Ein Monat nach Hanau: 20 Thesen, wie es weitergehen muss!
Die gesellschaftlich-materiellen Bedingungen migrantischen Lebens
1- In einer Zeit, in der die imperialistische Globalisierung die Produktion und Ausbeutung in einem Weltmarkt vereint, alle Staatsgrenzen für das Kapital geöffnet und die Welt zu einem "Dorf" gemacht hat, ist globale Migration zu einem charakteristischen Merkmal geworden. Während die nationalen Grenzen für das Kapital geöffnet wurden, wurden und werden weiterhin die Mauern gegen die Migrant*innen erhöht. Während vorher Menschen aus den Neokolonien in die imperialistischen Zentren getragen wurden (Gastarbeiter), um billige Arbeitskraft zu haben, werden heute die Fabriken und Produktionsstätten in die Neokolonien "exportiert".
2- Die Weltwirtschaftskrise 2007/2008 hat eine existenzielle Krise des Kapitalismus offengelegt. Die strukturelle Krise ist eine umfassende Krise der bürgerlichen Gesellschaftsformation. Wirtschaftlich hat der Kapitalismus seine materielle Grundlage für die erweiterte Reproduktion verloren. Die ideologische Krise des Kapitalismus ist eine Hegemoniekrise: Der Neoliberalismus schafft Lebensumstände, die seine Existenz immer mehr in Frage stellen und als Bedrohung wahrnehmen, "Zukunftslosigkeit" zeichnet sich als charakteristische Vorstellung in den Reihen der Arbeiter*innen und Unterdrückten ab. Die politische Krise umfasst die Krise des bürgerlichen Staates und seiner Parteien, als auch die Formen des Protests und Aufstands der Unterdrückten. Mit Gramscis Worten ist die "alte Welt gestorben und die neue noch nicht geboren. Es ist die Zeit der Monster." Sowohl die Konkurrenz innerhalb imperialistischer Kräfte, als auch die Krise der bürgerlichen Staaten schaffen die Grundlage für reaktionäre Bürgerkriege, regionale Kriege, ja sogar Weltkriege. Die anhaltende Krise seit Sommer 2015, die als "Flüchtlingskrise" definiert wird, ist eigentlich jene politische Krise der Europäischen Union.
3- Mit der existenziellen Krise des Kapitalismus ist unsere Welt zu einem Ort von "Krieg, Krise und Chaos" und damit auch die Fluchtursachen komplexer und vielschichtiger geworden. Während auf der einen Seite reaktionäre Tendenzen (neofaschistische Bewegung, politisch-islamische Organisationen, militärische Junta etc.) stärker werden, zeichnen sich volksnahe und fortschrittliche Bewegungen immer weiter aus (Aufstände überall auf der Erde, die Revolution in Rojava etc.). Migration zeichnet sich immer weiter als eine spontane Form des Klassenkampfes von Arbeiter*innen und Unterdrückten der Neokononien gegen die "Ordnungschaffenden" dieser Erde aus.
4- Unter den Umständen der politischen Krise greifen die bürgerlichen Staaten - auch die imperialistischen Zentren die politischen Freiheiten und Grundrechte von uns an. Die "äußere" und "innere" Aufrüstung wird erhöht. Während die neofaschistischen Parteien Teil der "normalen bürgerlichen" Politik gemacht werden, rücken die bürgerlichen Parteien nach "rechts". Obwohl diese Tendenz nicht nur die Migrant*innen betrifft, sind sie die als erste und am meisten betroffene gesellschaftliche Schicht. "Innere" Aufrüstung fängt mit den Geflüchteten und Migrant*innen an (Kontrollen, Kriminalisierung von Stadtteilen und Strukturen, Verbot von Organisationen, Einschränkungen von Grundrechten etc.).
5- Die Migrant*innen, vor allem die Geflüchteten werden objektiv destrukturalisiert und atomisiert. Während faschistische Strukturen problemlos innerhalb und außerhalb des Staates arbeiten, paramilitärische faschistische Strukturen in Osteuropa ausgebildet werden, wird die Selbstorganisierung der Geflüchteten "objektiv" beinahe unmöglich gemacht. Die restriktive (menschenverachtende) Politik in den Geflüchtetenheimen, die Kriminalisierung von Geflüchteten- und Migrant*innenverbänden, der strukturelle und staatliche Rassismus, die faktische Aberkennung der Grund-/Freiheitsrechte von Geflüchteten sind nur die ausschlaggebendsten unter den Faktoren.
