“FULL METAL YELLOW JACKET”
Alèssi Dell’Umbria – In der Übersetzung von Ambrosia Volland
“Ein einziger Slogan wird einstimmig von allen gelben Westen akzeptiert, ‘Macron démission’ [Macron: Rücktritt].”
„Schreckliche Provinzler!“ (*0)
Ludwig XVI., 21. Januar 1793
Lasst uns unseren Freuden nicht fernbleiben! Die Bewegung gegen das ‘loi travail’ [ „Reform des Arbeitsgesetz“] im Frühjahr 2016, die Verteidigung der ‘ZAD’ gegen des Flughafenprojekts NDDL im Frühling 2018 und schließlich die im Herbst entstandene Bewegung der ‘Gilets Jaunes’, die sich noch immer weiter entfaltet: Der Geist der Epoche zeigt sich jedes Mal in neuen Formen des Aufstandes. Im ersten Fall der cortège de tête [Frontblock der Demo. Demonstrationen wurden traditionell von den Gewerkschaften angeführt, hier jedoch erstmals von Gruppen aus der antagonistischen Linken], im zweiten Fall die Verteidigung eines gemeinschaftlichen Terrains im ländlichen Raum, und schließlich die unkontrollierbaren Blockaden und Demonstrationen im letzten Fall.
Ein unbekanntes, aber doch vertrautes Gebiet beginnt gerade eine politische Existenz anzunehmen. Die ‘Gilets Jaunes haben sich in der Tat in einem peripheren Raum aus „Nicht-Orten“ breitgemacht: Kreisverkehre, Mautstellen, die Parkhäusern der Einkaufszentren. Achsen der Zirkulation, welche die atomisierte Funktionen der neuen städtischen Mittel- und Oberklasse organisieren und regulieren. In dieser banalen Umgebung des Alltags, in der Millionen jeden Morgen und Nachmittag im Stau stecken, schien es als ob ‘Ereignisse’ bis zur Unmöglichkeit neutralisiert wären. Statistiken zufolge lebt etwa die Hälfte der französischen Bevölkerung in dieser Peripherie, unsichtbar in ihrer Verzweiflung… Für ihre Sichtbarwerdung mussten sie erst eine gelbe Weste überstreifen, so wie andere eine Sturmhaube oder einen schwarzen Windbreaker benutzen… Die Tatsache, dass das Komitee Adama Traoré (a) sehr schnell zu den Kundgebungen der ‘Gilets Jaunes’ in Paris aufrief ist ein Beleg; Beaumont-sur-Oise, der Punkt an dem die Pariser Banlieus und das Umland der Ile-de-France zusammenkommen, verkörpert genau diese Peripherie der Metropole, welche eine politische Existenz angenommen hat (hier nach der Ermordung Adama Traorés) und sie nicht wieder herzugeben beabsichtigt.
Um einen nicht unbelasteten Begriff zu verwenden, könnte man sagen, dass es eine im wesentlichen provinzielle Bewegung ist, auf eine völlig neue Art und Weise. In kleinen Städtchen, wo nie etwas los ist, kommt es zu Demonstrationen und Unruhen, genau dort, wo der Staat Bahnhöfe, Postämter, Schulen und Frauenkliniken schließen lässt. Warum auch öffentliche Gelder für die ausgeben, die irgendwie auch noch da sind. [***1] Die ‘Gilets Jaunes’ tauchen überall auf. Einen allgemeinen Aufstand in Nantes, St. Nazaire, Caen, Rouen gab es noch nicht, ist eher unwahrscheinlich… Aber in Beauvais, Bar-le-Duc, Narbonne, Le Puy, Angers ist er eine Sensation. Wir wissen, dass die überwiegende Mehrheit der Aufständischen, die am 1. und 8. Dezember die „besseren“ Pariser Bezirke verwüsteten, aus der Provinz kam. Ihr Umherziehen durch Paris kam eher den Bewegungen von Hooligans in feindlichem Gebiet gleich, als dem einer traditionellen Demonstration der Gewerkschaften. In dieser Hauptstadt der nationalen Eliten sitzt die Verachtung für die kleinen Leute aus der Provinz tief, und hier bekam sie die Quittung. Es wurde schon öfters gesagt, dass Paris, inzwischen fast völlig befriedet und gentrifiziert, nur noch geplündert und verwüstet werden kann. Aber noch nie zuvor wurde diese Behauptung in so vorbildlicher Weise in Handlungen umgesetzt.
„Die Provinz“ ist ein typisch französisches Konstrukt. In dieser Alltagssprache stellt sich die hierarchische Organisation der Nation dar, auf den Berg nach Paris und hinab in die Provinz. Auf der Spitze der Pyramide thront die Hauptstadt, deren Lichter das ganze Hexagon erhellen. Allgemein gesprochen, wird in der gegenwärtigen Konfiguration des Kapitalismus die Beziehung von Zentrum und Peripherie eher als Netz, denn als konzentrisch gesehen. Dies ist jedoch in Staaten, die so zentralistisch wie Frankreich strukturiert sind, nicht der Fall. Unvermeidlich überschneiden sich die Netzwerke der Zirkulation mit der nach wie vor entscheidenden konzentrischen Organisation des Territoriums. Auf dem Weg hinauf nach Paris, um die Bourgeoisie des 8. Arrondissement zu terrorisieren, stürzten die Gilets Jaunes die Pyramide um.
Aber der „periphere Charakter“ der Bewegung ist nicht nur geografisch und politisch. Hier wird eine weitere Zentralität in Frage gestellt, die der Fabrik, die für so lange Zeit die Achse war, um die sich die Bewegungen drehten. Nun ist es nicht mehr das Unternehmen, das den zentralen Ort der Zusammenkunft darstellt. Die Menschen, die sich bei den Blockaden trafen, kannten sich in den meisten Fällen vorher nicht. Ihre Komplizenschaft begründete sich in einem freiwilligen Akt, den man politisch nennen kann. Daher die Verzweiflung der Gewerkschaften im Angesicht dieser Bewegung und so sie beeilten sich Anfang Dezember einen Nichtangriffspakt mit der Apparat von Macron zu schließen [nur der unabhängige Gewerkschaftsverband ‘Solidaires’ und einige Regionalgruppen der ‘CGT’ lehnten diese Zusammenarbeit ab]. Dies ist auch ein Gradmesser für den Verfall der Organisierungsform Gewerkschaft, die im Übrigen bereits im Frühjahr 2016 [Bewegungszyklus gegen das ‘loi travail’] erkennbar wurde.
