Kommentar von Sexarbeiter*innen zur Studie „Psychische Gesundheit bei Sexarbeiterinnen: Eine Querschnittserhebung (PsychSex)“ der Charité, Berlin.

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Abstract: 
Dies ist ein von mehreren Sexarbeitenden anonym verfassten Kommentar zur Studie „Psychische Gesundheit bei Sexarbeiterinnen: Eine Querschnittserhebung (PsychSex)“, die aktuell an der Charité Berlin durchgeführt wird. Wir sehen in der Studie erhebliche ethische Mängel und wehren uns als Sexarbeitende gegen diese Behandlung und die in der Studie vorherrschende Pathologisierung und Herabwürdigung von Sexarbeitenden. Wir fordern eine Beendigung der Studie. Unseren Kommentar haben wir mit der Bitte um Stellungnahme an die Ethikkommission der Charité geschickt. Weiterhin haben wir den Deutschen Ethikrat in Kenntnis gesetzt. Der Kommentar geht außerdem an diverse Gruppen von Sexarbeitenden und Unterstützenden. Der Text auf Archive ist offen einsehbar und wir freuen uns über Verbreitung und Unterstützung. CN: Im Text sind gewaltvolle Interviewfragen unzensiert wiedergegeben.

Kommentar von Sexarbeiter*innen

zur Studie „Psychische Gesundheit bei Sexarbeiterinnen: Eine Querschnittserhebung (PsychSex)“ der Charité, Berlin[1]

 

 

Einleitung

Anfang Mai 2023 hat das Berlin Strippers Collective (BSC) auf Instagram eine Warnung zur Studie „Psychische Gesundheit bei Sexarbeiterinnen: Eine Querschnittserhebung (PsychSex)“ an der Charité Berlin veröffentlicht:[2] Mitglieder des BSC hatten an der Befragung teilgenommen und von wissenschaftlicher Unprofessionalität berichtet. Sie berichten, es seien Fragen zu Gewalterfahrungen ohne Vorwarnung gestellt worden, so dass eventuell Betroffene keine Möglichkeit hatten, diese Fragen bei Bedarf zu überspringen. Außerdem kam es ungefragt zu Diagnosestellungen seitens der Interviewenden und einer Person wurden in einer Therapiesitzung im Anschluss an das Interview starke Medikamente verschrieben. Das BSC berichtete von weiteren Sexarbeitenden, die das Interview als belastend wahrgenommen hatten.[3]

 

Daraufhin haben sich Sexarbeitende, die auf die Warnung aufmerksam wurden, mit weiteren Kolleg*innen und Unterstützenden vernetzt und ausgetauscht.

Wir haben unsere Erfahrungen gesammelt und verglichen und aufgrund der erheblichen ethischen Mängel, die wir in der Studie und ihrer Durchführung sehen, beschlossen, die Studie und unsere Erfahrungen damit zu kontextualisieren, auszuwerten und unsere Kritik zu veröffentlichen.

 

Der vorliegende Kommentar ist eine Zusammenarbeit mehrerer anonym bleibender Sexarbeiter*innen; einige haben selbst an der Studie teilgenommen.

 

Wir sehen erhebliche forschungsethische Probleme an der Studie „Psychische Gesundheit bei Sexarbeiterinnen: Eine Querschnittserhebung (PsychSex)“, die derzeit an der Charité Berlin durchgeführt wird. 

 

Wir empfehlen den beteiligten Forschenden und der Charité aus diesem Grund dringend, die Studie abzubrechen und werden dies auch an die Ethikkommission der Charité und den Deutschen Ethikrat kommunizieren.

 

Wir bitten außerdem um eine öffentliche Stellungnahme der Ethikkommission der Charité.

 

Im Folgenden gehen wir auf konkrete Kritikpunkte ein und führen diese teils an Beispielen weiter aus.

Dabei beziehen wir uns zuerst auf die Ansprache der Zielgruppe und den in der Akquise kommunizierten Anspruch der Studie, der sich in den von Kolleg*innen berichteten Erfahrungen in den Interviews nicht wiederfand.

Weiterhin erzählen wir vom Umgang mit einzelnen Studienteilnehmer*innen und bewerten diesen bzw. die ungefragte Stellung von Diagnosen und Empfehlungen zu Medikation als fahrlässig.

Anschließend stellen wir die mangelnde Objektivität von Studien-Mitarbeiter*innen und dem Forschungsdesign in Frage und setzen die Charité-Studie in einen Forschungskontext.

Schließlich formulieren wir ein Fazit und Anforderungen an die Verantwortlichen der hier diskutierten Studie.

