln sich gemeinsam weiter. „Keine Organisationsdisziplin“ heißt allerdings durchaus, dass weder die zentralen Instanzen noch die Vollversammlungen Weisungen an die einzelnen Gruppen richten können, die diese dann auch bei Kritik befolgen müssen. Konkret heißt das: Die Minderheit muss Mehrheitsbeschlüsse nicht umsetzen. Es kann natürlich Situationen geben, in der es nicht anders geht, als dass die Minderheit den Mehrheitsbeschluss akzeptiert, aber das ist nicht das Prinzip der Sache.
Das Problem mit der Organisationsdisziplin ist, dass die einzelnen Gruppen ständig Dinge machen müssen, die sie eigentlich für nicht sinnvoll oder sogar kontraproduktiv halten, dass sie aber trotz ihres „bloß subjektiven“ Widerspruchs um der „höheren Sache“ willen Gehorsam leisten. Als Folge entstehen dann Kämpfe, Gerangel, Rhetoriken, in denen jeder seinen Standpunkt durchsetzen will. Der Unterschied zu bürgerlich-kapitalistischen Organisationen (Parteien, Unternehmen, staatliche Behörden) ist da nicht so ganz groß. Wir brauchen die Organisationsdisziplin aber auch gar nicht, weil der Zusammenschluss keine geschlossene Truppe sein soll, die als ein kollektives Subjekt entschlossen handelt und die Staatsmacht übernimmt. Im Gegenteil, es geht überhaupt nicht um die Staatsmacht. Vielmehr soll der Zusammenschluss die Räteverfassung der nichtkapitalistischen Gesellschaft schon im Ansatz widerspiegeln, der Zusammenschluss soll im Endeffekt kein rein politischer sein, sondern in der Tendenz bereits die Trennung zwischen Politik und Leben aufheben. Die nichtkapitalistische Gesellschaft muss aus räteförmigen Strukturen wie unserem Zusammenschluss hervorgehen: Der Weg ist wie das Ziel. [2]
Der Zusammenschluss wird aber heute auch, in Anbetracht der Lage der deutschen antikapitalistischen Linken, nur ohne die Einheit einer Organisationsdisziplin funktionieren. Denn es gibt zahlreiche innerlinke Kontroversen mit hochgradig zentrifugalen Tendenzen. Diese Kontroversen müssen innerhalb des Zusammenschlusses nebeneinander bestehen können, ohne dass sie per Mehrheitsentscheid auf einen Nenner gebracht werden. Zum Beispiel gehen einige Berliner Gruppen auf Abstand zum Widerstandskomitee, weil dieses sich sehr auf Ansätze aus der kurdischen Bewegung festgelegt hat. Ich werde auf diese innerlinken Kontroversen später noch genauer eingehen, in Bezug auf die Organisationsdisziplin ist hier aber zu sagen, dass wir das Nebeneinander von heterogenen Praxisformen und politischen Ansätzen nicht als Problem sehen sollten, sondern vielmehr als Stärke, weil alle diese heterogenen Richtungen ja einen bestimmten Grund haben, in dem sie eine Antwort darstellen. Man muss das nicht zwangsweise vereinheitlichen. Wir sollten da auch überhaupt mal gelassener werden, wenn andere etwas machen, was wir „gar nicht richtig“ finden. Wir sollten lernen zuzulassen, dass Menschen in unseren Zusammenhängen Dinge machen, die wir falsch finden, die ihnen aber wirklich wichtig sind.
Die Distanzierung der Basisinitiativen
Viele Basisinitiativen beteiligen sich nicht an den Prozessen für einen überregionalen Zusammenschluss, weil sie ihn für nicht zielführend für ihre lokale Praxis halten. Das ist natürlich ein großes Problem, denn der Zusammenschluss soll von der Idee her vor allem diese Basisinitiativen zusammenschließen.
Argumentiert wird zumeist so: Die Basisorganisierung sei schon Zeitaufwand genug. Die Arbeit in einem Zusammenschluss halte nur davon ab und sei für die Basisorganisierung selbst nicht notwendig. Zugleich sei gerade diese heute politisch nötig, nicht aber ein gesellschaftlich agierender Zusammenschluss der Basisinitiativen.
