13. Juni 2008: Verbot des kurdisch-dänischen Fernsehsenders Roj TV und seiner Wuppertaler Produktionsfirma V… GmbH

Regionen: 
Bild "Roj TV verboten in BRD"

 

Pressefreiheit in Deutschland: Medienunternehmen sind – verbotsfähige – Vereine :o

 

Vor fast zwei Jahren hatte das Bundesinnenministerium (BMI) die – auch von Linksradikalen genutzte – internet-Plattform linksunten.indy­media als „Verein“ verboten. Die juristischen Laien und Laiinnen, die sich aus technik-/internet-affiner Sicht mit dem Verbot befaßt hatten, hatten sich damals, im August 2017, eh gewundert: Denn es gab auch vor dem Verbot keinen eingetragenen Verein „linksunten.indymedia“.1 Diejenigen, die wußten, daß der Vereins-Begriff des deutschen Vereinsgesetzes sehr weit ist2, staunten ebenfalls: Denn auch nach diesem weiten Vereins-Begriff kommt es zwar nicht auf die Eintragung ins Vereinsregister an, muß es sich aber jedenfalls um irgendeine Art von ‚Zusammenschluß’ handeln, und die einzelnen ‚Mitglieder’ müssen sich einer „organisierten Willensbildung unterworfen“ haben (siehe noch einmal FN 2). Daß ein autonom-anarchistisch-sozialbewegtes Zeitungsprojekt nach diesem bürgerlichen – und stalinistischen – ‚Unterwerfungs’-Modell funktioniert, erscheint doch als recht gewagte Hypothese3

Ganz eindeutig ist aber, daß § 17 Vereinsgesetz bestimmt, daß, wenn die üblichen Vereinsverbotsgründe vorliegen, das Vereinsgesetz auch „auf Aktiengesellschaften, […], Gesellschaften mit beschränkter Haftung, […], Genossenschaften, […] anzuwenden“ ist (und die „üblichen Ver­botsgründe“ können schnell erfüllt sein; siehe: Nicht (nur) „linksunten“ – einige Beispiele, in denen es sich DEFINITIV um Vereine handelt). Das BMI-Konstrukt ‚Medienverbot via Vereinsverbot’ bedroht also nicht nur eher informelle Strukturen – wie vermutlich im Falle linksunten.indy­media –, sondern auch als Unternehmen organisierte Medien.

Dies ist nicht bloß eine hypothetische Möglichkeit, sondern hat historische Vor­bilder (so wurde bspw. am 13. Juni 2008 eine kurdische Fernsehproduktionsfirma in Wuppertal verboten). Um mehrere solcher Vorbilder soll es im Folgenden gehen:

 

 


 

Vorbild 1: Verlag Hohe Warte

 


1961 wurde u.a. die Auflösung des Verlages Hohe Warte von den Bundesländern angeordnet (GMBl. 1966 1 - 26 und 496 - 497 [20 f., 497 <lit. k) bis p)>).4 Dieser wurde als Einzelunternehmen von einem Kaufmann geführt5, das aber abhängig Beschäftigte („Angestellte und Arbeiter“) hatte – und daher als Verein klassifiziert wurde. Zur möglichen Vereins-Eigenschaft dieses Unternehmens hatte das Bundesverwaltungsgericht 1971 entschieden:

 