 

 

Ansprache der Zielgruppe und Anspruch der Studie

 

Die Studie wird auf Instagram damit beworben, dass langfristig die psychische Gesundheit von Sexarbeiterinnen verbessert werden soll, weshalb „nicht nur Stigma-Erfahrungen, sondern auch die Erwartungen von S. €x-arbeiterinnen an Gesundheitspersonal, Kolleg*innen aus der sozialen Arbeit und Behörden“[4] untersucht werden.

 

In der Projektbeschreibung auf der Seite der Charité wird ebenfalls ein politischer Anspruch formuliert: „Neben der wissenschaftlichen Verwertung der Daten soll auch ein Beitrag zur gesellschaftspolitischen Diskussion bereitgestellt werden.“[5] Dieser wird auch in der Bewerbung der Studie auf Instagram genannt: „Wir möchten Ihre Sichtweise der gesellschaftlichen Diskussion darstellen und Ihre Situation verbessern.“[6]

 

Damit werden Sexarbeitende direkt angesprochen und aufgefordert, ihre Perspektive auf den gesellschaftlichen Diskurs um Sexarbeit wiederzugeben. Die Studie erweckt den Eindruck, dass mit den Ergebnissen und den Sichtweisen der Sexarbeitenden politische Forderungen im Sinne von Sexarbeitenden verknüpft werden können.

 

Einer*m Teilnehmer*in der Studie wurde allerdings auf die Frage nach der Verbesserung der Gesundheitsversorgung gesagt, dass dies gar nicht Ziel der Studie sei, da die Studie nicht politisch, sondern wissenschaftlich arbeite.[7]

 

Abgesehen davon, dass auch wissenschaftliche Arbeit politisch ist, da sie einen Einfluss auf öffentliche Debatten zu Sexarbeit nimmt, widerspricht dies dem Werbetext.

 

Alle Teilnehmer*innen an der Studie, die zu diesem Text beigetragen haben, waren nach der Art der Bewerbung überrascht über die Ausrichtung der Studie mit ihrem klaren Schwerpunkt auf psychische Erkrankungen und Gewalterfahrungen.

 

Umgang mit Studienteilnehmer*innen[8]

 

Es existiert ein Informationsblatt mit Studieninformationen, das den Zweck der Studie, mögliche Risiken der Teilnahme etc. beinhaltet. Doch vor allem bei Interviews, die online durchgeführt werden, wird dieses Informationsblatt kaum Teilnehmer*innen vorgelegt. Bei ca. 30 Online-Teilnehmer*innen, mit denen wir vernetzt sind, haben nur zwei Personen das Informationsblatt je gesehen und wurden damit im Vorfeld ausführlich über den Studienzweck aufgeklärt. Eine Person erhielt das Informationsblatt erst im Anschluss an das Interview per Mail zugesendet.

 

Das Informationsblatt enthält außerdem den Hinweis, dass die Teilnahme jederzeit widerrufen und die erhobenen Daten gelöscht werden können. Diese Information erhielten die wenigsten Online-Teilnehmer*innen. Nur bei drei uns bekannten Personen wurde zu Beginn des Interviews eine Chiffre kreiert, die das Löschen der Daten zu einem späteren Zeitpunkt überhaupt möglich macht.

 

Große Abschnitte des Fragebogens sind nach psychischen Erkrankungen gegliedert, worauf die Teilnehmenden nicht vorbereitet wurden. Es gab teilweise ohne Vorwarnung sehr direkte Fragen danach, ob Personen suizidal seien, sich selbst verletzten oder Essstörungen hätten.

 

Teilnehmende berichten, dass die Interviewführenden teilweise offensichtlich ein schon vorgefertigtes Bild von Sexarbeit hatten. So habe eine interviewende Person einen enttäuschten Eindruck gemacht und nochmals nachgehakt, weil die interviewte Person keine Gewalterfahrungen nennen konnte. In einem anderen Interview wurde der*die Teilnehmer*in für die Wortwahl „Sexarbeit“ kritisiert und gefragt, ob „Prostitution nicht der korrektere Begriff“[9] sei. Ebenso haben Teilnehmende sich von den Interviewenden bemitleidet gefühlt.

 

Forschungsethisch fragwürdig ist auch die Behandlung der Teilnehmenden, die im Rahmen des Fragebogens mit psychischen Erkrankungen diagnostiziert wurden. Eine Aussicht auf eine Diagnose wurde nirgends im Werbetext angekündigt und teilweise wurden Personen ohne ihr Einverständnis und ohne Vorwarnung diagnostiziert. Teilnehmende berichten von Diagnosen wie OCD, Bipolarer Störung und PTBS; das sind alles sehr gravierende Diagnosen, die auf die Diagnostizierten Auswirkungen haben können. Diese Diagnosen wurden Personen gegeben, die mit ganz anderen Vorannahmen an der Studie teilgenommen haben. Die interviewenden Personen haben diese Diagnosen gestellt, ohne über aktuelle Lebenssituationen informiert zu sein oder zu wissen, ob die Diagnosen nachfolgend gut verarbeitet werden können.

