Revolutionär-antikapitalistischer Anspruch und bündnispolitische Wirklichkeit
Der Aufruf für die diesjährige Berliner 18 Uhr-Demo am morgigen 1. Mai trägt den Titel „Für die soziale Revolution weltweit!“. Im anschließenden Text wird dieser Anspruch nur insofern konkretisiert, als es dort heißt:
„Der Kampf gegen Antisemitismus, Rassismus, antimuslimischen Rassismus, Sexismus und gegen die Diskriminierung von LGBTQI (Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender, Queer, Questioning and Intersex) ist Teil des Klassenkampfs für die Abschaffung des Kapitalismus und für eine Gesellschaft ohne Ausbeutung des Menschen durch den Menschen. Grundlage einer Gesellschaft ohne Kapitalismus und Herrschaft ist die soziale Gleichheit aller Menschen, ohne die es keine solidarische Selbstbestimmung gibt. Unsere Solidarität gilt allen Menschen, die für einen radikalen Humanismus kämpfen und sich jeglicher Form von Menschenverachtung widersetzen.
Grenzenloser Widerstand
Gegen Krieg und Kapital“
Wir verstehen die Subsumtion des „Kampf[es] gegen Antisemitismus, Rassismus“ usw. unter „Klassenkampf für die Abschaffung des Kapitalismus und für eine Gesellschaft ohne Ausbeutung des Menschen durch den Menschen“ und die Schlußparole dahingehend, daß sich der revolutionäre Anspruch jedenfalls in erster Linie auf den Antikapitalismus bezieht.
Gemessen an diesem (eigenen) Anspruch der Demo erstaunt uns die Beteiligung mindestens zweier Gruppen an dem Bündnis...
...
– nämlich der Berliner Gruppen (1.) der internationalen, gegen Israel gerichteten Kampagne „Boycott, Desinvestitionen und Sanktionen“ (BDS) und (2.) der Struktur F.O.R. Palestine.
„Boycott, Desinvestitionen und Sanktionen“ (BDS)
BDS ist eine internationale, gegen Israel gerichteten Kampagne. Sie verfolgt keinen antikapitalistischen – geschweige denn revolutionär-antikapitalistischen – Anspruch. Auch unabhängig von den Zielen und Mitteln der Kampagne und der sonstigen Inhalte deren Öffentlichkeitsarbeit ist diese Kampagne damit unseres Erachtens in Bündnissen mit revolutionär-antikapitalistischem Anspruch fehl am Platze. Die gleiche Position hätten wir zu Zeiten der Apartheid auch in Bezug auf eine Kampagne zum Boykott Südafrikas vertreten.
Zu unterscheiden ist unseres Erachtens diesbezüglich zwischen
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der Kampagne selbst, die keinerlei revolutionär-antikapitalistischen Inhalt ausdrückt, sondern den Kauf von Waren der einen kapitalistischen Unternehmen oder Staaten dem Kauf von Waren anderer kapitalistischer Unternehmen und Staaten vorzieht,
und
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etwaigen Gruppen mit revolutionär-kapitalistischen Anspruch, die eine solche Kampagne – neben pro-kapitalistischen Kräften – unterstützen. Während für erstere Gruppen in einem revolutionär-antikapitalistischen Bündnis durchaus Platz ist, ist eine solche – organisatorisch verselbständige – Kampagne in revolutionär-antikapitalistischen Bündnissen fehl am Platze.
Hinzukommen spezielle Gründe bzgl. BDS, die uns zusätzlich darin bestärken, BDS im Bündnis für die 18 h-Demo, das sich zusätzlich zum revolutionären Antikapitalismus den „Kampf gegen Antisemitismus“ auf die Fahnen geschrieben hat, für fehl am Platze zu halten:
1. Ein Israel-Boykott ist zwar nicht das Selbe wie die historische Nazi-Parole „Kauft nicht bei Juden!“, aber dieser doch so ähnlich, daß jede Forderung nach einem Boykott Israels zumindest – mit einer nicht nur als Lippenbekenntnis vorgetragenen, sondern ausargumentierten und in der eigenen Kampagnen- und Bündnisarbeit umgesetzten – Abgrenzung von Antisemitismus einhergehen müßte. Daß dies bei BDS der Fall ist, können wir nicht erkennen.