„Als eine unter der Bezeichnung ‚V.’ [Verlag Hohe Warte] verbotene und aufzulösende Vereinigung käme der Zusammenschluß des Verlagsinhabers F. v. B. [Franz Karg von Bebenburg] mit den kaufmännischen und technischen Angestellten und Arbeitern in Be­tracht, mit deren Hilfe er sein Verlagsunternehmen ‚H.’ [Hohe Warte] betreibt. Daß dies der Personalbestand ist, wie ihn jedes kaufmännische Unternehmen für seinen Ge­schäftsbetrieb benötigt, stände nicht aus Rechtsgründen der Anwendung des Art. 9 Abs. 2 GG entgegen. Denn für den Begriff der ‚Vereinigung’ im Sinne des Art. 9 Abs. 2 GG spielt die Rechtsform keine Rolle; eine solche Vereinigung ist ohne Rücksicht auf die Rechts­form jeder Verband, in dem sich eine Mehrheit natürlicher oder juristischer Personen für längere Zeit zur Verfolgung eines gemeinschaftlichen Zieles unter einer Leitung freiwillig zusammengeschlossen hat (vgl. von Mangoldt-Klein, Das Bonner Grundgesetz, 2. Aufl., Art. 9 Anm. III 6 a; BVerwGE 1, 184 [185]). […]. Es ist nicht ersichtlich, weshalb ein sol­ches […] Unternehmen [wenn es sich sich gegen die Strafgesetze, die verfassungsmä­ßige Ordnung oder den Gedanken der Völkerverständigung betätigt] nicht dem Verbot des Art. 9 Abs. 2 GG unterliegen sollte. Mit Recht werden deshalb zu den ‚Vereinen (Ver­einigungen)’ im Sinne des § 2 Abs. 1 VereinsG beispielsweise auch Offene Handelsge­sellschaften, Kommanditgesellschaften, Genossenschaften, Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit, Aktiengesellschaften und Gesellschaften mit beschränkter Haftung gerechnet, also die typischen Vereinigungsformen kaufmännischer Unternehmungen[, gezählt](vgl. Schnorr, öffentliches Vereinsrecht, 1965, § 2 RdNrn. 11 und 19).“

(https://www.jurion.de/urteile/bverwg/1971-03-23/bverwg-i-c-5466/, Tz. 35)

 

Im Konkreten scheiterte das Verbot dann aber daran, daß aus der Verbotsverfü­gung nicht hinreichend bestimmt hervorging, welche Struktur konkret mit der Be­zeichnung „Verlag Hohe Warte“ gemeint war:

  • War tatsächlich das Unternehmen (Firmeninhaber und Personal) gemeint?

  • Oder war vielmehr eine – mit dem Verlagspersonal nicht identische, sondern aus „Vortragsleiter und den Rednern und Ordnern“ bestehende –

    „Mehrheit von Personen […, die] die Verbreitung und Durchsetzung L. [Luden­dorffs] Gedankenguts, insbesondere durch Vortragsveranstaltungen, betrieben hat“,

    von der ebenfalls in der Verbotsfügung die Rede war (ebd., Tz. 37), ge­meint?

  • Oder war schließlich – so eine dritte Formulierung in der Verfügung –

    eine Gesamtheit von „‚Mitarbeiterstab, dem auch die für die Öffentlichkeitsarbeit (Veranstaltungen, Vorträge) Verantwortlichen angehören’, [...] ‚Rednerorgani­sation’ und ‚Vortragsorganisation, der neben einem Vortragsleiter mehrere Redner und örtliche Ordner angehören’“ (ebd., Tz. 38 – meine Hv.),

    gemeint?

So unklar ausgedrückt wurde sich in der Verbotsverfügung vermutlich deshalb, weil die politisch Verantwortlichen der sog. Redner- und Vortragsorganisation nicht unbedingt mit den Beschäftigten des Verlages identisch waren, für diese aber kein Name existierte, unter dem sie hätten verboten werden können.

Allein wegen dieser Unbestimmtheit der Verbotsverfügung hatte das Bundesver­waltungsgericht sie aufgehoben: „Der aufgezeigte Mangel der Bestimmtheit nötigt das Revisionsgericht, bezüglich des Klägers zu 1 [= Verlag Hohe Warte] die in den Vorinstanzen ergangenen Urteile und die Verfügung vom 15. Mai 1961 aufzuhe­ben.“ (ebd., Tz. 41)

Daß auch Verlagsunternehmen „Vereine“ sein können, hatte das Bundesverwal­tungsgericht dagegen (wie oben gesehen) akzeptiert und entspricht auch dem Wortlaut des (allerdings erst 1964 – also nach dem Hohe Warte-Verbot verab­schiedeten) Vereinsgesetzes und auch wohl auch dem Grundgesetz – jedenfalls, wenn die vorherrschende These akzeptiert wird, daß die Ausdrücke „Vereine und Gesellschaften“ in Artikel 9 Absatz 1 Grundgesetz und „Vereinigungen“ im dortigen Absatz 2 austauschbare Termini seien und, daß „Gesellschaften“ nicht (nur) Fami­lienfeiern u.ä. (z.B.: „geschlossene Gesellschaft“ in einem Restaurant, die aber – mangels Unterwerfung unter eine organisierte Willensbildung – in der Regel kein Verein ist), sondern (auch und gerade) Unternehmensrechtsformen meint.