Um dem zu entgegnen, wird es praktisch gesehen nötig sein, dass die Basisinitiativen in dem Zusammenschluss einen echten Mehrwert für ihre Praxis entdecken können: Zum Beispiel dass sie dadurch Zeit einsparen können, ihre Praxis durch Erfahrungsaustausch erleichtert wird oder Unterstützung (z. B. im Streikfall) unkompliziert mobilisiert werden kann.
Umgekehrt droht den Basisinitiativen die Integration ins System, wenn sie ohne übergreifenden Zusammenschluss mit antikapitalistischer Zielsetzung und organisierter Solidarität weiter machen. Und das sogar auch dann, wenn sie erklärtermaßen Widerstand im Alltag leisten und nicht-kapitalistische Beziehungen entwickeln wollen. Solange die Basisinitiativen sich nicht in einem antikapitalistischen Zusammenschluss organisieren, haben sie keine praktische revolutionäre Perspektive. Die Integration läuft über zwei Mechanismen: der Korporatismus für autonomen Widerstand und die Marktzwänge für solidarische Inseln.
Korporatismus
Die klassische Situation ist die autonome Organisierung von Lohnabhängigen und ihr autonomer Arbeitskampf, den die Gewerkschaft wieder unter Kontrolle bekommt. Das Engagement von Militanten für die Autonomie der Lohnabhängigen schlägt dann um: Die Gewerkschaft geht gestärkt aus dem Konflikt heraus und die Integration der Lohnabhängigen ist stärker als vorher. Ähnliches geschieht, wenn mietenpolitische Kämpfe durch politische Parteien befriedet werden, indem diese individuelle Lösungen herbeiführen. Auch Sozialarbeit ist oft korporatistisch.
Die Gewerkschaft hat damit immer Erfolg, weil sie viele Leute wirklich von sich beeindrucken und davon überzeugen kann, dass sie die bessere Karte ist gegenüber der autonomen Organisierung. Sie kann mit ihrem Knowhow und ihrem leistungsfähigen Apparat, der für öffentliche Sichtbarkeit und Austausch mit anderen Belegschaften sorgt, beeindrucken. Und damit, dass sie alles „wieder in geordnete Bahnen“ lenkt. Außerdem ist es bequemer, wenn der Apparat für die Leute verhandelt, und die Lohnabhängigen schließlich Lohnerhöhungen erhalten, ohne dass sie selbst aktiv werden müssen. Mit diesen Mitteln kauft die Gewerkschaft die Leute und betrügt sie zugleich.
Um diesem Betrug der Gewerkschaften entgegen zu treten, braucht es den überregionalen antikapitalistischen Zusammenschluss:
- Dieser kann ebenfalls Knowhow, öffentliche Sichtbarkeit, bundesweiten Austausch, sowie die reale Streiksolidarität anderer bieten und so der Selbstinszenierung der Gewerkschaften die Stirn bieten.
- Er hat kein Interesse an Sozialpartnerschaft und Befriedung, kann daher viel entschlossener kämpfen als die Gewerkschaften und so auch real bessere Resultate erzielen, die die Kämpfenden wirklich interessieren.
- Der überregionale Zusammenschluss verkörpert durch diese allgemeine Streiksolidarität das Bewusstsein des Antikapitalismus. Nämlich, dass nicht nur die kleine Verbesserung, sondern die Abschaffung des Verhältnisses notwendig ist, und dass aber zweitens der konkrete eigene Kampf ein Baustein auf dem Weg zu dieser Abschaffung ist.
Solidarische Inseln
Die Geschichte hat immer wieder gezeigt, dass sehr radikale Projekte – Hausbesetzungen, Betriebsaneignungen, anarchistische Kommunen, egalitäre Kollektivbetriebe – im Laufe der Jahre kapitalistische Akteure geworden sind, die lediglich nach innen kollektiv und egalitär organisiert sind, aber nach außen hin kapitalistisch auf dem Markt agieren müssen. Sie sind solidarische Inseln, verfolgen aber über ihre Organisationsgrenzen hinaus keine antikapitalistische Praxis. Siehe etwa die vielen legalisierten Hausprojekte in Berlin oder die ehemals linke Tageszeitung taz.
Aktuell betrifft dieses Problem vor allem die vielen Solidarisch-Projekte, die in den letzten Jahren entstanden sind (wie die Solidarische Aktion Neukölln). In den Solidarisch-Projekten muss man nicht vereinzelt mit Jobcenter, Vermieterin, Chefin und so weiter kämpfen, sondern kann dies als Kollektiv tun. Dies ist allerdings ein Fortschritt und bessert die Lebenssituation ungemein. Aber es birgt eben auch die Gefahr, dass dies die Konflikte des Kapitalismus nur von einer Einzelperson auf ein Kollektiv von 15 Leuten ausweitet. Das ist dann zwar besser, weil kollektiv statt einzeln, aber dieses Kollektiv ist trotzdem nur ein kollektiver Egoist, der sich weiterhin im Kapitalismus behaupten muss.