2. Die Kampagne fordert nicht nur einen ökonomischen, sondern auch einen „akademischen und kulturellen Boykott“ Israels. Wir teilen diesbzgl. die Kritik des Blogs Freiheit und Glück, daß
„hier mit zweierlei Maß gemessen [wird]. Den Aktivist*innen käme es nicht in den Sinn, etwa den vollkommenen Boykott der BRD (die immerhin für die tausenden Toten jedes Jahr an den europäischen Außengrenzen hauptverantwortlich ist), von Saudiarabien (wo Homosexualität immer noch mit der Todesstrafe bedroht wird) oder der Türkei (über deren Vorgehen gegen Linke und Kurd*innen muss hier wohl nichts geschrieben werden) zu fordern. Die BDS-Bewegung dämonisiert Israel“.
Auf kritikwürdiges Verhalten Israels schärfer zu reagieren als auf anderes Fehlverhalten, hat es zumindest schwer, sich von Antisemitismus abzugrenzen. Die Vermutung liegt nahe, daß der Grund für diese besondere Schärfe nicht in der Sache selbst, sondern darin liegt, daß Israel ein Staat ist, in dem zu rund 80 % Juden und Jüdinnen leben.
3. In Texten, die von BDS veröffentlicht werden, wird die israelische Politik gegenüber den PalästinenserInnen als „Völkermord“ charakterisiert. Dies ist sowohl als politisches Schlagwort als auch als strenger juristischer Begriff nicht passend. Trotz der schlechten Lebensbedingungen der PalästinenserInnen, insb. im Gaza-Streifen, (für die allerdings nicht Israel allein, sondern die gesamte Konfliktdynamik zwischen Israel, den PalästinenserInnen und den arabischen Staaten verantwortlich ist), wächst die palästinensische Bevölkerung sowohl in Israel selbst als auch den Autonomiegebieten stark, und Arabisch ist zweite Amtssprache Israels. Eine Absicht zur Vernichtung des palästinensischen „Volkes“ ist weder im physischen Sinne noch auf kultureller Ebene zu erkennen.
In der Verwendung des Völkermord-Begriff liegt daher eine weitere Dämonisierung Israels – auch wenn zugestanden sei, daß es in der politischen Propaganda auch in anderen Konflikten eine Tendenz zur inflationären Verwendung des Völkermord-Begriffs gibt.
F.O.R. Palestine
Anders als BDS erhebt F.O.R. Palestine immerhin den Anspruch „strikt […] anti-kapitalistisch“ zu sein. Dieser Anspruch wird aber in dem „Über uns“-Text von F.O.R. Palestine in keiner Weise konkretisiert; auch die Wörter „revolutionär“ und „Revolution“ kommen dort nicht vor. Er ist insoweit kein Text von RevolutionärInnen, die bestimmte Teilforderungen von bürgerlichen NationalistInnen unterstützen und andere kritisieren (was richtig wäre), sondern (abgesehen von dem einen Halbsatz, in dem „anti-kapitalistisch“ steht) selbst ein bürgerlich-nationalistischer Text.
In dem Aufruf für einen „palästinensischen Block“ bei der diesjährigen LL-Demo wurde allerdings beansprucht:
„Der revolutionäre palästinensische Befreiungskampf ist ein Schlüsselelement im globalen Kampf gegen Imperialismus und Rassismus und kann dementsprechend von dem internationalen Kampf gegen den Kapitalismus nicht getrennt betrachtet werden.“
Dieser Anspruch wird in den anderen 4 Sätzen, 2 Überschriften und 2 Schlußparolen aber weder in Bezug auf den Kapitalismus im allgemeinen noch in Bezug auf den Klassenkampf in Israel, den besetzten Gebieten, der palästinensischen Diaspora noch in Bezug auf die deutsche Gesellschaft, sondern allein in Bezug auf den „Kampf für ein freies Palästina“ konkretisiert:
„Wie der anti-imperialistische Kampf zu Zeiten Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts, sieht sich auch heute der Kampf für ein freies Palästina mit Versuchen der Reform und Abmilderung von so genannten Unterstützern konfrontiert. Heute gehen wir auf die Straße um großen Revolutionär*innen zu gedenken, die den Gedanken der Reform nicht nachgegeben haben, und in Ehren ihres Erbes sagen wir: Keine Verhandlungen mit dem zionistischen Staat, keine Kompromisse mit dem Besatzer, kein Frieden, bis Palästina frei ist. Kein Ende dem Kampf, bis zur Abschaffung des Zionismus“