Wir erachten den beschriebenen Umgang als fahrlässig, Interviewpartner*innen – deren Teilnahme nach eigenem Wissensstand zur Verbesserung der politischen Situation von Sexarbeitenden beitragen soll – teilweise ungefragt mit einer schweren psychischen Erkrankung zu diagnostizieren.

 

Teilnehmenden wurde das Angebot kostenfreier psychotherapeutischer Beratung gemacht, was von zwei Mitgliedern des BSC angenommen wurde. Statt wie angekündigt von einer*m Psychotherapeut*in wurden die Personen allerdings von einer Psychiaterin beraten. Beide Personen wurden innerhalb der ersten Sitzung diagnostiziert.

 

Weiterhin wurde einer teilnehmenden Person in dieser anschließenden Therapiesitzung ein starkes Medikament (Quetiapin) verschrieben, ohne dass eine genauere Anamnese stattgefunden habe. Das Medikament wurde aufgrund der Diagnose Bipolare Störung verschrieben; diese Diagnose habe der Interviewfragebogen ergeben. Die Person hat allerdings Depressionen und sie und ihr Netzwerk haben selbständig herausgefunden, dass das Medikament in diesem Fall nicht als Monotherapie verschrieben werden darf.[10]

 

Wir verurteilen dieses fahrlässige Verhalten der Studiengruppe unsere*n Kolleg*innen gegenüber. Die Sexarbeitenden, die ihre Informationen zu diesem Text beigetragen haben, sind alle sozial gut eingebunden und konnten sich in der Community über die Studie austauschen. Was ist mit Personen, die z.B. nicht gut eingebunden sind und sich in psychisch schwierigen Situationen befinden?

 

 

Die Fragen: Mangelnde Objektivität und Abwandlung standardisierter Fragebögen

 

Beim Interview handelt es sich vorrangig um einen quantitativen Fragebogen mit vorgegebenen Antwortmöglichkeiten. Die hier wiedergegebenen Fragen sind entweder aus Audiomitschnitten von Interviews transkribiert worden oder wurden bei geteiltem Bildschirm abfotografiert. Wurden die Fragen von Interviewenden nur vorgelesen und nicht auch schriftlich gezeigt, wurden teilweise andere Sätze als im Fragebogen verwendet, bzw. lediglich in Anlehnung an den genauen Wortlaut formuliert. Im Folgenden sind die einzelnen Abschnitte entsprechend gekennzeichnet.

Die Antwortmöglichkeiten sind Ankreuzboxen. Diese wurden ebenfalls teilweise schriftlich gezeigt, teilweise mündlich formuliert, teilweise wurde die Antwortmöglichkeit offengelassen. Im Folgenden trennen wir die dokumentierten Antwortmöglichkeiten mit Kommata.

 

Im einzigen Abschnitt der Studie, der sich mit der aktuellen Gesundheitsversorgung von Sexarbeitenden beschäftigt, wurden folgende Fragen und Antwortmöglichkeiten von einer*m Teilnehmer*in notiert:

 

Wie fühlst du dich im Kontakt mit Ärzt*innen? Überwiegend gut aufgehoben, nicht gut aufgehoben, aus irgendwelchen Gründen herabgesetzt

Falls herabgesetzt: Wegen deiner Tätigkeit, wegen deiner Herkunft, aus anderen Gründen

Hast du einen Frauenarzt oder eine Frauenärztin? Ja, Nein

Weiß dieser von deiner Tätigkeit? Ja, Nein[11]

 

Diese Fragen können weder die genannten Themen adäquat abdecken, noch in ihrer Form überhaupt in die Tiefe gehen. Auch nachdem Antwortmöglichkeiten wie fühle mich wegen meiner Tätigkeit herabgesetztgegeben wurden, erfolgten in der Regel keine weiteren Nachfragen. Auch bei der Angabe aus anderen Gründen erfolgte in der Regel keine weitere Nachfrage, welche Gründe das seien.

 

Es ist fraglich, inwiefern sich differenzierte Handlungs- oder Weiterbildungsaufforderungen an Gesundheitspersonal aus solchen Fragen und ihren Antwortmöglichkeiten ableiten lassen.

 

Eine Folgefrage ist: 

 

Wurde jemals bemerkt, dass du beratende Unterstützung oder Hilfe brauchst? Ja, Nein[12]

 

Das perfide an dieser Art der Fragestellung ist, dass beide Antwortmöglichkeiten einen Hilfebedarf suggerieren: Ja, es wurde bemerkt, dass ich Hilfe brauche. Oder: Nein, niemand hat bemerkt, dass ich Hilfe brauche. Die Möglichkeit zu antworten, dass man keinen Hilfebedarf habe und daher auch niemand diese Bemerkung tätigen könnte, existiert nicht. Diese Art der Fragestellung ist nicht objektiv, sondern gibt schon in der Frage vor, dass Sexarbeitende generell Unterstützung brauchen.