6- Während der strukturelle Rassismus weiter anhält, hat der neofaschistische Aufstieg seit Sommer 2015 eine neue Zeit des faschistischen Angriffs geschaffen. Sowohl der parlamentarische Arm, als auch die Massenbasis und der militärische Arm "sammeln nicht nur Kräfte", sondern "greifen auch an". Vorrangiges Ziel des Angriffs sind die Migrant*innen als gesellschaftliche Schicht, aber auch die fortschrittlichen Teile der Arbeiter*innenklasse und Unterdrückten, die für die Befreiung der Frau*, das Ende der ökologischen Krise und demokratische und freiheitliche Rechte einstehen.
Die Migrant*innen und die antifaschistische Bewegung
7- Sowohl die migrantische Selbstorganisierung, als auch der Anteil von Migrant*innen innerhalb der Organisationen und Parteien der werktätig-linken Bewegung und der antifaschistischen Strukturen ist schwach. Der Anteil von Migrant*innen in Gewerkschaften und Interessenvertretungen (SV's, StuPa's etc.) liegt weit unter dem gesellschaftlichen Anteil.
8- Während sich ein Teil der Migrant*innen mit der "Integration" in die "ordentliche" bürgerliche Politik Mitsprache und eine "Zukunft" erhofft, bleibt der große Teil unpolitisch. Vor allem junge Migrant*innen schaffen sich ein Leben jenseits des politischen Lebens. Meist aber bleiben sie "unter sich", schaffen eine eigene Kultur. Sie führen einen "Kampf" für ihre individuelle Befreiung in dieser rassistischen Gesellschaft.
9- Viele migrantische Selbstorganisierungen (wie Integrationsvereine, religiöse Gemeinden etc.) sind Strukturen, in denen Migrant*innen zwar zusammen kommen, die aber keinen vereinten migrantischen Ausdruck schaffen können, allein weil sie nicht "unabhängig" sind, sondern bestimmten Interessen folgen (müssen).
10- Die revolutionäre migrantische Bewegung hat eine lange Tradition, die bis zu den ersten Gastarbeiter*innen in den frühen 80'ern reicht. Vor allem die politische Flucht aus der Türkei Anfang der 90'er hat den Zulauf in die politische migrantische Bewegung verstärkt. Zu der Zeit wurden auch die afrikanische, tamilische, palästinensische, iranische und lateinamerikanische Bewegung immer stärker. Die kurdische Freiheitsbewegung ist die größte revolutionäre Selbstorganisierung von Migrant*innen. Noch heute ist die migrantische Welle der 90'er die hauptsächliche Masse der revolutionären migrantischen Bewegung.
Die Bewegung steht vor dem strukturellen Problem, die Selbstorganisierung von Migrant*innen nicht ständig erweitert zu haben.
Das umfassende Verständnis, wie der bürgerliche deutsche Staat migrantische "Gast"arbeiter*innen von der Arbeiter*innenklasse "gespalten" hat und die "verschiedenen" Identitäten der neuen Generationen, die alle eine andere Beziehung zu den "Heimat"ländern haben konnte organisatorisch leider noch nicht realisiert werden. Die politische und organisatorische Beantwortung jener Frage wird ein großes Potenzial offenlegen, die den antirassistischen Kampf sprunghaft weiterentwickeln wird.
11- Die antifaschistische Bewegung in Deutschland ist eine weitgehend aktionsbeschränkte und lokale Bewegung. Die allzuoft diskutierte Krise der antifaschisischen Bewegung hat weiterhin zwei Ebenen. Die theoretische Krise der Bewegung rührt aus dem beschränkten Verständnis über die gesellschaftlich-politischen Grundlagen des Neofaschismus, seine Entwicklung als vereinte Bewegung von Parlamentarismus, Massenorganisation und Miliz, seine Beziehungen zum bürgerlichen Staat und seine regionale (sogar globale) Vernetzung. Die organisatorische Krise hat ebenfalls zwei Ebenen. Zum einen umfasst sie die quantitativen organisatorischen Mängel für eine bundesweite antifaschistische Gegenstrategie, zum anderen die Schwäche bei der Organisierung und Schaffung eines vereinten antifaschistischen Kampfes.
12- Der Staat mit allen Organen ist eine Stütze der rassistischen Gesellschaft. Es gibt eine kontinuierliche rassistische und faschistische Linie innerhalb des deutschen Staates, deren organisierteste Struktur der Verfassungsschutz ist. In der Polizei und Bundeswehr gibt es organisierte faschistische Strukturen, die "bereit" sind. Die Grundlagen des "reformistischen" oder "staatlichen" Antifaschismus lösen sich jeden Tag weiter auf. Der Kampf gegen Neofaschismus und Rassismus deckt sich mit dem Kampf gegen die Tiefen des bürgerlichen Staates immer mehr.
Unsere nächsten Aufgaben
13- Migrantische Selbstorganisierungen dürfen sich nicht nur auf "bestimmte" Interessen beschränken, sondern müssen im Namen aller Migrant*innen, als Vertreter*innen von Migrant*innen auftreten und Politik machen. Die politische Massenarbeit unter Migrant*innen auf antirassistischer Basis ist heute eine der strategischen Aufgaben des Klassenkampfes in Deutschland.