Laut der Marxschen Analyse lag die Entstehung des Tauschwertes in der Produktion, die Zirkulation der Waren ließ sie nur ihren Wert realisieren. Aber in dieser Dynamik des Kapitalismus sind alle Momente von einander abhängig und haben ihre Realität nur in Bezug auf die Gesamtheit, die sie so bilden. Zuerst, weil die Zirkulation den Waren ihren Wert hinzugibt und den Profit generiert, (in dem Sinne, dass sich eine ganze Industrie bildet, welche die Zirkulation sicherstellt, bestehend aus den Banken, Versicherungen, Marketing, Transport, Lagerung, Großhandel, ganz zu schweigen von den Aktivitäten, die damit verbunden sind…) [1], es wird jedoch sogar schwierig die beiden Momente voneinander zu trennen. Dies wird bei Produktion wie zum Beispiel Elektrizität klar; die Produktion eines Kernkraftwerk ist unvorstellbar ohne Hochspannungsleitungen, welche den Strom verteilen, dasselbe bei einer Ölraffinerie mit ihren Versorgungsleitungen, Lagern, und Tankstellen. Gleichermaßen können die in China hergestellten Textilien nur für die riesigen Containerschiffe produziert werden, welche die kostbaren T-Shirts zu den Häfen des Westens transportieren – und niemand wird behaupten können, dass die Seeschifffahrt keinen Wert schafft. In den Extremen verkörpert das Internet die reine Zirkulation des Werts, die fast unabhängig von der Ausbeutung lebender Arbeitskräfte ist – doch für die elektronischen Werkzeuge und Computer ist es notwendig, dass sie in einer Fabrik hergestellt wurden … Insofern wird es problematisch, einen Teil der Aktivität, also die Produktion im Verhältnis zur Gesamtarbeit und zur Zirkulation, isoliert zu verstehen. Bereits die italienischen Genossen der 70er Jahre sprachen von der Fabrikgesellschaft – was ehrlich gesagt ein Oxymoron darstellt – eine Fabrik ist keine Gesellschaft, sondern ein System. Von einer globalen Fabrik zu sprechen, erscheint uns in einer Zeit angemessen, in der kapitalistische Unternehmen alles, was im Fabrikationsmodus existiert, was Fabrik ist, erfasst und umgestaltet. Die Hubs, seien sie auf See, am Flughafen oder auf der Straße, ein Gewerbegebiet, sogar eine Autobahn, sie alle sind [nur] so viele Rädchen in dieser globalen Fabrik. Die Unterscheidung zwischen privatem und öffentlichem Raum, die das Verhältnis von Zivilgesellschaft und Staat seit der Französischen Revolution bestimmt hatte, verblasste nun unter dem Einfluss der Dispositive, der eigentlichen Macht, welche die Zirkulation der Individuen organisiert. In der globalen Fabrik verliert die Gesellschaft ihre Mächtigkeit, während der Staat nicht mehr als ein Dienstleister ist.
Die großen Zyklen der Arbeitskämpfe endeten mit der Krise des fordistischen Systems. Ab der zweiten Hälfte der 70er Jahre bestanden die meisten Kämpfe in Westeuropa im Widerstand gegen die Schließung von Unternehmen und damit gegen die Atomisierung der Arbeiter – und alle endeten [***2] in grausamen Niederlagen. Stahl, Minen, Werften, dann die anderen Sektoren der Industrie, alle Hochburgen der Arbeiterklasse sind hinüber. Wir könnten den geschichtlichen Moment datieren, an dem alles unwiederbringlich abgleitet: Er beginnt mit der Niederlage der FIAT-Arbeiter in Turin im Herbst 1980, setzt sich fort in Frankreich mit der Niederlage der ungelernten migrantischen Arbeiter von Talbot 1983 und endet mit jener der britischen Bergleute im Frühjahr 1985. Der in Westeuropa so abgeschlossene Zyklus tritt nun in Indien oder China wieder hervor…
,Die Tatsache, dass die Zentralität der Fabrik für die Kämpfen nun überwunden ist, bringt die Hypothese mit sich, dass die nächsten Aufstände die Unternehmen von außen übernehmen würden, nicht umgekehrt (in marxistischen Begriffen formuliert, würden sie die Zirkulation verlassen um die Produktion zu ergreifen). In Kürze: (wie die Bewegung der ‘Gilets Jaunes’) Die von der Peripherie ausgeht, um das Zentrum zu belagern. Nicht mehr aus der Perspektive der Selbstverwaltung, in der Arbeiter die Fabrik übernehmen, sondern eben aus der umgekehrten Perspektive. Kräfte von außerhalb, ins Leben gerufen aus einem Bruch mit der Logik der globalen Fabrik würden die Fabrik übernehmen, um sie ihren besonderen Bedürfnissen entsprechend umzugestalten. Natürlich sind wir dort noch nicht angelangt, aber dass sich die Revolten der Peripherie vervielfachen, begonnen mit dem Aufstand der Banlieus 2005 bis hin zur aktuellen Bewegung der ‘Gilets Jaunes’, zeigt, dass ein neuer Zyklus begonnen hat, der sich stark von dem vorherigen unterscheidet, und welcher uns noch immer überraschen kann.