 

Neben der unprofessionellen Weise, wie Fragen gestellt werden, berichten Teilnehmende auch von Fragen, deren Inhalte an sich schon ein vorbelastetes Bild von Sexarbeit produzieren und nicht objektiv genannt werden können. So notierte ein*e Sexarbeiter*in folgenden Frageblock mit den Antwortmöglichkeiten „gar nicht, ein bisschen, ziemlich, sehr“:

 

Wie sehr belasten dich die folgenden Punkte:

Sexarbeitstätigkeit

Risiko Geschlechtskrankheiten

Finanzielle Ausbeutung

Zwang zur Arbeit

Gewalt

Spezielle Zumutungen der Kunden

Doppelleben

Beziehungsschwierigkeiten

Angst festgenommen zu werden

Gefühle der Schuld, Scham und Hilflosigkeit

Gesundheitliche Probleme

Sexuelle Probleme (z.B. Ekel)[13]

 

Die Themensetzung des Frageblocks als „Belastung“ gibt hier schon eine negative Rahmung vor. Ebenso sind einige der Fragen deutlich negativ gefärbt. Es ist keine neutrale Interviewhaltung, davon auszugehen, dass Sexarbeitende per se finanziell ausgebeutet werden oder ihre Arbeit unter Zwang erledigen. Eine offene Frage wäre, wie es Personen beispielsweise mit Finanzen oder mit ihren Beziehungen geht. Fragen so zu framen wie hier gibt aber schon einen bestimmten (negativen) Antworthorizont vor, in diesem Fall wird Sexarbeit generell als Belastung, gefährlich und problematisch gerahmt.

 

Die gleiche Kritik betrifft auch die folgende Frage mit vorgegebenen Antwortmöglichkeiten:

 

Was brauchen Sie?

Ein Zuhause/einen sicheren Ort

Schutz vor körperlichen Angriffen

Unterstützung beim Ausstieg aus dem Gewerbe

Therapie, um mit Alkohol und Drogen aufzuhören

Medizinische Unterstützung

Rechtsanwalt/juristische Unterstützung

Aufenthaltserlaubnis/legalen Status

Bessere und sichere Arbeitsbedingungen

Anerkennung der Sexarbeit als normalen Beruf/Arbeitstätigkeit

Ein anderes Tätigkeitsfeld

Professionelle Dolmetscher[14]

 

Es wird hier sehr deutlich, welches Bild von Sexarbeiter*innen von der Studie gezeichnet wird: Sexarbeiter*innen sind vermutlich wohnungslos, von Gewalt betroffen, suchtkrank, migriert mit unzureichenden Deutschkenntnissen und gehen ihrer Tätigkeit unfreiwillig nach.

 

Die Interviewer*innen betonten regelmäßig, mit standardisierten Fragebögen zu arbeiten, die in der psychologischen Forschung bereits etabliert seien. So verwendeten sie bspw. den PaSS-24 zur Erhebung von Stigma-Erfahrungen, den TIPI zur Erhebung von Persönlichkeitseigenschaften oder den CTQ zur Erhebung von Kindheitstraumata. Obwohl es sich tatsächlich um etablierte Fragebögen handelt, weichen diese jedoch in den Interviews zum Teil stark voneinander ab:

 

Der CTQ besteht bspw. aus Fragen mit einer fünfstufigen Antwortskala. Die Antwortmöglichkeiten sind „überhaupt nicht, sehr selten, einige Male, häufig, sehr häufig“[15]. Es gibt keine offenen Antwortmöglichkeiten. Im Vergleich miteinander haben wir festgestellt, dass die Interviewer*innen den Fragebogen sehr unterschiedlich einsetzen. So wurden einigen Teilnehmer*innen die Antwortmöglichkeiten „verraten“, andere bekamen lediglich die Aussagen vorgelesen (z.B. „Ich wurde als Kind mit einem Gürtel, Stock oder Kabel geschlagen“[16]). Wo ein Ja oder Nein oder eine offenere Antwort dann auf der Antwortskala von den Interviewenden eingeordnet wurde, bleibt in diesen Interviews fraglich und ist für uns nicht transparent.

 

Ob ein*e Studienteilnehmer*in allerdings von vornherein die Antwortmöglichkeiten auf einer Skala einordnen soll oder ob bei der gleichen Frage Raum zur freien Beantwortung gegeben wird, beeinflusst natürlich die Ergebnisse und macht sie nicht vergleichbar.