 

 


 

Vorbild 2: Roj TV Aktiengesellschaft, Muttergesellschaft sowie Fernsehproduktionsfirma V. GmbH

 


 

Am 13. Juni 2008 verfügte das Bundesinnenministerium (für Deutschland)

  • ein Betätigungsverbot nach § 14 Absatz 3 Vereinsgesetz:

    „Anstelle des Vereinsverbots kann die Verbotsbehörde gegenüber Ausländerverei­nen Betätigungsverbote erlassen, die sie auch auf bestimmte Handlungen oder bestimmte Personen beschränken kann.“

    in Verbindung § 15 Absatz 1 Vereinsgesetz:

    „Für Vereine mit Sitz im Ausland (ausländische Vereine), deren Organisation oder Tätigkeit sich auf den räumlichen Geltungsbereich dieses Gesetzes erstreckt, gilt § 14 entsprechend.“

    gegen

++ den kurdischen Fernsehsender Roj TV, einer Aktiengesellschaft däni­schen Rechts,

und

++ dessen Mutteraktiengesellschaft (Mesopotamia Broadcast A/S)

 

sowie

  • die Auflösung der – als deutsche „Teilorganisation“ des Fernsehsenders an­gesehenen – Fernsehproduktionsfirma V. GmbH in Wuppertal.

 

Auch diese Verfügung wurde vom Bundesverwaltungsgericht teilweise aufgeho­ben, aber nicht deshalb, weil sie zwei Aktiengesellschaften und eine GmbH betraf, sondern ausschließlich deshalb, weil Roj TV zu diesem Zeitpunkt in Dänemark noch nicht verboten war und daher das Verbot der Ausstrahlung dessen Pro­gramm – nach einer eingeholten Entscheidung des Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg – gegen das [Ironie der Geschichte ;-)] EU-Binnenmarktsregime verstieß.

Das Verbot der Fernsehproduktionsfirma V. GmbH wurde dagegen vom Bundes­verwaltungsgericht – zeitgleich mit der Entscheidung, die genannte Vorabent­scheidung des EuGH einzuholen – bestätigt (https://openjur.de/u/162609.html [V. GmbH]) (weil es insoweit nicht um Ausstrahlung von Dänemark nach Deutschland [= EU-Binnenmarkt], sondern um Produktion in Deutschland ging).

Verbote von Medienunternehmen sind in der Bundesrepublik also schon vor­gekommen – und in mindestens einem Fall (V. GmbH) auch schon bestandskräftig geworden –, und es ist an der Zeit, aufzuwachen und zu bemerken, daß die Pres­sefreiheit nicht nur in der Türkei, Rußland und anderswo, sondern auch mal wie­der6 in der deutschesten7 aller Demokratien bedroht ist.

 


 

Reaktionsmöglichkeiten

 


 

Die politisch effektivste Möglichkeit einer solchen Bedrohung etwas entgegenzu­setzen, dürfte sein, wenn möglichst viele Menschen, die die verbotenen oder von Verbot bedrohten Texte (oder Bilder) zwar inhaltlich nicht teilen, aber trotzdem fin­den, daß sie verbreitet und gelesen werden dürfen (bzw. verbreitet und gelesen werden dürfen sollen), ihrerseits diese Texte verbreiten. Dafür gibt es durchaus er­folgreiche historische Beispiele, wenn auch nicht in Bezug auf Fernsehsender (mit umfangreichem Programm sowie Ausstrahlung via Kabel und Satellit).