Um dieses Umkippen zu egoistischen Kollektiven zu verhindern, braucht es die Einbindung der Solidarisch-Projekte in einen antikapitalistischen Zusammenschluss:
- Nur dann kann das jeweilige solidarische Projekt die eigene organisierte Alltagswiderständigkeit auch als Teil einer kollektiven Aktion ausüben (zum Beispiel als politischer Streik oder politischer Mietenstreik).
- Nur dann organisiert sich das solidarische Projekt in seinem Alltag mit einem Bewusstsein, konkret Teil dieses antikapitalistischen Kampfes zu sein.
Hahnenkampf der Standpunkte
Diskussionen in der antikapitalistischen Linken sind fast immer vom Standpunkt-Denken bestimmt. Es geht den Beteiligten um die Behauptung und Durchsetzung des eigenen Standpunkts gegen jeweils andere. Linke Identität heißt, sich in einem Standpunkt wie „kommunistisch“ oder „hegemoniepolitisch“ zu positionieren und sich in diesem behaupten können. Demgegenüber müsste die Diskussion eigentlich eine Auseinandersetzung über das Problem sein, um es gemeinsam zu verstehen und praktisch zu lösen. Gerade darum müssten antikapitalistische Linke imstande sein, auch scharfe Kontroversen auszuhalten. Das wäre ein praxisorientiertes Wahrheitsverständnis.
In den Prozessen um die „Neuausrichtung der radikalen Linken“ hat sich diesbezüglich viel getan, trotzdem dominiert weiterhin das Standpunkt-Denken die Auseinandersetzungen in den Prozessen. Das Standpunkt-Denken begrenzt jedoch die Reichweite der jeweiligen Prozessbeteiligten und blockiert die Prozesse intern. Um das aufzulösen, braucht es organisatorisch-strukturelle Konsequenzen.
Typische, sich nach diesem Prinzip gegenüber stehende Standpunkte sind:
Praxis versus Theorie: „Die ganze Theorie hilft für die Praxis nichts weiter und ist nur intelligente Selbstbespaßung“, gegen: „Das Machen und Organisieren der Aktivistinnen ist nur blinder Aktionismus, der ohne vorheriges Nachdenken sinnlos ist.“
Anarchismus versus Kommunismus: „Wir müssen hier und jetzt mit dem anderen Leben anfangen. Es ist falsch zu sagen, dass wir die Massen dazu bringen müssen: jede einzelne muss es selber machen“, gegen: „Ohne antikapitalistische Organisation, die den Kapitalismus flächendeckend bekämpft, bleiben alle Experimente im Kleinen fruchtlos und bloße Handwerklerei.“
Weitere häufig debattierte Gegensätze sind zum Beispiel: antikolonial versus antinational, revolutionär versus realsolidarisch, antirassistisch versus klassenkämpferisch, feministisch versus klassenkämpferisch und so weiter.
In solchen Diskussionen versuchen die Beteiligten, ihre Standpunkte mit diversen Mitteln durchzusetzen. Man versucht die anderen durch technische Tricks aus der Diskussion hinaus zu drängen. Zum Beispiel indem man sie in großen Plena reden lässt, ohne auf die jeweiligen Punkte einzugehen. Man versucht das Publikum durch rhetorische Mittel zu beeindrucken. Man geht auf Vorschläge, Dinge konkret und persönlich auszudiskutieren, nicht ein. Man versucht, die Anderen aus der Linken auszugrenzen, indem man ihnen Nationalismus, Paternalismus, Eurozentrismus und so weiter vorwirft. Wenn man das alles ernst nähme, dann säßen die größten Reaktionäre gerade in den Reihen der Linken selbst. Die Konsequenzen solcher eskalierender Diskussionen sind regelmäßig Spaltungen von Gruppen, Sektierertum, vermeintlich unüberbrückbare persönliche Differenzen, ritualhaftes Abgrenzen von bestimmten Standpunkten. Das kollektiv! Bremen hat all das kürzlich hier auf dem re:volt magazine sehr anschaulich anhand eines Bündnisses beschrieben.