 

 

Forschungskontext der Studie

 

Die Aussagen zur politischen Ausrichtung der Studie sind intransparent. Während in der Ansprache von Sexarbeitenden der gesellschaftspolitische Aspekt hervorgehoben wird und dieser auch in der Beschreibung der Charité genannt wird, gibt es andere Aussagen aus direkten Gesprächen, dass die Studie keinen politischen Einfluss nehmen möchte (s.o.). 

 

Aus dem Forschungskontext der Studie lassen sich allerdings politische Verweise erschließen. In der Projektbeschreibung steht:

 

„Der Umstand, dass Prostituierte in besonderem Maße durch Gewalt belastet sind, hat in der öffentlichen Debatte bereits vor vielen Jahren die Frage aufgeworfen, inwiefern wirklich von einer freien und autonomen Entscheidung in Bezug auf die Tätigkeit ausgegangen werden kann und welche Rolle dabei die mediale Berichterstattung spielt.“[17]

 

Die Formulierung legt nahe, dass hier von vornherein von Prostitution als potentiellem Zwangsverhältnis ausgegangen wird. Dies wird z.B. auch durch die oben zitierten Fragen zu besonderen Belastungen im Job unterstützt. Die Infragestellung der prinzipiellen Entscheidungsfähigkeit von Sexarbeitenden ist aber nicht „die öffentliche Debatte“, sondern eine Diskussion, die vor allem in sogenannten Anti-Sexwork-Kreisen Raum findet und von den meisten Sexarbeitsaktivist*innen stark kritisiert wird.

 

Mit Bezug auf die Studie „Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland“ des BMFSFJ von 2005[18] wird darauf hingewiesen, „dass Prostituierte im Vergleich häufiger als andere Befragte bereits in Kindheit und Jugend, in Beziehungen oder am Arbeitsplatz Gewalt erlebt hatten.“[19]

 

Die genannte Studie des BMFSFJ zu Gewalt gegen Frauen[20] erfasst Sexarbeiter*innen als Untergruppe neben zwei weiteren Teilerfassungen zu geflüchteten Frauen und inhaftierten Frauen. Während die Hauptstudie mit 10.264 Interviews als repräsentativ gewertet werden kann, ist das für die Teilstudie zu Prostitution nicht der Fall. Es wurden insgesamt 110 Personen aus 7 Städten befragt. Diese wurden vor allem über Gesundheitsämter und Hilfseinrichtungen kontaktiert, teilweise in Bordellen, es wurde versucht, auf dem Straßenstrich Interviewpartner*innen zu gewinnen. Die Interviews konnten teilweise nicht gut durchgeführt werden, aufgrund von Müdigkeit oder Drogenkonsum der Interviewpartner*innen, aber auch aufgrund deren Zurückhaltung und Verschlossenheit gegenüber den Interviewenden: „die Interviewerinnen beobachteten, dass aus unterschiedlichen Gründen erlebte Gewalterfahrungen im Bereich der sexuellen (und teilweise auch körperlichen) Gewalt im Interviewverlauf zunehmend zurückgehalten oder nicht mehr benannt wurden“[21]. Die Studie erfasst also wenige Personen aus wenigen Städten in teilweise unter schwierigen Umständen durchgeführten Befragungen. Es ist davon auszugehen, dass die große Bandbreite sexueller Dienstleistungen nicht abgebildet wurde, ebenfalls sind vor allem Personen interviewt worden, die in Kontakt mit Hilfseinrichtungen standen, auch das ist eine Verengung der diversen Positionen in der Sexarbeit.[22]

 

Die Teilstudie des BMFSFJ zu Prostitution kann nicht kommentarlos als Grundlage herangezogen werden, wie in der Projektbeschreibung der Charité. Aufgrund der Forschungsschwierigkeiten kann sie nicht als Beweis für irgendwas gelten, vielmehr wird sie häufig für eine Dramatisierung der Situation von Sexarbeitenden genutzt.

 

Problematisch ist weiterhin, dass die Teilstudie des BMFSFJ sich in ihrer theoretischen Grundlegung auf die Forschung Melissa Farleys bezieht. Farleys Studien zu Gewalt, Trauma und vor allem PTBS bei Sexarbeiterinnen wurden für ihre manipulativen Methoden kritisiert[23] und lassen sich dem Spektrum der Prostitutions-Gegner*innen bzw. (Prostitutions‑)Abolitionist*innen zuordnen, die nicht die Verbesserung der gesundheitlichen Situation von Sexarbeitenden verfolgen, sondern die Abschaffung der Prostitution.