So versuchte der bundesdeutsche Staat mehrfach, die linksradikale Zeitschrift radikal zu kriminalisieren. Dies ging für die betroffenen Personen immer relativ glimpflich aus (siehe 1 und 2); und vor allem wurde nie versucht, das Erscheinen der Zeitschrift für die Zukunft (d.h.: egal mit welchem künftigen Inhalt) zu verbie­ten8 – dies ist der große Unterschied zu den Fällen linksunten und Roj TV.

 

„Auf dem Höhepunkt der behördlichen Verfolgung 1997 gegen das weiter klandestin, mit Postadresse in den Niederlanden, erscheinende Zeitungsprojekt, gaben zahlreiche nam­hafte Persönlichkeiten und Organisationen eine Dokumentation mit kriminalisierten Texten heraus. Zu den Herausgebern gehörten unter anderem Elmar Altvater, Bundesvorstand der Vereinigung demokratischer Juristinnen und Juristen, Bundesvorstand der Fach­gruppe Journalismus der IG Medien, Redaktion Cilip – Bürgerrechte und Polizei, Jutta Dit­furth, Peter Grottian, Margit Mayer, Jens Mecklenburg, Wolf-Dieter Narr, Norman Paech, Bodo Zeuner sowie zahlreiche weitere Rechtsanwälte, Wissenschaftler, Journalisten und Abgeordnete. Die Herausgeber erklärten im Vorwort der Broschüre

‚Unabhängig ob wir den Inhalt der Zeitschrift gutheißen oder ablehnen, wenden wir uns ent­schieden gegen den wiederholten Versuch, eine mißliebige Publikation zum Schweigen zu bringen. […] Die Auseinandersetzung um publizierte Thesen – auch, wenn sie die Gesell­schaftsform kritisieren – darf und soll nicht mit staatlicher Repression geführt werden.’

Dem war am 13. Juni 1995 eine bundesweite Razzia mehrerer Hundertschaften gegen 50 Personen und Organisationen vorausgegangen, um das weitere Erscheinen der Zeitung zu verhindern.“

(https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Radikal_(Zeitschrift)&oldid=185233495)

 

Ein anderes Beispiel ist das Buch „das info. briefe von gefangenen aus der raf, aus der diskussion 1973-1977“. „info“ wurden die Rundbriefe genannt, mit denen die Gefangenen aus der RAF miteinander kommunizierten. Diese Briefe wurde 1987 – parallel zu seiner Doktorarbeit „Stammheim. Die notwendige Korrektur der herrschenden Meinung. Der Prozeß gegen die Rote Armee Fraktion“ von dem nie­derländischen Juristen und vormaligen Verteidiger von Angeklagten aus der RAF, Pieter Bakker Schut, als Buch herausgegeben. Der Bundesgerichtshof hatte am 18. August 1987 zunächst entschieden, daß das Buch und die zu dessen Herstel­lung verwendeten „Vorrichtungen“ zu beschlagnahmen seien. Darauf fanden in über 300 Buchhandlungen Beschlagnahmungen von ca. 3.000 Exemplaren statt. Außerdem wurde ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren eingeleitet.

„Dieser Eingriff in die Publikations- und Wissenschaftsfreiheit führte schnell zu erhebli­chen Protesten des Börsenvereins für den Deutschen Buchhandel, des PEN-Zentrums und zahlreicher anderer Institutionen und Personen. Und nach einem von über 80 Ver­lagen und Buchhandlungen auf der Buchmesse in Frankfurt getroffenen Beschluß, das Buch in einer Gemeinschaftsausgabe erneut erscheinen lassen, wurde das Ermittlungs­verfahren am 3. November 1987 eingestellt“9

und das Buch konnte wieder verkauft werden und ist heute im internet frei zugänglich.

 


 

Und juristisch?