14- Der Begriff #Migrantifa ist aus zweierlei Gründen zu gebrauchen: Erstens hebt dieser Begriff hervor, dass die Migrant*innen vorrangiges Ziel des neofaschistischen Aufschwungs sind. Zweitens betont der Begriff die Dringlichkeit und Aktualität migrantischer Organisiertheit. #Migrantifa spaltet nicht, sondern ist ein Ergebnis der Bedürfnisse des antifaschistischen Kampfes. Sie ist zudem ein Ausdruck der Notwendigkeit, dass Migrant*innen zu einer leitenden Dynamik des antirassistischen Kampfes werden.
Für die migrantische revolutionäre Bewegung ist sie ein Aufruf, die eigene Existenz nicht zum Selbstzweck zu machen, sondern aufzugehen in der dynamischen Massenarbeit unter Migrant*innen, vor allem der migrantischen Jugend und für die antifaschistische Bewegung im Allgemeinen, die eigenen Gewohnheiten, die ihnen aus dem Schoße der rassistischen Gesellschaft "übergeben" wurden, zu bekämpfen, sich den migrantischen Jugendlichen, Arbeiter*innen und Unterdrückten zu "öffnen".
15- Eine rein akademische Empowerment-Diskussion im Rahmen der Selbstorganisierung von "PoC" ist gleichenfalls dekonstruktiv. Leider müssen wir diese Tendenz innerhalb der antirassistischen Bewegung, die vor allem von akademisch-studentischen Kreisen getragen wird, die Treffen gestalten wie Soziologie-Kurse, als eines der "Überbleibsel" offen decken. Diese Tendenz führt im besten Fall zu einer Selbsorganisierung der akademischen (linken) migrantischen Jugend, die aber in der gesellschafts-politischen Realität, ganz zu Schweigen im praktischen Kampf gegen den Faschismus eine schwache Rolle übernehmen kann.
16- Das Hauptproblem die niedrige Organisiertheit der Migrant*innen. Die migrantische Selbstorganisierung auf allen Ebenen des politischen Kampfes ist in einer rassistischen Gesellschaft legitim und politisch richtig. Trotzdem ist die antirassistische Frage eben eine gesellschaftliche Frage und alle "linken" Räume müssen sich dementsprechend hinterfragen. Die Organisationen, die sich die Aufgabe setzen, die gesellschaftliche Schicht der Migrant*innen als politische Kraft zu organisieren, müssen dies immer mit der Perspektive des vereinten antifaschistischen Kampfes führen.
17- Migrantische Selbstorganisierung ist wichtig. Sie kann aber nur erfolgreich sein, wenn sie Teil einer vereinten antifaschistischen Aktion ist. Die rassistische Gesellschaft gibt dem "Deutschen" zwar Vorteile, der Faschismus ist aber eine gesamtgesellschaftliche Strategie der Bourgeoisie. Die revolutionäre Bewegung in Deutschland egal welcher Nation ist gleichviel Subjekt im Kampf gegen den faschistischen Aufstieg wie Migrant*innen.
18- Der Neofaschismus ist ein regionales, sogar globales Phänomen und die Vernetzung ebenso. Nur die aktuellen Entwicklungen an der griechischen Außengrenze zeigen, dass Neofaschismus regional vernetzt und organisiert ist. Genau so, wie sich antifaschistischer Kampf bis zu den europäischen Außengrenzen "regionalisiert" werden muss, ist es wichtig "gewonnene" politische Rechte gegen die Angriffe der Herrschenden zu verteidigen.
19- Der Aufbau migrantischen Selbstschutzes als Teil des antifaschistischen Selbstschutzes ist wichtiger Bestandteil der Gegenstrategie. Denn im Gegensatz zu den Faschisten sind die Migrant*innen als vorrangiges Ziel "unbewaffnet". Kollektive Mechanismen für den Schutz von Migrant*innen müssen aufgebaut, dieses Bewusstsein muss unter den Migrant*innen geschaffen werden.
20- Angst und Hilfslosigkeit als eine Reaktion unter Migrant*innen (vor allem nach Massakern wie in Hanau) sind verständlich. Diese Gefühle ernähren sich vor allem von Unorganisiertheit. Wenn die antifaschistische und migrantische Bewegung aus der passiven Position ausbrechen will, muss sie ihre und die kollektive Unorganisiertheit überwinden. Nur bewusste und gezielte Aktion kann Passivität zerschlagen: Raus aus der Schutzlosigkeit!
* Um der Einfachheit halber wurde der Begriff "Migrant*innen" benutzt. Hier umfasst er auch "Menschen mit Migrationshintergrund".