Das Problem ist hierbei nicht, dass die Beteiligten für konkrete Ziele eintreten und diese praktisch zu erreichen suchen, sondern dass es ihnen um den Standpunkt als Standpunkt geht, um seine Behauptung und Durchsetzung als Standpunkt gegen andere.
Wir brauchen eine andere Diskussionskultur, in der wir nicht streiten, um gegen die anderen die Diskussion zu gewinnen, sondern weil jede die anderen braucht, um das Problem zu verstehen. Die Wahrheit wäre dann kein Standpunkt mehr, sondern wäre erst durch die Kontroverse möglich, und hätte nicht den Sinn, den Standpunkt zu behaupten, sondern praktische Probleme zu lösen.
Ein Hauptgrund des Standpunkt-Denkens liegt denke ich in der Unsicherheit, die viele in ihrer antikapitalistischen Position haben. Heute sind Ideologien völlig gefestigt und eine kräftige Gegenmacht und damit Alternative zum Kapitalismus ist nicht sichtbar. Darum erscheint jeder Antikapitalismus als verrückt und gesellschaftlich „ungültig“. Wenn man jetzt einen eindeutigen und „gefestigten“ Standpunkt einnimmt, dann ist man gegen die Angriffe der Mehrheitsgesellschaft abgeschottet und hat keine Unsicherheit mehr. Das ist natürlich dann auch ein schematischer Standpunkt, dem es nicht um’s Probleme-Lösen, sondern um das Aushalten von Angriffen geht.
Um das Standpunkt-Denken aus der antikapitalistischen Diskussionskultur herauszubekommen, braucht es organisatorisch-strukturelle Bedingungen:
- Das Verbindende des Zusammenschlusses soll nicht ein gemeinsamer Standpunkt sein, etwa eine gemeinsame politische Doktrin, sondern die widerständige Praxis organisierter Basiskollektive. Und dies mit der Perspektive, dass Gegenmacht, wie auch später die Revolution, in ihrem Kern in der Entwicklung nichtkapitalistischer Beziehungen im Alltag besteht. Der Grund des Zusammenschlusses sollte also das Zusammenwirken für so eine konkrete Praxis der Basiskollektive sein. Trotzdem muss der Zusammenschluss, um arbeiten zu können, einen gewissen inhaltlichen Rahmen abstecken. Dies sollte in Form von politischen Kerninhalten stattfinden. Dazu sollten etwa gehören: Antistaatlichkeit, Internationalismus, Klassenkampf, Triple-Oppression-Ansatz. [3] Diese politischen Kerninhalte müssen offen sein, damit kontroverse Diskussionen innerhalb des Zusammenschlusses möglich sind. Kritik an rassistischen, sexistischen, paternalistischen Denkweisen innerhalb der Plattform muss jederzeit möglich sein, aber ohne damit unmittelbar persönliche Ausschlüsse zu fordern.
- Es müssen moderierte Diskussionen organisiert werden, in denen die Kontroversen ausgetragen werden, und zwar explizit innerhalb des gemeinsamen Zusammenschlusses (oder in Perspektive darauf). Der Ort dafür sind Podiumsdiskussionen und Zeitungsdebatten. Die Moderation hat die Aufgabe, die Form der Diskussion zu beobachten, und sie wenn nötig explizit zu kritisieren.
Wärmestrom
Es fehlt der „Wärmestrom“ (Ernst Bloch) in unserem Herangehen an den antikapitalistischen Zusammenschluss. Wir arbeiten nach der Devise „Dies und das ist politisch notwendig, um unsere Interessen zu verteidigen“. Unser Engagement dafür ist „ernsthaft“, muss anstrengende Arbeit sein. Wir sehen den Zusammenschluss lediglich als Instrument für antikapitalistische und antifaschistische Ziele.
Aber ein Zusammengehen von Menschen in so einen Zusammenschluss wird nicht gelingen, wenn der Begründungszusammenhang allein so rational und kalt ausfällt. Er wird sich nur zusammen bündeln können, wenn er auch eine emotionale Grundlage hat und die Menschen sich dafür begeistern können, in ihm mitzumachen. Er muss getragen werden von dem kollektiven Gefühl, dass er für ein anderes, schönes, befreites Leben steht. Und dass dieses Leben genau in diesem Zusammenschluss bereits ansatzweise gelebt wird. Dieser Wärmestrom entsteht überall da, wo unsere Beziehungen ihre kapitalistische Entfremdung abwerfen können und wir erleben, wie reich unser Leben wirklich ist. In der Nachbarschaftsinitiative, der Arbeiterinnenautonomie wie in der Platzbesetzung. Überall da, wo die Herrschaft der kapitalistischen Notwendigkeiten zeitweise außer Kraft gesetzt wird, wo das Leben gemeinsam gestaltet wird und jedes Individuum mit seinen Bedürfnissen dazu gehört.