,Bei den ‘Gilets Jaunes’ bezieht sich alles auf die Zirkulation, sowohl die ursprünglichen Forderungen als auch die ‘Nicht-Orte’, an denen sie formuliert wurden. Es ist vielleicht das erste Mal, dass von dort aus eine Bewegung dieser Größenordnung auftritt, ausgehend von der Ablehnung der Erhöhung der Kraftstoffsteuer. Und es gibt keinen Mangel an umweltfreundlichen Fahrradwegen über den man sich amüsieren kann. Aber in einer Welt, die auf verpflichtender Mobilität basiert, ist der Kraftstoffpreis nicht jungfräulich, außer man lebt und arbeitet im Stadtzentrum (und wir alle wissen wer die französischen Stadtzentren besetzt…). Der Arbeiter aus den Vororten ist buchstäblich von diesem Dispositiv gefangen, welches ihn zwingt zu arbeiten, um sein ihm notwendiges Auto zu bezahlen…, um zur Arbeit zu kommen! Die Aktionen sind daher auf die Verkehrskreisel fokussiert, auf Mautstellen, Parkhauseinfahrten, die Elemente dieses Dispositiv. Vor 200 Jahren rebellierte der Pöbel gegen den Anstieg des Brotpreises, jetzt rebelliert er gegen den Anstieg des Benzinpreises. [2]
Was die Frage des Kraftstoffs zu einer höchst strategischen macht, hat unsere Regierung längst verstanden. Auf dem Höhepunkt des Generalstreiks vom Mai 1968 orchestrierten sie eine Benzinknappheit (als große Lagerbestände verfügbar waren), um dann am Tag vor dem langen Pfingstwochenende die Tankstellen wieder zu beliefern… und Millionen Franzosen, die “dem Geschehen” als Zuschauer folgten waren erleichtert, und beeilten sich auf die Autobahnen zu gelangen. Diese Intrige war ohne Zweifel ein stärkerer Schlag gegen die Bewegung als die halbe Million Demonstranten für De Gaulle auf den Champs-Elysées. [3]
Im Gegensatz zu denen der fordistischen Ära, die als Masse arbeiteten, haben die heutigen atomisierten Arbeiter keinerlei Handlungsspielraum mehr in ihren Löhnen; sie stagnieren, während alles teurer wird, so müssen sie gegen die Last der Steuern auf ihre Einkommen kämpfen. In der Linken weisen einige darauf hin, dass damit das klassische Thema der liberalen Ideologie, die Steuersenkung, aufgenommen wird, und das gilt sicherlich für einen Teil der ‘Gilets Jaunes’, Kleinunternehmer und Händler. Aber die Mehrheit erkennt, dass eine Steuersenkung, so es sie gibt, wohl nur für sehr hohe Einkommen gilt, besonders seit der Abschaffung der Vermögenssteuer. Darüber hinaus, so wie die Frage nach dem Lohn am Unternehmen hängt, so hängt die Frage der Steuern am Staat. Sie nimmt daher automatisch eine politische Dimension an (wissend, wie bedeutend der Anteil der Kraftstoffsteuer am Staatshaushalt ist…) [4] Aus diesem Blickwinkel betrachtet, ist die Außerbetriebsetzung der Mautstationen und die Zerstörung der Funkstationen [für die automatische Mautabbuchung] durch die ‘Gilets Jaunes’ ein Zeichen, dass diese Gaunerei zunehmend als eine Art des Profits verstanden wird, die dem eines ‘Ancien Régimes’ würdig wäre. Nur, dass diesmal nicht die Bauern die Menschen ernähren müssen, sondern den Staat und die Autobahnbetreiber wie Vinc i… Weiterhin kann niemand übersehen, dass in den letzten Wochen viele ‘Gilets Jaunes’ von Steuerthemen mehr zu sozialen Forderungen übergegangen sind (speziell die Erhöhung des Mindestlohns), wenn auch die Wiedereinführung der Vermögenssteuer noch immer ganz oben auf der Liste der Forderungen steht.
Unter dem ‘Ancien Régime’ gab es ständig steuerfeindliche Revolten, besonders im 17. Jahrhundert, als sich die absolute Monarchie konsolidierte. [5] Mit der Französischen Revolution gab es nun eine völlige Umkehrung: Die Steuerzahlung wurde zu einem staatsbürgerlichen Akt, wie auch sich der Flagge zu verpflichten. (Wenn man bedenkt, dass die Menschen früher weggelaufen sind, wenn der Sergeant kam um sie zu rekrutieren). Dies war der historische Kraftakt der Bourgeoisie, und wir können nicht sagen, dass bereits alle seine Effekte der Vergangenheit angehören. Seitdem wird die Weigerung Steuern zu zahlen den Gesten des ‘Ancien Régime’ gleichgestellt. Eine Linke, die nicht über die republikanischen Institutionen hinaus denken kann, kann diese Fragen nicht mehr stellen. In der politischen Polarität des rechts-links war die steuerfeindliche Haltung das Vorrecht der liberalen Rechten, während die keynesianische Linke eine steuerfinanzierte Umverteilung durch staatliche Mechanismen befürwortete. Doch nun, wo Linke und Rechte sich auf die gleichen Positionen ausgerichtet haben, kann die antiquierte Tradition der steuerfeindlichen Revolte wieder zum Vorschein kommen … Es ist dann aber recht paradox, dass sie sich dabei auf die Französische Revolution beziehen – Die Tricolore [***4], die Marseillaise, Demonstranten mit phrygischen Kappen…
In anderthalb Monaten werden die Gilets Jaunes das geschafft haben, was die Gewerkschaften in zwei Jahrzehnten nicht vollbringen konnten. Nicht von Gewerkschaftskadern organisiert, sind die ‘Gilets Jaunes’ auch nicht an institutionalisierten Handlungsweisen gefesselt, oder werden von subventionierten Bürokraten missbraucht. Und dies ermöglicht dann auch diese wunderbaren Riots in diesem Paris, in das die Provinz-Proletarier wiederholt angereist sind… (und selbst wenn einige ‘Gilets Jaunes’ den Vandalismus nicht akzeptieren, so macht doch ihre Anwesenheit ihn erst möglich … und hier gibt es keine Ordner der Gewerkschaften, die die Exzesse unterbinden könnten). Das Umherziehen könnte also die klassische Demonstration ersetzen. Während der antagonistische Frontblock immer von den Gewerkschaftsdemonstrationen abhing, und am 1. Mai 2018 auch seine Begrenzungen erfuhr [hier war der Frontblock ebenso groß wie der Gewerkschaftsblock, mit einem riesigen schwarzen Block. Und dies bei einem Event ohne weiter weisende Perspektive]. Die Masse ist befreit von der Idee des Umzugs, und „lässt sich treiben“! Auf den Alleen der Innenstadt, den repräsentativen Orten par excellence, marschieren die Gewerkschaftsparaden, auf eine Weise diszipliniert und gleichzeitig disziplinierend. Dagegen war das Hin und Her [***5] der ‘Gilets Jaunes’ im November und Dezember 2018 von Anfang an von Diffusität und Bewegungsfreiheit geprägt.