 

In einem Artikel der Beteiligten des Charité-Projekts im Bayerischen Ärzteblatt von 2022 wird deutlich, dass auch in dieser Studie der Fokus auf Traumatisierung bei Sexarbeitenden Forschungsvoraussetzung ist und schon vorab von einer erhöhten psychischen Belastung von Sexarbeitenden ausgegangen wird:

 

„Darüber hinaus deutete aber das Verhältnis aus Lebenszeit- und Jahresprävalenz der psychischen Störungen darauf hin, dass sich nicht nur Frauen mit psychischen Erkrankungen für Sexarbeit entscheiden, sondern dass insbesondere die Belastungen der Tätigkeit selbst, die psychische Gesundheit der Sexarbeiterinnen negativ beeinflusst.“[24]

 

Die Charité-Forschungsgruppe nennt insbesondere Suchterkrankungen und PTBS als sowohl in der Gruppe der Sexarbeitenden überproportional auffindbar, als auch bisher am meisten erforscht und bezieht sich unter anderem ebenfalls auf die Forschung Farleys.[25]

 

Sexarbeit ist ein Tätigkeitsfeld, in dem Menschen arbeiten, die häufig gesellschaftlich benachteiligt und (mehrfach) marginalisiert sind. Es ist gerade mit Blick auf die vorangegangene und teilweise sehr manipulative Forschung zu Sexarbeit und psychischen Erkrankungen wichtig, die Komplexität aus Lebensgeschichten, Diskriminierung aufgrund gesellschaftlicher Position und Stress durch die Arbeit differenziert zu erfassen und auf einfache Kausalschlüsse zu verzichten.

 

Sowohl der Bezug auf Anti-Sexarbeitsforschung als auch der pathologisierende Fokus auf Gewalt und Trauma ist aus unserer Wahrnehmung keine Forschungsperspektive, die die Bedürfnisse und Rechte von Sexarbeitenden zentrieren kann. Es ist insofern nicht verwunderlich, aber fragwürdig, dass die Forschungsgruppe in ihrer Werbung um Interviewpartner*innen nicht deutlich auf ihren Schwerpunkt zur Erfassung psychologischer Erkrankungen hinweist. In der Ankündigung steht: „Wir möchten uns ein Bild machen von Ihrer seelischen Gesundheit. Wir möchten herausfinden, was Ihnen hilft und was Ihnen schadet.“[26] Gerade weil der Diskurs um Sexarbeit hochgradig sexarbeiter*innenfeindlich geprägt ist, wäre es forschungsethisch besonders wichtig, Sexarbeitende vorab über die Ziele der Forschung aufzuklären, damit wir entscheiden können, ob wir unser Wissen für bestimmte Projekte überhaupt zur Verfügung stellen wollen.

 

 

Fazit und Kritik

 

·      Die Ansprache an Sexarbeitende ist intransparent. Während in der Werbung um Interviewpartner*innen Mental Health und die zukünftige Verbesserung gesundheitlicher Versorgung von Sexarbeitenden in den Vordergrund treten, fokussieren die Interviewfragen Gewalterfahrungen und Kindheitstraumata. Wir stellen fest, dass Teilnehmenden so ein Informed Consent unmöglich gemacht wird.

 

·      Wichtige Informationen zum Inhalt der Studie oder zur Speicherung und eventuellen nachträglichen Rücknahme der Daten werden den Teilnehmenden nicht zur Verfügung gestellt.

 

·      Die Interviews werden teilweise inkongruent geführt. Teilnehmende berichten von unterschiedlich gestellten Fragen und davon, dass teilweise Antwortmöglichkeiten vorgegeben werden, teilweise nicht. Dies beeinflusst natürlich die Antworten und macht sie nicht untereinander vergleichbar.

 

·      Der Interviewleitfaden ist teilweise tendenziös. Einige Fragen und Themenblöcke rahmen Sexarbeit von vornherein negativ und belastend und sind damit nicht als objektive Interviewfragen zu werten.

 

·      Ebenso ist bei einigen Teilnehmer*innen der Eindruck entstanden, dass Interviewende mitleidig auf Sexarbeitende blicken. Einige Interviewende schienen eine schon vorgefertigte, negative Einstellung zu Sexarbeit zu haben. Es fehlte teilweise an Grundwissen zu Sexarbeit, so wurde z.B. der Begriff „Sexarbeit“ von einer interviewenden Person in Frage gestellt.

 

·      Teilnehmenden wurden ohne Absprache schwere Diagnosen gestellt und in einem bekannten Fall ein Medikament (falsch) verschrieben. Wir verurteilen diesen Umgang mit Sexarbeitenden als fahrlässig und gesundheitsgefährdend. Wir sind keine Versuchskaninchen.