 


 

Bleibt vielleicht noch die Frage, was sich juristisch gegen Verbote von Medien(un­ternehmen) via Vereinsverbote einwenden läßt – wo doch, wie eingangs zitiert, auch Aktiengesellschaften, Gesellschaften mit beschränkter Haftung, Genossen­schaften etc. „Vereine“ im Sinne des Vereinsgesetzes und deshalb prinzipiell ‚ver­botsfähig’ sind (während bei vermutlich eher losen Zusammenhängen, wie den HerausgeberInnen von linksunten.indymedia, fraglich ist, ob sie überhaupt unter den Vereinsbegriff [siehe bereits FN 2 und 3] fallen)?

Die Antwort ist eine doppelt einfache – darf aber in ihrer Reichweite auch nicht überschätzt werden.

  • Antwort 1: Medien und ihre HerausgeberInnen bzw. VerlegerInnen sind zweierlei: Ein Medium besteht aus Papier oder Bits oder Celluloid etc.; ein Verein dagegen aus natürlichen und/oder juristischen Personen.10 Wenn auch manche vereinsförmig organisierten HerausgeberInnen bzw. Verlege­rInnen verboten werden dürfen, so heißt dies noch lange nicht, daß deren Medien anschließend prinzipiell nicht mehr erscheinen dürfen – sei es mit anderen Vereinen als Herausgebern oder Verlegern oder sei es mit nicht-vereinsförmig organisierten HerausgeberInnen bzw. VerlegerInnen. Artikel 9 Absatz 2 Grundgesetz ist nicht die Allzweckwaffe, zu den es das Bundesin­nenministerium machen möchte. Vielmehr richtet sich der genannte Artikel speziell gegen (bestimmte) vereinsförmige Organisierung, da die Grundge­setzgeberInnen – nicht zu Unrecht – annahmen, daß vereinsförmige Orga­nisierung eine besondere Effektivität (aus Perspektive des Staates: Gefähr­lichkeit) hat. (Die Freiheit des bloßen Wortes – ohne spezifische vereinsförmige Organisierung – wird dagegen vom Grundgesetz stärker ge­schützt, wie wir gleich sehen werden, und zwar insbesondere gegen Ver­bote des künftigen Erscheinens ganzer Medien, im Unterschied zu nach­träglichen Sanktionen wegen einzelner bereits erfolgter Meinungsäußerun­gen und Berichte.)

  • Antwort 2: Für Medien gibt es keine Verbotsmöglichkeit; vielmehr gilt für diese das grundgesetzliche Zensurverbot (Artikel 5 Absatz 1 Satz 3 Grundgesetz: „Eine Zensur findet nicht statt.“). Nun ist zwar bei weitem nicht jeder Eingriff in die Meinungsäußerungs- und Medienfreiheit „Zensur“ im ju­ristischen Sinne. Vielmehr bestimmt Absatz 2 des genannten Artikels aus­drücklich: „Diese Rechte [Meinungsäußerungsfreiheit, Pressefreiheit und Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film11] finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönli­chen Ehre.“

    „Zensur“ ist aber jeder vorhergehende (präventive) Eingriff in die Meinungs­äußerungs- und Medienfreiheit. Der klassische Fall von Zensur – im 19. Jahrhundert (Karlsbader Beschlüsse [Wikipedia und Wikisource]) – war ein sog. „Verbot mit Erlaubnisvorbehalt“: Druckschriften, die nicht so umfang­reich waren, daß sie eh nur von wenigen Menschen gelesen werden, (also insbesondere Tageszeitungen) mußten vor dem Druck einem Zensor (Zen­sorinnen gab es damals vermutlich nicht) vorgelegt werden – und dieser er­teilte dann seine Genehmigung zum Druck oder auch nicht.12 Insbesondere – aber nicht ausschließlich – dieses System der Zensur ist durch Artikel 5 Absatz 1 Satz 3 Grundgesetz verboten. Es dürfte allen Menschen klar sein: Ein komplettes Verbot des künftigen Erscheinens eines Mediums (ohne Chance auf Genehmigung im Einzelfall) ist eine gesteigerte Form von „Zen­sur“ im klassischen Sinne (ein noch viel stärker präventiver Eingriff in die Pressefreiheit) – also erst recht von Artikel 5 Absatz 1 Satz 3 Grundgesetz verboten.