Aber es scheint, als ob es immer mehr verdirbt; seit Mitte Dezember werden die Pariser Wegstrecken vorher bei der Präfektur hinterlegt. Und beim Marsch am 12. Januar tauchten Ordner nach dem Vorbild der Gewerkschaften auf – wer hat diese bestellt? Es ist kein Zufall, dass diese genau in dem Moment erscheinen, als Repräsentanten beginnen die Leitung zu übernehmen… In den Provinzstädten jedoch haben sich die ‘Gilets Jaunes’ ihre fröhlich unkontrollierbare Richtung des Umherziehens erhalten und wie oben erwähnt spielt „die Provinz“ die entscheidende Rolle für die Bewegung. Am 12. Januar in Marseille lies das Hin – und Herziehen der ‘Gilets Jaunes’ die Repressionsbehörden verzweifeln, völlig verrückt werden. Es folgte einer Zickzack-Route die niemand erwartete, man zog sogar durch einen Autobahntunnel, und den Robocops ging die Luft aus.
Die Blockaden nahmen oft die Form eines ‘Lagers’ an und erinnerten so an militante Besetzungen [wie z.B. beim Widerstand gegen den Flughafen NDDL]. Daher stellt sich die Frage: Haben wir hier nicht die Voraussetzungen für einen “aufständischen Urbanismus” der Zukunft? Was könnten wir mit den ganzen Orten machen, für die es nur taktisches Interesse gibt, nämlich die des Aufenthalts auf den Zirkulationsachsen der Kraftfahrzeuge. Noch nie seit den Aufständen der Banlieus 2005 war die Kritik des Urbanismus real so präsent. Die Beschwörung des ‘Ereignisses’, das war die Bedeutung dieser unerbittlichen Erweiterung der globalen Fabrik. Der eng getaktete Warenfluss, welcher den Raum organisiert, kann nicht erlauben, dass ein ‘Ereignis’ geschieht – ein Unfall, ein Erdbeben, eine Blockade, ein Aufstand… In diesem Moment ist er extrem verletzlich, ausgeliefert wie das fordistische Fließband der einfachen Sabotage. Es ist nicht von ungefähr, dass die ‘Gilets Jaunes’ an mehreren Stellen die Zufahrten zu Amazon – Verteilerzentren blockierten, ein ikonisches Unternehmen, wenn es denn je eines gab [6]…
Die ‘Lager’ stellen sich als eine elementare Kommunikationsform dar, von Occupy Oakland zum Taksim-Platz, von der Setzling auf dem Zocalo [zentralen Platz] in Oaxaca zu den Camps der Lakota Range, von der ZAD NDDL bis hin zur Besetzung des Susatal. Die Konstruktion des Raumes wird zuerst als eine politische Affirmation gesehen. Während dem Demonstrationszug der durchschrittene Raum gleichgültig bleibt, führt eine Besetzung zur Produktion von etwas gemeinsamen, was den Ort neu gestaltet. In dieser Hinsicht sind die Blockaden der ‘Gilets Jaunes’ das Gegenteil der ‘Nuit Debout’. Während diese Versammlungen nur zentrale Plätzen in Beschlag nahmen und damit der hierarchischen Ordnung gehorchten, die den Raum in städtisch und suburban ordnet und sich dem Primat der Sprache hingab, finden sich die ‘Gilets Jaunes’ – Blockaden fast immer in Randgebieten oder auf den großen Zirkulationsachsen. Ihr Primat ist das der Aktion der Blockade und so den Beziehungen, welche sie zwischen den Teilnehmern herstellt. Dies ist die große Innovation dieser Bewegung. Und wenn die Organisatoren von ‘Nuit Debout’ mit der Präfektur über die Möglichkeit verhandelt hatten, am Ort bleiben zu können, bleiben die Initiativen der meisten Blockaden ohne Forderungen.
Eine einzige Forderung ist allen ‘Gilets Jaunes’ gemeint: “Macron démission” [Macron: Rücktritt]. Dieses Land, welches seinen König zur Guillotine schickte, ist auch zwei Jahrhunderte später das monarchistischste in Europa – daher auch die typische Wut der Sans- Culotten, welche die ‘Gilets Jaunes’ antreibt [7]. Aber der Monarch ist nicht mehr als heilige Figur eingesetzt, wie es unter dem ‘Ancien Régime’ war: Die Franzosen wählen einen König und dann, nach ein paar Monaten, hassen sie ihn. So ist der Monarch von heute ein Produkt, obsolet, so wie alles, was heute produziert wird. Nach Sarkozy, dem Kokser und dem manisch-depressiven Hollande, ist es nun der eingebildete Modenarr, angetreten, um dem Zweiparteien-System, dass bisher die 5. Republik beherrschte, ein spektakuläres Ende zu bereiten.
Die Tatsache, dass er noch nie zuvor gewählt worden war, machte ihn zum richtigen Mann für die Sache: Während die politische Klasse, bestehend aus Bürgermeistern, Präsidenten von General – und Regionalräten, aus Abgeordneten und Senatoren, noch in klebrigen Abhängigkeitsbeziehungen steckte, befreite die ‘Macronie’ die Regierung von solcher Last. Von nun an zeigt der Staat in kühler Behauptung, dass er nur mehr ein Dienstleister des Kapitals ist. Keine ausgehandelten Vereinbarungen mehr, sondern nur noch Anordnungen. In dieser Hinsicht wird der Austausch der Zivilgesellschaft durch die globale Fabrik von der ‘macronischen’ Regierung geweiht. Die präsidiale Arroganz, die bis zur Beleidigung reicht (diese armen Scheißer!), reproduziert die Prozesse des modernen Unternehmens, welche selbst von den Trainings- und Erziehungstechniken der Spezialeinheiten der Armee inspiriert sind.