 

·      Die Studie positioniert sich im Kontext quantitativer Forschung zu Gewalt und Trauma und bezieht sich dabei sowohl auf schlecht durchgeführte Studien als auch auf explizit sexarbeitsfeindliche Forschung mit dem Ziel, Sexarbeit abzuschaffen. Dies ist nicht im Sinne von Sexarbeitenden.

 

·      Unseres Erachtens kann eine quantitative Studie mit stark eingeschränkten Antwortmöglichkeiten die Feinheiten und Komplexitäten[27] nicht erfassen, die für Diskussionen zu Sexarbeit nötig sind, die tatsächlich Sexarbeiter*innen und ihre Rechte zentrieren. 

 

Wir sehen durch das Design der Studie (quantitativer Fragebogen mit wenig Möglichkeiten zur Differenzierung) und die teilweise Unwissenheit und Voreingenommenheit der Interviewenden und sehr wahrscheinlich auch der Forschenden selbst die Gefahr, dass die pauschal erhobenen Antworten nicht der komplexen Situation von Sexarbeitenden gerecht werden, sondern im Gegenteil eher Argumente von Sexarbeitsgegner*innen unterstützen werden.

 

Wir möchten an dieser Stelle betonen, dass wissenschaftliche Forschung immer auch eine politische Äußerung ist. Das Diskursfeld „Sexarbeit“ ist stark umkämpft, restriktivere Politiken werden diskutiert und das ProstSchG von 2017 wird aktuell evaluiert. Den Forschenden der Studie „Psychische Gesundheit bei Sexarbeiterinnen" muss klar sein, dass sich ihre Studie in einem wissenschaftlich, politisch und moralisch hoch umkämpften Feld platziert.

 

Die vielen Unstimmigkeiten, zusammen mit intransparentem Forschungsdesign den Interviewten gegenüber, einem Fokus auf Pathologisierung und Bezug auf teilweise zweifelhafte Forschungswerte, lassen uns an der Aussage der Charité zweifeln, dass die Forschung dem Wohl von Sexarbeitenden diene.

 

Deswegen ziehen wir das folgende Fazit: 

 

Wir sehen die Studie „Psychische Gesundheit bei Sexarbeiterinnen: Eine Querschnittserhebung (PsychSex)“ als potentiell gefährlich für die Teilnehmenden und ethisch fragwürdig in der Durchführung und Ausrichtung.

Eine ethisch vertretbare Forschungshaltung Sexarbeiter*innen und insbesondere vulnerablen Kolleg*innen gegenüber ist unseres Erachtens nach nicht gegeben.

 

Die Studie „Psychische Gesundheit bei Sexarbeiterinnen: Eine Querschnittserhebung (PsychSex)“ birgt das Risiko, eine weitere einflussreiche Forschungsarbeit zu sein, die wenig mit den tatsächlichen Forderungen von Sexarbeitenden zu tun hat und dafür umso mehr mit der Pathologisierung und Reglementierung unserer Community und unseres Berufs.

 

Aus diesem Grund empfehlen wir, die Studie abzubrechen. Dieses Schreiben mit unserer Empfehlung werden wir auch an die Ethikkommission der Charité und an den Deutschen Ethikrat weitergeben, mit der Bitte um eine öffentliche Stellungnahme durch die Ethikkommission der Charité.

 

An die Beteiligten der Studie insbesondere formulieren wir folgende Bitte:

 

Bitte nehmen Sie die formulierte Kritik ernst und führen Sie Ihre Studie nicht weiter fort.

 

Setzen Sie sich kritisch mit ihrem Forschungsgegenstand und Ihrer Forschungsverantwortung auseinander und reflektieren Sie die momentan in Ihrer Studie inhärente Sexarbeitsfeindlichkeit.

 

Bilden Sie sich weiter zu verantwortungsvoller Sexarbeitsforschung.

 

Für ein Positivbeispiel, sowohl im Umgang mit den Befragten als auch im gesamten Forschungsdesign, verweisen wir auf das partizipative Peer-Forschungsprojekt „Sex Work and Mental Health: Access to Mental Health Services for People Who Sell Sex“[28]. Weiterhin empfehlen wir die Expertise der Gesellschaft für Sexarbeits- und Prostitutionsforschung (GSPF)[29] und deren im Feld der Sexarbeit erfahrenen Wissenschaftler*innen.

 

 

 

 

Kontakt: KommentarCharite@gmx.de

 




[1] https://psychiatrie‑psychotherapie.charite.de/forschung/interkulturelle_migrations_und_versorgungsforschung_sozialpsychiatrie/ag_interkulturelle_migrations_und_versorgungsforschung/forschungsprojekte/ (abgerufen 18. Juni 2023)

[2] https://www.instagram.com/p/Cr7-fw-M6sJ/ (abgerufen 18. Juni 2023)

[3] Vgl. ebd.

