Ein Flüstern aus dem Nirgendwo
Grussworte aus dem Nirgendwo
Liebe Freund*innen und Gefährt*innen,
Ich trage den Gedanken, mich wieder einmal bei euch zu melden, schon sehr lange mit mir herum. Egal wo ich war, egal was gerade anstand, egal welchen Widrigkeiten oder schönen Erlebnissen ich außerhalb des physischen Knastes begegnete – immer verspürte ich den Drang, euch daran teilhaben zu lassen. Seid ihr doch ein unentbehrlicher Teil meines Lebens, der tiefe Wurzeln in meinem Herzen geschlagen hat.
Doch jedes Mal, wenn ich mich vor das leere Blatt Papier setzte, entglitt mir die Fähigkeit zu schreiben. Zu erzählen. Jedes Mal verstummte ich und wurde traurig. Wie können Worte wirklich vermitteln, was ich fühle? Mit dieser Frage quälte mich mein Geist immerzu, wenn ich an meinem Schreibtisch sass und auf das leere Weiss vor mir starrte. Und während ich um Buchstaben rang, drehte sich die Welt auf einmal schneller und blieb dann abrupt stehen. Hätte mir Anfang Februar dieses Jahres ernsthaft jemand weismachen wollen, dass durch das Virus im chinesischen Wuhan die halbe Welt binnen weniger Wochen unter eine Glashaube gestellt werden würde, hätte ich lachend den Kopf geschüttelt. Doch da sind wir nun, inmitten eines autoritären Prozesses der radikalen Umgestaltung des Status Quo.
Zurück zur alten Normalität!, klagen die reaktionären Nostalgiker*innen. Immer nur daran interessiert, den eigenen Arsch ins Trockene zu bringen und dann die Tür so schnell wie möglich wieder zu verriegeln.
Vorwärts zur neuen Normalität!, predigen die liberalen Kybernetiker*innen. Aufgeweckte Helferlein des Staates, stets angetrieben durch gute Absichten…
Und was tun die Herrschenden? Sie sind sich uneinig, einig, zögernd, entschlossen, totalitär, vernünftig, wissenschaftlich, religiös… die Palette ist endlos und beschreibt doch immer nur dasselbe – sie handeln nach der Maxime der Machterhaltung. Immer und ausschließlich.
Die Frage „alt“ oder „neu“, oder anders ausgedrückt; die Frage, wie wir verwaltet und im Zaum gehalten werden wollen, ist nicht die Frage, die Individuen, die nach Selbstbestimmung trachten, interessieren sollte. Wie wir uns dem Diktat der Gesetze und Wertvorstellungen entgegenstellen, dieses mit Gedanken und Dynamit sabotieren und somit eine Lücke für Neues eröffnen können – das ist Musik für die Ohren, die auf der Suche nach der Erde unter dem Asphalt sind.
Ich befinde mich nun seit bald 4 Jahren auf der Flucht, was mir die Möglichkeit verwehrt, diese brisanten Fragen mit euch zu diskutieren, Thesen mit euch aufzustellen und wieder zu verwerfen, Ansätze mit euch herauszuarbeiten und diese mit dem Herzen in der Hand zu testen. Das betrübt mich natürlich. Denn eine solche gemeinsame Auseinandersetzung würde ja bedeuten, dass ich euch sehen, hören, riechen und spüren kann. Und ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie sehr ich diese Unmittelbarkeit – wie sehr ich euch alle vermisse!
Aber hey, ich bin zwar nicht bei, dafür aber neben euch – auf einem Schleichweg im Nirgendwo, von dem aus ich euch zuwinke und die wärmsten Grussworte zuflüstere. Lasst uns der plätschernden Zeit nicht erlauben, sich zwischen uns zu drängen und unsere gemeinsamen Erfahrungen und Erlebnisse nach und nach auszubleichen.
Ich bin froh, dank euch meine geliebten Worte und die Erzähllust wiedergefunden zu haben, ihr seid wunderbar.
Wir hören uns.
In Solidarität und freiheitsliebender Verbundenheit
Euer Freund und Gefährte aus dem Nirgendwo
Mitte Mai 2020