In der Bewegung der ‘Gilets Jaunes’ nimmt das Volk daher den Platz der Zivilgesellschaft ein, welche den Staatsbürgern [***6] so wichtig ist. Ein Signifikant, der mit einem Schönheitsfehler behaftet ist – vor der Französischen Revolution hätte man von der abscheulichen Masse oder dem Pöbel gesprochen. Das Volk konstituiert sich nur in seiner Spiegelung im Staat als homogene Einheit, dem Monarchen entgegen gesetzt (die berühmten 99%….) und der monarchische Charakter der Präsidentschaft Macrons verschärft diese Doppelreflexion weiter. Das Volk bezieht sich aber auf die Nation und damit den republikanischen Staat, die Produkte der Französischen Revolution. Der Ausgangspunkt der Demagogie, sowohl des Front National als auch von France insoumise, ist es eine Wahrheit zu postulieren, die der Sache innewohnt; das Referendum erlaubt es dann, diese zu liefern. “Der linke Populismus sollte diese Affekte auf demokratische Ziele ausrichten”, sagt Chantal Mouffe, und ergänzt: “Das Volk ist immer ein kollektives Subjekt, das diskursiv konstruiert ist. Solch eine solche Konstruktion erfolgt notwendigerweise durch Ausgrenzung – der Immigrant, der Sozialhilfeempfänger, usw. – das scheint die Anhänger dieser Unterart des ‘Gramcismus’ nicht zu stören, und die Politiker welche ihn [den Begriff des Volks] für sich einnehmen, teilen die gleichen Themen in ihre symmetrischen Gegensätze: Der Demagoge Ruffin schwingt Lobreden auf den Verwirrer [***7] Chouard, während Mélenchon seine Faszination für die Figur des Drouet erklärt… Der Populismus besteht darin, den Affekten, die diese Welt produziert zu schmeicheln und sie positiv zu erhalten, während eine revolutionäre Haltung Erwartungen auf eine Zukunft setzt, welche im Laufe des Kampfes neue Formen einer politischen Sensibilität gebärt. Wir verlieren nie aus dem Blick, dass die treibende Kraft hinter der ganzen Bewegung die Negation ist. In all diesen rebellischen Lagern, welche sich überall auf der Welt vermehren, übergibt die transzendente Gestalt des Volkes ihren Platz der Immanenz des Gemeinsamen.[8]
Die bis zum Ende des Fordismus klar identifizierbaren sozialen Schichten haben sich somit verflüssigt – was sich im Neologismus der “classe gueule” [„die Klasse, die die Fresse aufreisst“] zeigt, welcher gerade deshalb von Bedeutung ist, weil sich niemand damit identifiziert. In reichen Ländern wie Frankreich wäre eigentlich fast jeder Mittelklasse, abgesehen von der Bourgeoisie an der Spitze, und den migrantischen Arbeitern und den Arbeitslosen an der Basis! Man könnte zum Beispiel sagen, dass ein Hafenarbeiter aus Marseille durch seine Arbeit Teil der alten Arbeiterklasse ist, seine Lebensweise und Wünsche (ein Haus bauen, Kredite aufnehmen, seine Kinder zum Studium schicken und Urlaub in einem Traumziel) ihn aber zum Teil der neuen Mittelschicht macht. Die ‘Gilets Jaunes’ identifizieren sich hauptsächlich als Arbeiter (auch die im Ruhestand, von denen es viele in der Bewegung gibt), aber das paradoxe ist, dass sie dies außerhalb der Sphäre der Arbeit tun. Ihre wiederholte Beschwerde lautet: “Wir arbeiten und es reicht nicht” (Die Variante für Rentner: “Wir haben ein Leben lang gearbeitet und jetzt kaum genug zu essen”). All diesen Menschen wurde Glauben gemacht, dass ein Leben in harter Arbeit früher oder später mit einem gewissen Wohlstand belohnt werden wird; aber nun erkennen sie gezwungenermaßen, dass diese Perspektive nicht mehr als eine Leiter ohne Ende ist, auf der sie ihr ganzes Leben lang klettern werden [9].
Einer der interessantesten Texte, die über diese Bewegung veröffentlicht wurden, bezieht sich auf eine “Tragödie des Mittelstands” welche sich im Verhältnis zum Geld äußert [10]. “Die Geldsorgen sind von Dauer, vor allem seid wir endlich welches haben. Du bist Mittelschicht, wenn du genug Geld verdienst, um bewusst oder unbewusst, direkt oder indirekt, immer nur daran zu denken. (…) Es gibt vielleicht keine soziale Position, in der man besser weiß, was Geld ist.”
Wir könnten hinzufügen: Während für die Ärmsten Geld nur eine Notwendigkeit ist, während für die Reichen das Geld der Ausdruck der Freiheit ist, ist die Mehrheit der Arbeiter in ihrem Verhältnis zum Geld ständig zwischen diesen beiden Extremen hin- und hergerissen – und genau so gibt es effektiv eine Mittelschicht! Es ist das Prinzip des Spektakels, ständig diese Freiheit glitzern zu lassen – zum Beispiel, sich im eigenen Auto frei bewegen zu können… Dass diese Freiheit des Spektakels bedingt ist durch alltägliche Sklaverei [***8], ist eine Erfahrung, die jeder auf intime Weise macht, ohne sie jemals ausdrücken zu können. Und das macht die Menschen krank, im wörtlichen Sinne. Zudem dürfen wir nie vernachlässigen, dass es der therapeutische Aspekt des Aufstandes ist, der ihm politische Macht gibt.
Solange der Staat die Perspektive eines Wartens auf Volksaufstände einnimmt, bereitet er unweigerlich den nationalistischen Demagogen das Bett. Es ist daher kein unschuldiges Ereignis, dass Macron mit dem Vorschlag des ‘RIC’, der Volksabstimmung, seinen Joker gezogen hat. Während sich die ‘Gilets Jaunes’ in Richtung sozialer Forderungen entwickeln (Erhöhung des Mindestlohns und besonders der Renten), wird versucht diese Entwicklung abzuwürgen, indem das ‘RIC’ als Wunderlösung dargestellt wird, die einen Ausweg aus dem so unbeliebten Regime darstellen würde. Gleichzeitig bietet das ‘RIC aber auch einen Weg der Bewegung die Luft abzudrehen. Dass es zu einem Vakuum führt, hindert es nicht daran, als Meta- Forderung zu fungieren, welche alle Teile dieser so heterogenen Dynamik zusammenbringen würde. Und die Menschen, die nur durch ihre Versammlungen ihre Stärke gewonnen haben, sind von diesem Vorschlag begeistert, dabei würde doch diese Pseudo-Konsultation alle zurück in ihre anfängliche Isolation als Wähler zurückschicken, in binären Entscheidungen über Fangfragen festgehalten, welche der Souverän für geeignet hält, sie dem Pöbel zu stellen. Das Referendum ist die höchste Form des politischen Spektakels [11].
