Die „wehrhafte Demokratie“ (Palmer) entscheidet für Amazon – und leitet Verfahren gegen die Kritiker*innen ein
Eine Antwort auf die Berichterstattung im Schwäbischen Tagblatt zu den Protesten gegen Amazon
Holla, die Waldfee! Boris Palmer (Oberbürgermeister von Tübingen) besinnt sich auf die „wehrhafte Demokratie“ und lässt Verfahren einleiten gegen Menschen, die „Gemeinderäte unter Druck ... setzen. Der Staat darf sich hier nicht schwach oder unentschieden zeigen. Das muss Konsequenzen haben.“
Da dürften doch einige Leute kurz mal erschrocken sein, als sie das lasen. Rechtsradikale, die Morddrohungen gegen Lokalpolitiker aussendeten etwa oder rechtsextreme Netzwerke in Polizei, Geheimdiensten und Militär. Doch sie waren mit der Vokabel der „wehrhaften Demokratie“ - wie immer - nicht gemeint. Auch im Rektorat der Universität mögen einige kurz bleich geworden sein. Schließlich hatte man hier - zwei Tage vor der Gemeinderatsentscheidung - noch eine eilige Pressemitteilung herausgegeben, in der „die Universität an alle politisch Verantwortlichen in der Stadt Tübingen appelliert, sich für eine Stärkung des Forschungsstandortes zu entscheiden“, da „die Folgen einer ablehnenden Entscheidung gegenüber Amazon derzeit unübersehbar“ seien. Studierende antworteten darauf mit einer eigenen Pressemitteilung: „Das Rektorat spricht nicht für die Universität!“ (https://www.blochuni.org/Kupferbau/2019/11/14/das-rektorat-spricht-nicht...).
Doch da hätten sich Palmer und Tagblatt-Leiter Stegert selbst als Ziel der „wehrhaften Demokratie“ sehen müssen, denn mit ihrer lokalpatriotisch-nationalistischen Argumentation hatten sie schon Monate zuvor den Gemeinderat bearbeitet und - mehr noch vielleicht als einzelne Protestierende während der Sitzung - unter Druck gesetzt. So schrieb Stegert in seiner „Berichterstattung“ über die Entscheidung des Gemeinderates zum Bosch-Forschungszentrum im Cyber Valley: „Denn KI-Forschung auf Weltniveau gehe in Deutschland nur in Tübingen, sagte Palmer. Insofern habe die Stadt eine bundesweite Verantwortung für zehntausende, ja hunderttausende Stellen. Klingt großspurig, stimmt aber.“ An vielen anderen Orten wurde die „Verantwortung“ für „Deutschland“ oder „Europa“ betont, die es notwendig mache, Amazon und das ganze Cyber Valley hier in Tübingen anzusiedeln und dafür eben lokale Auswirkungen auf den Wohnungsmarkt, den Verkehr, die Stadt und die Universität im Sinne der „Zukunftsfähigeit“ und des nationalen bzw. europäischen Interesses hintenanzustellen. Wie hieß es so schön in der Pressemitteilung der Uni-Leitung: „sachfremde Erwägungen“ wie die „Arbeitsbedingungen und die Entlohnung in Amazon-Logistikzentren“ oder die „Besteuerung von multinationalen Internetkonzernen“ werden „nicht in Tübingen entschieden“ - dafür aber die Zukunft Deutschlands und die Rolle Europas in der Welt.
Irre, aber die Feind*innen der Demokratie werden konsequent nicht in jenen Akteuren gesehen, die mit nationalistisch-patriotischen Scheinargumenten - basierend auf den Prognosen von Venture-Kapital - den Gemeinderat unter Druck setzen, der irrsinnigen Ansiedlung von Amazon und dem Verkauf städtischer Flächen für 0.5 Mio Euro zuzustimmen. Die Feind*innen der Demokratie werden nicht in denen gesehen, die sich unter dem Druck (oder der Entlastung) dieser Argumente gegen das klare Votum (1:4) des Ortsbeirates Nord richten, der Bautätigkeiten, Verkehrsaufkommen und allgemein die infrastrukturelle Überlastung bereits jetzt bemerkt – und dem klarer ist, dass das nur der Anfang des Cyber Valley ist.
Stattdessen werden diejenigen, die im Gemeinderat gegen Amazon protestiert haben, nun als Feinde definiert, denen die „wehrhafte Demokratie“ entgegentreten müsse – und zwar in Form von Strafverfahren.
Das Max-Punk-Institut begrüßt diese Ankündigung. Sie offenbart die „wehrhafte Demokratie“ als ein System, das sich gegen Ausbeutung und Steuerflucht, Rechtsradikalismus und Nationalismus als inkompetent erweist und stattdessen – zumindest nach Ansicht Palmers – dort greift, wo Menschen für ihre Interessen solidarisch kämpfen. A Propos solidarisch: Wir mixen schon jetzt die Cocktails für die Prozesskosten und freuen uns – auch deshalb – auf den weiteren Verlauf der Auseinandersetzung: Gegen das Cyber Valley und den Ausverkauf der Stadt!