[4] https://www.instagram.com/p/Cj8leQ7jTFz/ (abgerufen 18. Juni 2023); da Instagram häufig Profile mit Inhalten zu Sexarbeit löscht, sind bestimmte Wörter im Text zensiert.

[5] https://psychiatrie‑psychotherapie.charite.de/forschung/interkulturelle_migrations_und_versorgungsforschung_sozialpsychiatrie/ag_interkulturelle_migrations_und_versorgungsforschung/forschungsprojekte/ (abgerufen 18. Juni 2023)

[6] https://www.instagram.com/p/Cj8mON7DfG0/ (abgerufen 19. Juni 2023)

[7] Information aus persönlichem Gespräch.

[8] Alle im Folgenden genannten Informationen aus dem Interviewablauf kommen von Teilnehmenden der Studie. Wir haben Interviews mitgeschrieben, aufgenommen und transkribiert, abfotografiert, untereinander Fragen verglichen und uns über Interviewtechniken ausgetauscht.

[9] Situation und Zitat aus der Erinnerung einer*s Teilnehmer*in.

[10] https://www.bfarm.de/SharedDocs/Downloads/DE/Arzneimittel/Pharmakovigila... (abgerufen 26. Juli 2023)

[11] Audiotranskription des geführten Interviews.

[12] Audiotranskription des geführten Interviews.

[13] Teilweise Audiotranskription des geführten Interviews, teilweise von einer*m Teilnehmer*in vom geteilten Bildschirm abfotografiert.

[14] Audiotranskription des geführten Interviews.

[15] Teilweise Audiotranskription von geführten Interviews, teilweise von Teilnehmer*innen vom geteilten Bildschirm abfotografiert.

[16] Audiotranskription des geführten Interviews, als Vergleich dazu vom Bildschirmfoto der gleichen Frage: „... wurde ich mit einem Gürtel, einem Stock, einem Kabel oder mit einem harten Gegenstand geschlagen.“

[17] https://psychiatrie‑psychotherapie.charite.de/forschung/interkulturelle_migrations_und_versorgungsforschung_sozialpsychiatrie/ag_interkulturelle_migrations_und_versorgungsforschung/forschungsprojekte/ (abgerufen 18. Juni 2023)

[18] https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/studie-lebenssituation-sicherheit-und-gesun... (abgerufen 18. Juni 2023)

[19] https://psychiatrie‑psychotherapie.charite.de/forschung/interkulturelle_migrations_und_versorgungsforschung_sozialpsychiatrie/ag_interkulturelle_migrations_und_versorgungsforschung/forschungsprojekte/ (abgerufen 18. Juni 2023)

[20] Die Studie erfasst „Frauen“ und versteht Geschlecht als Zweigeschlechtlichkeit.

[21] https://www.bmfsfj.de/resource/blob/84328/3bc38377b11cf9ebb2dcac9a8dc37b... (abgerufen 18. Juni 2023), S. 477 im Gesamttext, S. 13 in der Teilerhebung.

[22] Vgl. ebd. (abgerufen 18. Juni 2023), S. 475ff. im Gesamttext, S. 11ff. in der Teilerhebung.

[23] Gerhard Walentowitz (2019): Sind Prostituierte traumatisiert? Eine kritische Auseinandersetzung mit Melissa Farley, https://www.donacarmen.de/wp-content/uploads/SIND-PROSTITUIERTE-TRAUMATI... (abgerufen 18. Juni 2023)

[24] Meryam Schouler-Ocak et al. (2022): Psychische Folgen der Sexarbeit; https://www.bayerisches-aerzteblatt.de/fileadmin/aerzteblatt/ausgaben/20... (abgerufen 19. Juni 2023)

[25] Vgl. ebd. (abgerufen 19. Juni 2023)

[26] https://www.instagram.com/p/Cj8mON7DfG0/ (abgerufen 19. Juni 2023)

[27] Sexarbeitende sind eine vulnerable und schwer zu erreichende Gruppe, sie sind stark von Stigmatisierung und (häufig mehrfacher) Diskriminierung betroffen. Ihre Lebensläufe und Positionierungen weichen häufig mehr oder weniger stark von der gesellschaftlichen Norm ab. Normierte, also auch an einer Norm ausgerichtete Fragebögen können dies gegebenenfalls nicht adäquat erfassen.

[28] Giulia Garofalo Geymonat, P.G. Macioti, Nicola Mai (2021): Sex Work and Mental Health: Access to Mental Health Services for People Who Sell Sex, https://www.sexworkmentalhealth.org/_files/ugd/65f262_75618d0bae824482bd... (abgerufen 27. Juli 2023)

[29] www.gspf.info

webadresse: 
https://ia904508.us.archive.org/32/items/kommentar-psych-sex/Kommentar%20PsychSex.pdf
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