Die ‘Macronie’, die bereit ist, sich auf dem Gebiet der Repräsentation zu öffnen, um ja nichts Konkretes aufgeben zu müssen, gibt so all denen Raum, die mehr oder weniger von Chouards Hirngespinsten beeinflusst wurden. Wie Rafik Chekat sagt: “Das Problem der Volksabstimmung (RIC) besteht darin, dass die Tyrannei der Mehrheit aufrecht erhalten wird. Warum sollte die Mehrheit immer Recht haben? Auch ohne allzu empfindlich zu sein, macht einen die Zugehörigkeit zu einer Minderheit misstrauisch gegenüber der Mehrheit, denn wir wissen sehr wohl, dass sie manchmal eher wie ein Lynchmob aussieht. Kannst du dir ein #RIC direkt im Anschluss an #charlie vorstellen? Es ist kein Zufall, dass die Forderung nach dem RIC von „Weißen“ kommt. Aber auch jenseits der Frage des Rassismus [***9] muss gefragt werden, was Mehrheitsbildung in einer Konsumgesellschaft bedeutet, zu Zeiten von #BFMTV, #TF1, [beides private Fernsehsender] und #Hanouna [sexistischer und homophober TV-Clown]? Im Grunde genommen ist das Problem des ‘RIC’ das der Abstimmung, dieses Mechanismus, der in regelmäßigen Abständen unsere Machtlosigkeit organisiert. Wir können versuchen, die Intervalle zu verkürzen und öfter abzustimmen, aber das wird zu keiner Änderung in der Sache führen. Wenn wir über Subjektivierung sprechen müssen, erschafft das Dispositiv der Abstimmung einen bestimmten Typ von Individuum mit einem beschädigten Verhältnis zu seiner Existenz, und speziell zur Politik, und zu öffentlichen Angelegenheiten.” Darüber hinaus ist es schwer vorstellbar, dass die Regierung ein Referendum über die Vermögenssteuer einberuft (laut Umfragen sind 2/3 der Franzosen dafür).
Das Regime hat soviel Mühe Gesprächspartner zu finden, dass es auf Facebook fischen gehen muss. Die Mehrheit der selbsternannten Führer, fast augenblicklich von den ‘Gilets Jaunes’ verstoßen, werden fein säuberlich in den Fernsehsendungen in Szene gesetzt und die Medien zeigen systematisch fragwürdig positionierte Charaktere – was es auch den selbstgerechten Linken ermöglicht damit zu beginnen die Bewegung zu verurteilen. Niemals zuvor waren die Medien so augenscheinlich das was sie sind: Neben der Polizei die zweite Säule des Regimes. Für sie geht es darum die Idee zu verbreiten, sie banal erscheinen zu lassen, dass es neben der Regierung nur die extreme Rechte gibt – von denen ja bekanntlich viele in den Polizeireihen stehen. Mit dieser Lüge hatte Macron bereits die Präsidentschaftswahlen gewonnen, und nun hat der Bollwerk-gegen-den-Front-National-Präsident einen neuen Trick, die “Grand débat”, und das erste Thema wird nun sein… die Immigration!
Die Bedeutung der so genannten sozialen Netzwerke ist in diesem Fall keineswegs nur eine Anekdote. In der Peripherie sozialisiert sich das Netz. Aber dennoch hatten all diese Menschen, die sich, einem Facebook-Aufruf folgend, in gelben Warnwesten wiederfanden, ein Erlebnis, das nicht virtuell ist. Die Frage ist nun, ob die ‘Gilets Jaunes’ die politische Klasse ablehnen, um eine Art Internet-Demokratie einzuführen bei der die Stimmzettel durch ein Äquivalent ersetzt würden, oder ob sie sich, wie von ‘Commercy’ (b) ausdrücklich eingeladen, in Versammlungen eines neuen Typs organisieren werden. Denn das Netzwerk sozialisiert sich nur, indem es einem geschlossenen Kreislauf des Unter-sich-bleiben erzeugt, in dem das Charisma einzelner “Whistleblower” in der Lage ist die Tiefe der Gefühle einzufangen. Es ist eine fragmentiertere Form der Medienmanipulation, welche die Mainstream-Medien dann als Regierungstechnik unterstützen können.
Ein tunesischer Freund, der am Aufstand 2011 teilnahm, sprach von der anfänglichen Fähigkeit der Aufständischen, mit Hilfe der sozialen Netzwerke sehr schnell zu mobilisieren, aber auch davon, dass die Polizei diese Vorteile sehr schnell verstand und bald in der Lage war einzugreifen, und Falschmeldungen und Desinformation zu verbreiten … Die Masse der Scheindebatten, die in den französischen Netzwerken kursiert, ist zweifellos vom selben Typ.
Die Scharniere zwischen Verkehrskreisel und Generalversammlung entstehen nach nun zwei Monaten der Unruhe. Auf der einen Seite die Verknüpfung von Nähe und Komplizenschaft vor Ort, die es ermöglichen, ohne lange Beratungen zu handeln – und wir wissen, wie sehr die Diskussionen auf Versammlungen demotivieren können, wenn es um direkte Aktion geht – was aber nur auf lokaler Ebene funktioniert. Auf der anderen Seite die direkt miteinander verknüpften Versammlungen, welche als Forum für strategische Reflexion und taktische Koordination dienen können.
Aus gegensätzlicher Perspektive gedacht, könnten die ‘Gilets Jaunes’ auch eine demagogische Bewegung analog den “5 Sternen” in Italien hervorbringen. Ein Teil ist wahrscheinlich versucht diesem Weg zu folgen, auch wenn er bedeutet, sich vom Rest der Bewegung abzutrennen. Es sei jedoch daran erinnert, dass die “5 Sterne” vollständig künstlich erfunden wurden – auch wenn sie auf der kurzlebigen Bewegung der “Forconi” [ital. Mistgabeln] mit schwammen. Nach dem was wir heute wissen, würde es den ‘Gilets Jaunes’ hier an einem für die Massenaufmerksamkeit so wichtigen Medien-Clown wie Beppe Grillo mangeln, einem bekannten Entertainer, der von ein paar Geschäftsleuten in den Sattel gehievt wurde. Das berlusconische Intermezzo war aufgebraucht, und es brauchte dringend ein neues Produkt. Italien hat sich von einer jahrzehntelangen Regierung der Verschwörungen (P2, Andreotti, die ‘Strategie der Spannung’ und Allianzen mit der Mafia) zu einer Regierung der TV-Übertragung, Mani Pulite [spektakulärer Korruptions-Prozess], Berlusconi und Beppe Grillo entwickelt. Das Problem mit diesem Regierungssystem ist, dass es notwendig ist, die auftretenden Charaktere so oft zu erneuern, wie das Showbusiness die Stars erneuern muss, die es selbst produziert.