Dies mag vielleicht eine „nationalrevolutionäre“ Position sein, aber jedenfalls ist es keine revolutionär-antikapitalistische Position. Eine revolutionär-antikapitalistische Position kann sich nicht auf die Wörter „antikapitalistisch“ und „antiimperialistisch“ beschränken, sondern müßte sagen, was unter Kapitalismus verstanden wird und wie er bekämpft werden soll, denn „with the current, very grave crisis of capitalism the term ‚anticapitalist’ has come into fashion in the vocabulary of very diverse forces“ (Revolutionär-Sozialistischer Bund). Sich als „antikapitalistisch“ verstehende Positionen sind nicht notwendigerweise revolutionär und nicht einmal notwendigerweise klassenkämpferisch. Viele verstehen unter „Kapitalismus“ bloß den Neoliberalismus und verwenden für die sog. „soziale Marktwirtschaft“ der fordistischen Zeit nicht den Begriff „Kapitalismus“; viele von diesen wollen nicht den „Klassenkampf für die Abschaffung des Kapitalismus“ (Demo-Aufruf) führen, sondern wünschen sich eine Rückkehr zur sog. „Sozialpartnerschaft“ früherer Zeit. Auch Rechte und AntisemitInnen sprechen in demagogischer Weise von „Kapitalismus“ und „Antikapitalismus“. Deshalb ist größtmögliche Klarheit geboten, wenn dem Anspruch der 18 h-Demo, eine „revolutionäre“ Demo zu sein, gerecht werden und „für eine Gesellschaft ohne Ausbeutung“ gekämpft werden soll. Hinsichtlich Rechten und AntisemitInnen ist eine solche Klarheit umso mehr geboten, wenn zugleich beansprucht wird, „gegen Antisemitismus, Rassismus, antimuslimischen Rassismus, Sexismus und gegen die Diskriminierung von LGBTQI“ zu kämpfen.
Auch im Falle von F.O.R. Palestine kommen weitere Gründe hinzu, die uns darin bestärken, F.O.R. Palestine im revolutionären 1. Mai-Bündnis für fehl am Platze zu halten.
1. Die Gruppe fordert nicht etwa eine sozialistische 1-Staaten-Lösung für Israel/Palästina, auch nicht irgendeine andere Einigung zwischen der jüdischen und palästinensischen Seite des Konflikts, sondern eine einseitige Abschaffung Israels, ohne die ökonomische Gesellschaftsform des neuen Staates zu spezifizieren. Die Abschaffung Israels wird als Sieg über Israel nach dem Vorbild der Siege über Faschismus und Kolonialismus gedacht:
„Die Abschaffung zionistischer Kontrolle bedeutet eine Entkolonisierung und Entzionisierung Palästinas. Diese beinhalten schwierige und lange Prozesse, sie ähnlich denen, die wir nach dem Fall faschistischer oder kolonialistischer Regime aus der Geschichte kennen. Diese Prozesse können nur als Teil eines Kampfes stattfinden, [...].“
In einem anderen Text von F.O.R. Palestine werden „Verhandlungen mit dem zionistischen Staat“ ausdrücklich abgelehnt. Demgegenüber sind wir der Ansicht, daß solange es um eine bürgerliche Abschaffung Israels geht, es einen Unterschied ums Ganze macht, ob diese Abschaffung einseitig und mit „alle[n ...] Mittel[n]“ (F.O.R. Palestine) von der palästinensischen Seite durchgesetzt werden soll oder ob wohlkalkulierte (!) Militanz dazu dienen soll, zu einer Friedenskonferenz zu kommen, in der vereinbart wird, wie
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sowohl die Sicherheitsinteressen der jüdischen Bevölkerung in Israel/Palästina befriedigt werden
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als auch die Lebensbedingungen der dortigen palästinensischen Bevölkerung der jüdischen Bevölkerung angeglichen werden können.
Selbstbestimmungsrecht
Wer innerhalb der herrschenden internationalen Rechtsordnung mit dem Selbstbestimmungsrecht der PalästinserInnen argumentiert, muß sich auch selbst an diesem Maßstab messen lassen und – auch wenn nicht alle Juden und Jüdinnen ihre jüdische Identität in Bezug auf Israel definieren – auch das Selbstbestimmungsrecht der israelischen Juden und Jüdinnen anerkennen.