    Das Zensurverbot schließt zwar nicht nachträgliche Eingriffe in die Mei­nungsäußerungs- und Medienfreiheit aus (insofern sollte es in seiner Reich­weite nicht überschätzt werden), aber bezüglich Publikationsprävention gilt es gemäß der genannten Grundgesetz-Norm absolut:13

    „im Zensurverbot [… ist] ein absolute[s] Verbot der Gefahrenabwehr im Kommuni­kationsbereich [verankert]“

    (Michael Breitbach / Ulli F. Rühl, Das Zensurverbot im Grundgesetz – eine ver­drängte Freiheitsgarantie, in: Kritische Justiz 1988, 206 - 213 [207])

    „Das Zensurverbot soll die typischen Gefahren einer solchen Präventivkontrolle bannen. Deswegen darf es keine Ausnahme vom Zensurverbot geben, auch nicht durch ‚allgemeine Gesetze’ nach Art. 5 Abs. 2 GG.“

    (BVerfGE 33, 52 - 90 [72 = DFR-Tz. 76])14

 



 

1 „auch wenn Linksunten.Indymedia nicht in ein Vereinsregister eingetragen ist“ (https://tarnkappe.info/innenministerium-verbietet-indymedia/) / „Das Problem bei der Aktion: Die Betreiber des Portals sind zum einen kein eingetragener Verein, [...].“ (https://www.golem.de/news/linksextremismus-innenminister-macht-linksunten-indymedia-dicht-1708-129678.html)

 

2 „Verein im Sinne dieses Gesetzes ist ohne Rücksicht auf die Rechtsform jede Vereinigung, zu der sich eine Mehrheit natürli­cher oder juristischer Personen für längere Zeit zu einem gemeinsamen Zweck freiwillig zusammengeschlossen und einer organisierten Willensbildung unterworfen hat.“ (§ 2 Absatz 1 Vereinsgesetz – meine Hv.)

 

3 S. dazu: https://www.freitag.de/autoren/peter-nowak/solidarisch-mit-linksunten-indymedia (ab „Das Vereinsgesetz spricht davon, ...“) und: „Wahrscheinlich fällt es einem Konservativen schwer, an anderes als straffe Organisationen zu denken. Also muss es eine Art Schützenverein für Linke geben, inklusive Antifa-König. Ganz anders die nun verbotene Plattform linksunten.indy­media: Kaum Struktur, viel Anonymität, wenig Hierarchie.“ (https://www.freitag.de/autoren/lfb/hufeisen-im-wahlkampf)

 

4 Zusammen mit dem Verlag wurde die Auflösung des Bundes für Gotteserkenntnis (L) e.V. angeordnet. Um beide herum gruppierte sich die völkisch-antisemistische Ludendorff-Bewegung. Hätte sich der Verein selbst aufgelöst und der Verlag sei­nen Geschäftsbetrieb selbst eingestellt, so hätten AntifaschistInnen dem nur Beifall spenden können.

Wie es aus emanzipatorischer Perspektive politisch zu bewerten ist, wenn der bestehende (bürgerliche, patriarchale, rassis­tische) Staat 1. überhaupt und 2. auf rechtlich fragwürdiger Grundlage – gegen solche Strukturen vorgeht, sei an dieser Stelle ausgeklammert. Hier soll es nur um die juristische Aus­legung und Anwendungspraxis von Artikel 9 Absatz 2 Grundgesetz sowie des Vereinsgesetzes gehen, die keine Spezialrege­lungen für völkisch-antisemitische und/oder nationalsozialistische Strukturen enthalten, sondern für alle vereinsförmigen ‚Verbotsobjekte’ gleichermaßen gelten. – Es geht an dieser Stelle also – um den Text nicht allzu lang zu machen – um die Auslegung und Anwendung des bestehenden Rechts – nicht um (durchaus nötige) Vorschläge zu dessen Änderung.