In einer Zeit, in der der postfordistische Kapitalismus sein Überleben dem Aufstieg des fiktiven Kapitals verdankt und jetzt offen agieren kann, fördert die Verurteilung der Finanzexzesse – welche das Wesentliche beiseite lässt, nämlich die Kritik an Wert, Geld und Ware – nur all die Wunderlösungen und Demagogien. Wir erinnern uns zum Beispiel an den schlechten Witz der Tobin – Steuer oder an den Kandidaten Hollande: “Mein Feind ist die Finanzwelt” (Der war gut!). Wenn fast alle Arbeiter arbeiten, um ihre Kredite zurückzuzahlen (vor allem fürs Auto….), ist es normal, dass die Banken zum primäres Ziel werden, in Worten wie im Vandalismus (An dieser Stelle eine besondere Würdigung den ‘Gilets Jaunes’ von Toulouse, die vergangenen Samstag mehrere Banken geplündert haben). Aber es gibt Grund zur Vorsicht, wenn die Hinweise auf die Banque Rothschild etwas zu nachdrücklich sind, im Gegensatz zu BNP-Paribas oder Société Générale (deren Rettung durch den Staat nach der Krise 2008 die Steuerzahler 30 Milliarden Euro gekostet hat…). Die Tatsache, dass Macron seine Karriere gerade bei dieser Bank begann, lockt offensichtlich den Antikapitalismus der Narren hervor, die in sozialen Netzwerken auf “jüdisches Kapital” verweisen.
Es ist möglich, dass dieses System wirklich am Ende ist. Von seinen brutalen Söldnern beschützt, kann es immer wieder neue Unverschämtheiten wagen – wie zum Beispiel Ende Dezember ein skandalöses System gegen die Arbeitslosen anzukündigen. Die Flucht nach vorne in Form von repressiver Eskalation hat sich seit dem Frühling 2016 weiter verschärft. Der Angriff auf die militante Besetzung gegen das Flughafenprojekts NDDL im April/Mai diente als großes Manöver. Dutzende Schwerverletzte und Verstümmelte, kollektive und individuelle Demütigungen, Prügel und polizeiliche Einschüchterung griffen ineinander und die empörten Reaktionen der gesamten Medienkaste auf die schöne Geste Christophe Dettingers (c)und die anschließende Solidarität sprechen Bände über den ekelhaften Zynismus dieser Lakaien der Macht. Wenn wir nur all die Demonstranten sehen könnten, die systematisch von der Polizei verstümmelt wurden, und von denen sie nie sprechen. Wie sogar einige Polizeiführer zugaben, gab es Anweisungen von oben schwere Verletzungen in Kauf zu nehmen. Die Menschen aber lernen, und wir sehen, dass immer mehr Demonstranten zumindest zum Selbstschutz ausgerüstet sind (mit Gasmasken, Skibrillen, Schals, Handschuhen, etc.). Aber es ist klar, dass die Bewegung noch nirgendwo in der Lage ist, sich in einem Maße zu organisieren, um die Polizei zu besiegen, und hier zeigt sich auch der demobilisierende Charakter pazifistischer Reden. Das verweist auch auf die beschränkte Effektivität der Blockaden. Die Polizei hatte bisher keine Schwierigkeiten Zugänge freizuräumen, insbesondere an strategischen Standorten wie den Ölraffinerien – aus diesem Blickwinkel nichts Neues im Vergleich zum Frühjahr 2016. Darüber hinaus erscheinen seit einiger Zeit in den Samstagsmärschen selbsternannte Ordner, unter denen es sowohl ehemalige Soldaten als auch Überläufer der CGT-Ordner gibt. Und auch wenn sie Probleme haben die Masse zu kontrollieren, sollte so etwas eigentlich nicht möglich sein.
Diese Bewegung, die keiner vertikalen und zentralisierten Führung gehorcht, führt zu einer Vervielfachung lokaler Initiativen. Aber diese können von einem Ort zum anderen völlig verschieden sein. Nach zwei Monaten der Aufregung rückt die Zeit der Entscheidung näher. Eine Partei, im historischen Sinne des Wortes, erweist sich als die siegreiche Partei, indem sie sich in zwei Parteien aufspaltet: Sie beweist damit, dass in ihr selbst das Prinzip enthalten ist, mit dem sie bisher gegen die Außenwelt kämpfte, und entledigt sich damit der Einseitigkeit, mit der sie die Szene betrat. Die gegensätzlichen Elemente, die innerhalb der Bewegung nebeneinander stehen, blieben bisher durch die geteilte Feindschaft gegen das derzeitige Regime bestehen. Die Befürworter eines institutionellen Auswegs – der natürlich autoritärer und rassistischer Natur wäre – würden dann gegen die Befürworter einer Erweiterung der Bewegung auf alle Aspekte der globalen Fabrik aus einer revolutionären Perspektive stehen. Tatsächlich vervielfachen sich die Fälle von Arbeitskämpfen, bei denen ‘Gilets Jaunes’ und “chasubles rouges” [rote Jacken der Gewerkschaften bei Streiks] zusammen Streikposten stehen. Es ist nicht schwer vorstellbar, dass die Bewegung einen Anstoß für Arbeiter gibt, basierend auf konkreten Forderungen, ihre Unternehmen von innen zu blockieren. Die Leitungen der nationalen Gewerkschaften würden damit auf dem Müllhaufen der Geschichte landen, und ein neues Kapitel der Geschichte würde endlich aufgeschlagen. Und das würde bedeuten, dass jeder Partei ergreifen müsste.
Die neuesten Nachrichten sind gerade, dass ‘Gilets Jaunes ‘eine Monsanto – Fabrik blockieren, ein Schlüsselelement der globalen Fabrik…
Alèssi Dell’Umbria, 21. Januar 2019.
Fußnoten des Autors:
[1] Beim Warenverkehr geht es nicht nur um den Transport und die Verteilung von Produkten: Die Waren beginnen zum Beispiel [schon] an den Warenbörsen zu zirkulieren, bevor sie zum ersten Mal [physisch] bewegt werden. Umgekehrt werden die Rohstoffe, die ein Industrieunternehmen zur Verarbeitung kauft, mit Wert versehen weil sie gekauft wurden, und sie werden selbst Teil der Wertermittlung des Endprodukts: Hier ist der Kreislauf der Produktion vorläufig.