Lenin scheint zwar das Recht auf „nationale Lostrennung“ ausschließlich „unterdrückten Nationen“ zugesprochen zu haben. Im Falle Israels geht es aber nicht um das Recht auf Lostrennung, sondern um die Weiterexistenz eines seit mehr als 65 Jahren existierenden Staates. Weder hat Lenin die Entstehung von Staaten noch deren Fortexistenz daran gemessen oder überprüft, ob sie nach ihrer Gründung ‚unterdrückerisch’ wurden. Auch hat keine uns bekannte nationale Befreiungsbewegung die Abschaffung der jeweiligen Kolonialmacht angestrebt, sondern sie haben die Beendigung des Kolonie-Status des Gebietes, das jeweils befreit werden sollte, angestrebt.
2. In dem von F.O.R. Palestine angestrebt neuen Staat sollen nur „nichtzionistische Jüd_innen“ gleichberechtigt leben können; eine analoge Beschränkung auf „nicht antisemistische Palästinenser_innen“ wird nicht formuliert:
„Die Rückkehr der Vertriebenen geht einher mit der Abschaffung der zionistischen Kontrolle, sprich die Abschaffung des Staates Israel samt seines Systems der Privilegien und der Wiedergründung eines gleichberechtigten, freien und demokratischen Staates vom Jordan bis zum Mittelmeer, in dem Exilpalästinenser_innen und nicht-zionistische Jüd_innen in einer gerechten Gesellschaft leben können.“
3. Statt dessen wird bestritten, daß es überhaupt arabischen Antisemitismus gibt, und Antisemitismus zu rein europäischen Phänomen erklärt:
„dass Antisemitismus als Judenhass, also als Diskriminierung einer ethnischen und religiösen Minderheit [… ist], ein europäisches Phänomen ist.“ / „Der wiederholte Versuch, arabische Menschen als Antisemiten darzustellen, bedient bei der deutschen Gesellschaft ein klares Bedürfnis, nämlich ihre eigene Vergangenheit dadurch zu relativieren, und die Fackel des Antisemitismus weiterzugeben und loszuwerden.“
Auch keine von nicht-deutscher Seite zurecht erhobenen Antisemitismus-Vorwürfen gegen arabische Menschen oder Organisationen werden erwähnt.
Diese Auffassung kann als nur als Apologie des auch in arabischen Gesellschaften vorhandenen Antisemitismus verstanden werden. Damit ist F.O.R. Palestine in einer Demo, die – wie die 18 h-Demo – beansprucht, Antisemitismus zu bekämpfen, fehl am Platze.
Voraussetzungen einer 1-Staaten-Lösung
Eine 1-Staaten-Lösung setzt unseres Erachtens Bekämpfung von Antisemitismus auf der palästinensischen Seite, eine Relativierung nationaler Interessen und Zugehörgkeitsgefühle auf beiden Seiten und in diesem Kontext bi-nationale politische Organisierung von Linken bereits bei Propagierung einer solchen Lösung voraus.
Darüber hinaus ist von KommunistInnen auch in der sog. „nationalen Frage“ „ausgehen: [...] von einer klaren Herauslösung der Interessen der unterdrückten Klassen, der Werktätigen, der Ausgebeuteten, aus dem allgemeinen Begriff der Volksinteressen schlecht hin; […].“ (LW 31, 133).
In diesem Sinne sprechen wir uns für emanzipatorischen Antiimperialismus aus, der auf der Linie der von Lenin entworfenen Aufnahmebedingungen der KomIntern
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politische Bündnisse im antiimperialistischen Kampf auf solche „mit der bürgerlichen Demokratie“ (LW 31, 138) begrenzt, aber keine politischen Bündnisse mit – sich als antiimperialistisch verstehenden und anderen – Reaktionären eingeht
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und auch in solchen zeitweiligen (!) Bündnissen „unbedingt die Selbständigkeit der proletarischen Bewegung – sogar in ihrer Keimform – wahrt“ (ebd.) und, so ist dem Diskussionsstand der KomIntern hinzuzufügen, auch die Kämpfe gegen Patriarchat sowie Rassismus und Antisemitismus zur Geltung bringt.
Der vorliegende Text wurde von Peter Nowak, Achim Schill und Detlef Georgia Schulze verfaßt. Letztere beide betreiben zusammen den blog http://plaene.blogsport.eu/ [Pläne über Pläne. Plan A, B, C, … Strategieforum (– under construction –) für radikale und revolutionäre Linke in der BRD]. Texte des Ersteren finden sich in seinem Blog http://peter-nowak-journalist.de/. – Eine Langfassung dieses Artikels, in der sich auch Links zu den zitierten Texten finden, ist bei linksunten veröffentlicht: https://linksunten.indymedia.org/de/node/177137.
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