Notstand – was ist das eigentlich?
Hier ist in den letzten Tagen im Kontext der Maßnahmen gegen die SARS-CoV-2-Pandemie öfter von „Notstand“ und „Ausnahmezustand“ gesprochen worden [*]; anderenorts wird auch konkret auf die Notstandsgesetze der 60er Jahre Bezug genommen [**]. Bevor gewagte historische Vergleiche gezogen und leichtfertig Etiketten verklebt werden, sollte sich aber vergewißert werden: Not- und Ausnahmezustand – was ist das eigentlich? Notstandsgesetze der 60er Jahre – was steht eigentlich drin?
Die verfassungsändernden „Notstandsgesetze“ von 1968
I. Streichungen / Ersetzungen
1.
Artikel 59a (Feststellung des Verteidigungsfalls)
ersetzt durch Artikel 115a
2.
Artikel 65a Absatz 2 (Kommandogewalt)
ersetzt durch Artikel 115b
3.
Artikel 73 Nr. 1 (Wehrpflicht)
Teil-Ersetzung durch Artikel 12a Absatz 1
4.
Artikel 143 (Bundeswehr-Einsatz im Innern)
ersetzt Artikel 35 Absatz 2 sowie Absatz 3 und Artikel 87a Absatz 4
5.
Artikel 142a (u.a. Europäische Verteidigungsgemeinschaft)
ersatzlos gestrichen
II. Änderungen und Einfügung
1. - 11.
Einfügung von Abschnitt Xa. („Verteidigungsfall“) (elf Artikel: Artikel 115a - Artikel 115l)
12.
Artikel 12a (Dienstpflichten)
13.
Artikel 80a („Spannungsfall“)
14.
Artikel 53a (Gemeinsamer Ausschuß)
15.
Artikel 87a (Aufstellung von Streitkräften und deren Einsatz): Erweiterung um Absatz 2 - 4
16.
Artikel 91 (‚innerer Notstand‘): Änderungen und Ergänzungen
17.
Artikel 9 Absatz 3 Satz 2: Schutz von Arbeitskämpfen gegen die Anwendung von Notstandsmaßnahmen
18.
Artikel 20 Absatz 4: Widerstandsrecht
19./
20.
Artikel 10 Absatz 2 Satz 2 / Artikel 19 Absatz 4 Satz 3 : Abhören zum Schutze der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung“
21.
Artikel 12 (Berufsfreiheit): Verschiebung von Text nach Artikel 12a und Einfügung der Wörter „oder aufgrund eines Gesetzes“
22.
Artikel 11 (Freizügigkeit): Ausbau der Schranken-Regelung in Absatz 2 (der Seuchen-Vorbehalt stand aber schon in der ursprünglichen Grundgesetz-Fassung von 1949)
23.
Artikel 35 Absatz 2 (heute: Satz 2) sowie Absatz 3: Einfügung zum ‚Katastrophennotstande
Alles Weitere:
Siehe .pdf-Anhang
[*] Siehe zum Beispiel:
-
„Sie [Bestimmte Maßnahmen] zielen vielmehr auf die komplette Kontrolle der Menschen ab und machen nur im Kontext von Notstand und autoritärer Formierung ‚Sinn‘.“ (Aufruf zum verantwortungsvollen Bruch der Ausgangssperre!, in: de.indymedia vom 21.03.2020)
-
Plakatserie gegen den Ausnahmezustand (in: de.indymedia vom 30.03.2020)
-
„umfassende und feinst-granulare Bevölkerungsvermessung eröffnet (zunächst) für den deklarierten Ausnahmezustand einen maßgeschneiderten Zugriff auf individuell zugestandene bzw. entziehbare Bevölkerungsrechte, der sich nicht mit den bisher bekannten Maßnahmen einer für alle geltenden Allgemeinverfügungen begnügt.“ (capulcu: Die Corona-Krise, in: de.indymedia vom 24.03.2020)
[**] „Zentrale Grund- und Bürger*innenrechte wie beispielsweise die Versammlungs- und Bewegungsfreiheit wurden in den letzten Wochen außer Kraft gesetzt, die Entscheidungsbefugnisse der Parlamente ausgeschaltet. Erschreckend dabei ist zudem, dass es absolut unklar ist, wie lange dieser faktische Ausnahmezustand anhält – […]. Nicht umsonst hat eine ganze politische Generation 1968 leider erfolglos gegen die Beschließung der Notstandsgesetze gekämpft.“ (Solidarität statt Ausgangssperre vom 22.03.2020; https://rote-hilfe.de/news/bundesvorstand/1043-solidaritaet-statt-ausgangssperre)
„Wer die Staatsapparate zum Notstand aufruft, leidet an einer historischen Amnesie und hat vergessen, dass der Kampf gegen die Notstandsgesetze ein wesentliches Schwungrad für die Konstituierung einer Neuen Linken ab Mitte der 1960er Jahre war.“ (Peter Nowak, Die Angst-Reaktion. In Zeiten von Corona verkommen Angst und Notstand leicht zur Normalität, in: rubikon vom 20.03.2020).
Siehe zu Letzterem meine Replik: @ Corona-Pandemie: Über schiefe Vergleiche. Wider das – vermeintlich kritische – Notstands- und Ausnahmezustands-Gerede, in: trend 4/2020; http://www.trend.infopartisan.net/trd0420/t310420.html.