 

5 Vgl. den heutigen § 17 Handelsgesetzbuch: „(1) Die Firma eines Kaufmanns ist der Name, unter dem er seine Geschäfte betreibt und die Unterschrift abgibt. (2) Ein Kaufmann kann unter seiner Firma klagen und verklagt werden.“

 

6 Zur Situation in den 1970er Jahren in der Bundesrepublik siehe u.a.: Jury, Deutscher Beirat und Sekretariat des 3. Interna­tionalen Russell-Tribunals (Hg.): 3. Internationales Russell-Tribunal. Zur Situation der Menschenrechte in der Bundesrepublik Deutschland. Band 3. Gutachten, Dokumente, Verhandlungen der 2. Sitzungsperiode / Teil 1: Zensur. Rotbuch: [West]berlin, 1979.

 

7 Zu den (vor allem süd- und post-1989er osteuropäischen) ‚Verwandten’ des etatistischen „deutschen Rechtsstaats“ einer­seits und der – von dieser ‚Familie’ zu unterscheidenden – anderen (civil rights & liberties-orientierteren) ‚Familie’ um den fran­zösischen État légal und die angelsächsische Rule of Law andererseits siehe meine Untersuchung

Die Norm (in) der Geschichte. Die Struktur des Strukturfunktionalismus und die Struktur des Strukturalismus“ in dem von mir zusammen mit Sabine Berghahn und Frieder Otto Wolf herausgegebenen Band „Rechtsstaat statt Revolution, Verrechtli­chung statt Demokratie? Transdisziplinäre Analysen zum deutschen und spanischen Weg in die Moderne. Teil 1: Die histori­schen Voraussetzungen“ (Westfälisches Dampfboot: Münster, 2010), 206 - 254 (207):

„in Abschnitt V. [S. 229 - 247] [werden] einige Anhaltspunkte für Familienähnlichkeiten zwischen den historischen Spezifika Deutschlands, Spaniens und anderer Rechtsstaaten einerseits sowie den historischen Spezifika nordwesteuropäischer und nordamerikanischer Gesetzesstaaten andererseits benannt.“

 

8 Klar ist (zwar), daß strafrechtliche Verurteilungen wegen vergangener Veröffentlichungen davon abschrecken können, ähnliche Veröffentlichungen in Zukunft zu tätigen. Aber dies bleibt ohne Verbot des künftigen Erscheinens des Mediums trotz­dem der individuellen Risikobereitschaft überlassen; und etwaige künftige Veröffentlichungen sind dann wiederum einzeln strafrechtlich zu prüfen, aber nicht generell verboten.

 

9 Jo Hauberg, Vorwort, in: Pieter Bakker Schut, Stammheim. Die notwendige Korrektur der herrschenden Meinung. Der Pro­zeß gegen die Rote Armee Fraktion, Pahl-Rugenstein: Bonn, 1997 / 2007, S. V - VII (VI f.).

 

10 In dem 1995er Ermittlungsverfahren wegen radikal sprach auch der Bundesgerichtshof von, „Organisation […], die für die Herausgabe und Verbreitung einer unregelmäßig erscheinenden linksextermistischen/linksterroristischen Untergrunddruck­schrift verantwortlich ist“ – unterschied also zwischen herausgebender „Organisation“ einerseits und „Untergrunddruckschrift“ andererseits (JurionRS 1995, 12371 [https://www.jurion.de/urteile/bgh/1995-06-07/stb-16_95_-2-bjs-127_93/], Textziffer 2)

Genauso erkannte der BGH den Unterschied zwischen den Revolutionären Zellen einerseits und dem „Organ der ‚revolutio­nären Zellen’“ andererseits (Name des Organs: Revolutionärer Zorn) (JurionRS 1979, 12344 [https://www.jurion.de/urteile/bgh/1979-10-03/3-str-273_79-_s/], Tz. 12).

 

11 Das in Artikel 5 Absatz 1 Satz 3 Grundgesetz statuierte Zensurverbot ist dagegen (im strengen Sinne) kein Recht der BürgerInnen, sondern ein an den Staat adressiertes Verbot, über das er sich auch unter Berufung auf die Schranken des Arti­kel 5 Absatz 2 Grundgesetz nicht hinwegsetzen darf. Das Zensurverbot im hier gemeinten Sinne (Zensur = Vorzensur) darf von Grundgesetz wegen nicht beschrankt werden, sondern ist selbst eine sog. „Schrankenschranken“, die es dem Staat ver­wehrt, auf andere als nachträgliche Weise in die Meinungsäußerungs- und Medienfreiheiten aus Artikel 5 Absatz 1 Satz 1 und 2 Grundgesetz einzugreifen.