Dort kann in ersten Anläufen eine Kultur entstehen, in der die Menschen nicht immer ängstlich auf den eigenen Besitz, auf den eigenen Spaß oder Selbstverwirklichungsgewinn, die eigene investierte Arbeitszeit schauen müssen. Wo sie sich nicht mehr auf Kosten anderer profilieren müssen, um selbst besser da zu stehen, oder sich von den „Uncoolen“ abwenden, um selbst nicht schief angesehen zu werden. Wo Kranke in ihrer Krankheit anerkannt sind und nicht mehr allein dafür verantwortlich sind. Es handelt sich dann nicht mehr um Beziehungen von atomisierten Menschen, die sich quasi vertragsmäßig aufeinander einlassen, sondern um solche, in denen das Interesse des einen am anderen konkret etwas mit dem andern zu tun hat. Es wäre ein Leben, in der man keine Angst mehr haben muss, am Ende auf sich allein gestellt zu sein. In dem man nicht verbissen kämpfen muss, um am Ende nicht hinten runter zu fallen. In dem der innere Druck, immer mehr leisten zu müssen als man kann, endlich aufhört, weil das einfach nicht mehr nötig ist. In dem man gemeinsam versucht, Gewalt aus der Welt zu schaffen.
Dies ist der Wärmestrom, die Energie, die unseren Zusammenschluss für ein nichtkapitalistisches Leben tragen wird.
Gegenmacht aufbauen!
Sofern meine Problemanalysen zutreffen, wird es keineswegs leicht werden, den überregionalen Zusammenschluss aufzubauen. Wir schleppen eine gewaltige Hypothek aus der Geschichte der radikalen Linken mit. Um sie abzubauen, wird viel Energie und Einsatz nötig sein, und wir werden ganz schön viel Bereitschaft erbringen müssen, unsere Positionen zu überdenken, auf andere zuzugehen und lieb gewonnene Reflexe aufzugeben. Es ist auch keineswegs gesagt, dass diese Anstrengungen wirklich gelingen und wir den überregionalen Zusammenschluss erreichen. Nötig jedoch ist er unbedingt, um eine Gegenmacht aufzubauen, die der sozialen Krise, der Aufrüstung der Staatsapparate, dem Erstarken der extremen Rechten und dem Klimawandel effektiv etwas entgegensetzen kann.
Anmerkungen:
[1] So zum Beispiel: Antifa Kritik & Klassenkampf, Der kommende Aufprall, 2015; Bremer Kollektiv, „Für eine grundlegende Neuausrichtung linksradikaler Politik“, 2015; Peter Schaber, „Vom Reden zum Tun“, 2018; Proletarische Autonomie Magdeburg und Finsterwalde, „Neue sozialrevolutionäre Bewegung“, 2018; LCM-Redaktion, „Kongress der Kommunen“, 2018; Vidar Lindström, „Gedanken zu einem Kongress der Kommunen“, 2018.
[2] Eine etwas ausführlichere Erörterung dieser anarchosyndikalistisch-rätekommunistischen Revolutionstheorie findet sich in Der kommende Aufprall der Antifa Kritik & Klassenkampf vom Jahre 2015 sowie in einigen Beiträgen von diskus 2/2016, die den kommenden Aufprall diskutieren.
[3] Triple Oppression heißt, dass es drei (oder mehr) Unterdrückungsformen gibt, die nicht aufeinander reduzierbar sind, nämlich diejenigen, die durch Rassismus, Sexismus und Klassenherrschaft entstehen.
Ergänzungen
Lesenswert, aber...
...warum wird das antinationale & antiautoritäre Ums Ganze Bündnis hier einfach komplett ausgeblendet?
Auch die transnationale
Auch die transnationale Plattform By 2020 We Rise Up fehlt hier, das als Klimagerechtigkeitsplattform startete und sich auf intersektionalistische Werte berufend öffnete: https://by2020weriseup.net