 

12 „Solange als der gegenwärtige Beschluß in Kraft bleiben wird, dürfen Schriften, die in der Form täglicher Blätter oder heft­weise erscheinen, deßgleichen solche, die nicht über 20 Bogen im Druck stark sind, in keinem deutschen Bundesstaate ohne Vorwissen und vorgängige Genehmhaltung der Landesbehörden zum Druck befördert werden.“ (§ 1 Satz 1 Karlsbader Be­schlüsse – Preßgesetz vom 20. September 1819; http://www.heinrich-heine-denkmal.de/dokumente/karlsbad2.shtml / ge­druckt: in: Bundes-Pressgesetz, Ernst Rudolf Huber [Hg.], Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte. Band 1, Kohl­hammer: Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz, 19783, 102 - 104 [102])

 

13 Siehe etwas ausführlicher zu diesem Unterschied zwischen Repression und Prävention: http://tap2folge.blogsport.eu/2019/05/03/zum-internationalen-tag-der-pressefreiheit/#comment-22 und http://tap2folge.blogsport.eu/2019/05/03/zum-internationalen-tag-der-pressefreiheit/#comment-30 (und der folgende Kommentar).

 

14 Bleibt vielleicht noch die Frage, ob gegen die Berufung auf das Zensurverbot (oder zumindest gegen die Erfolgsaussicht der Berufung auf das Zensurverbot) nicht der Umstand spricht, daß Roj TV später in Dänemark doch noch verboten wurde und daß dieses Verbot vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte [des Europarates] in Straßburg bestätigt wurde. Diese Frage ist zu verneinen, denn es ist ein ausschlaggebender Unterschied zu beachten:

Der EuGMR hat das Roj TV-Verbot ausschließlich im Hinblick auf Artikel 17 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), der Ausnahmen von Art. 10 (Freiheit der Meinungsäußerung) und alle anderen dort garantierten Menschenrechte zu­läßt, akzeptiert (https://hudoc.echr.coe.int/eng#{%22itemid%22:[%22001-183289%22]}, Tz. 48). Art. 17 EMRK schränkt aber nicht – von sich aus – die nationalen politischen Freiheitsrechte ein, sondern gibt den Unterzeichnerstaaten nur die Möglich­keit dazu. Diese Möglichkeit ist aber mit Artikel 9 Absatz 2, 18, 21 Absatz 2 und 3 GG nicht voll, sondern nur teilweise ausge­schöpft. Diese drei Artikel bestimmen ausschließlich (wenn auch schon ziemlich weitgehend und problematisch):

  • Bestimmten GrundrechtsträgerInnen können – gemäß Artikel 18 GG – bestimmte Grundrechte entzogen werden (dies ist aber im Falle „linksunten.indymedia“ nicht geschehen, und es war auch in den Fällen „Verlag Hohe Warte“ und „Roj TV“ nicht geschehen);

  • Bestimmte Vereine (darunter auch Unternehmen) und Parteien können im Wege der Artikel 9 Absatz 2 und 20 Ab­satz 2 GG eliminiert und dadurch als GrundrechtsträgerInnen ‚ausfallen’.

  • Es existiert aber keine verfassungsrechtlich zulässige Möglichkeit, Medien als solche (d.h.: unabhängig von der – variablen – TrägerInnen-/HerausgeberInnenschaft) zu verbieten.

 


 


 

Die .pdf-Version dieses Artikel enthält zusätzliche Fußnoten und hat dadurch einen (in Zeichen gerechnet) um knapp 20 % größeren Umfang.

Bilder: 
Lizenz des Artikels und aller eingebetteten Medien: 
Creative Commons by-sa: Weitergabe unter gleichen Bedingungen