[2] Die Kleinunternehmer, die sich weigerten die Steuer auf Diesel zu akzeptieren, welche ihre allgemeinen Kosten erhöhen würde, versäumten es nicht sich von den Bettlern zu distanzieren, welche beabsichtigten zu klagen. Eine ‘Gilet Jaune’ aus Ales verurteilte so am 20. Dezember letzten Jahres den Verrat einiger: «Schande über die ‘Unpolitischen’, die so tun, als ob sie die ‘Gilets Jaunes’ der Sevennen führen, in ihrer Unruhe über das Schreckgespenst der ‘Anarchisten’, ihnen von den Geheimdiensten in die Ohren geflüstert… (…) Heute habe ich keine Lust mehr meine Worte mit Bedacht zu wählen. Aber es ist mit großer Gelassenheit, dass ich diese vorgeblichen “Koordinatoren” anklage; sie sind Verräter und Verkäufer der schlimmsten Art. Denn es ist die nackte Wahrheit, dass ein kleiner Teil der Unternehmer den armen Senioren, den Arbeitslosen, denen vom Mindestlohn Lebenden und den Prekären alles versprachen, um sie hinter sich zu scharen. Nachdem sie die Aufhebung der Steuer erreicht hatten, gaben diese Personen vor die Bewegung zu strukturieren, so dass sie eine neue Richtung einschlägt, mit dem Ziel diese historische Bewegung zu stoppen, und sich anlässlich der Feiern am Jahresende mit Geld zu überfressen. (…) Was euch betrifft, die Nachbarn und Kollegen, die seit Wochen auf den Beinen sind; ihr, die ihr auch bei Wind, Kälte, und Regen nicht aufgegeben habt; Ihr, die an den Sperren Solidarität und Würde wiederentdeckt habt; Ihr, der Bodensatz ohne Namen, ohne weitere Ansprüche als ein zweckmässiges Leben; ich salutiere euch, und sende euch die wärmsten Grüsse der Gilets Jaunes aus dem Elsass, aus Franche-Comté, von der A7 [Lyon-Marseille] und aus Bollène! »
[3] Michel Jobert, damals Stabschef von Premierminister Georges Pompidou, hatte die Operation organisiert – 20 Jahre später prahlte er öffentlich damit.
[4] Im Januar 2016 beispielsweise verursachte der Anstieg der Benzinpreise in Mexiko eine Welle massiver Demonstrationen, welche oft zu Unruhen und Plünderungen führten; was sicher nicht der neoliberalen Ideologie zu verdanken war!
[5] Die Hauptgründe für die Aufruhr waren Steuern und die Wehrpflicht. Boris Porchnevs Buch ist in dieser Hinsicht erhellend. “Les soulèvements populaires en France de 1623 à 1648”, Paris 1963, neu aufgelegt: Flammarion 1972.
[6] Dennoch müssen wir relativieren, welchen Effekt die Blockaden hatten… Während der Handel in den Innenstädten von den Aufständen betroffen war, und diese den Umsatz beeinflussten, ist die Wirksamkeit der Blockaden alles andere als offensichtlich. Die Versorgung war weiterhin gewährleistet, an den Tankstellen ging nie der Treibstoff aus, die Supermarktregale wurden weiterhin aufgefüllt und die weihnachtliche Verschwendung konnte sich frei entfalten, wie in den anderen Jahren.
[7] Die Verfassung der Fünften Republik gewährt dem Präsidenten Befugnisse, welche er unter früheren parlamentarischen Regimen niemals hatte, insbesondere die Befugnis, durch Präsidialverordnungen Gesetze ohne die Nationalversammlung zu erlassen. Wir wissen, dass De Gaulle, jemand von monarchistischer Sensibilität, überlegte 1958 eine konstitutionelle Monarchie einzuführen. Was er auch in gewisser Weise tat: Ein Monarch, der aber jetzt gewählt wird.
[8] In der großen Ära der anti-monarchischen Revolten in Okzitanien identifizierten sich diese Revolten als “lo comun” [langue d‘oc, die Gemeinde] viel mehr als denn als “lo pòble”
[langue d‘oc, das Volk]
. Das Gemeinsame ist genau das politische Konzept, welches einer revolutionären Zukunft der Kämpfe entspricht.
[9] Der Begriff der “moralischen Ökonomie”, den manche mit Blick auf die Gilets Jaunes verwenden, scheint uns in diesem Fall nicht relevant zu sein – schon deshalb nicht, weil E. P. Thompson ihn in Bezug auf eine inzwischen verschwundene englische Arbeiterklasse formuliert hat, ganz zu schweigen von der “Common Decency”, die George Orwell so wichtig ist. Sicherlich gibt es immer noch eine weit verbreitete Arbeitsmoral in den populären Klassen, mit der man, wenn man sich nicht gerade durch die Arbeit der Massen bereichert, doch zumindest eine gewisse Sicherheit, eine relative Leichtigkeit und ein vages Gefühl der persönlichen Würde erreichen will. In diesem Zusammenhang könnte Sarkozys “Mehr arbeiten, um mehr zu verdienen” bei diesen Menschen Gehör finden. Sie sehen jetzt
[aber]
, dass ihnen nichts davon tatsächlich garantiert ist – nicht einmal ein wohlverdienter Ruhestand nach einem harten Arbeitsleben. Die Macronie ist ein Manager-Denken ohne politische Vermittlung auf die gesamte Gesellschaft angewendet. Der Kapitalismus in seiner essenziellen Brutalität.
[10] “Gilets jaunes : la classe moyenne peut-elle être révolutionnaire ?” LundiMatin 7. Dezember 2018.
[11] Im Fall von Notre-Dame-des-Landes [NDDL] haben wir gesehen, wofür dieser kleine institutionelle Trick des Referendums gedacht war – und Macron war Minister in der Regierung, die diesen protzigen Schlag versuchte… Jetzt können wir gut sehen, wofür die aktive Verwirrung [***7] durch Demagogen wie Etienne Chouard steht.
Fußnoten des Übersetzers:
[***0] Ich verstehe hier “limonade” als “Bewohner der Limousin”, also von Paris/Versailles aus gesehen “Provinzler”.
[***1] Dell’Umbria verwendet hier “parpagnàs” als Bezeichnung für Menschen, ein Wort, dass eigentlich so etwas wie “übrigens” oder “nebenbei bemerkt” bedeutet.
[***2] Dell’Umbria verwendet hier “soldèrent”, was sowohl “in etwas enden”, wie auch “etwas im Preis herabsetzen” bedeutet, so dass das Bild der Niederlage von dem des Schlussverkaufs überlagert wird.
[***3] Eigentlich ein Wortwitz, so etwas wie “Es lebe sein Aussterben!”.
[***4] Dell’Umbria verwendet hier “drapeaux BBB”. Nach wirklich langwieriger Recherche kann ich nur vermuten, dass dies ein Fehler im Orginaltext ist, und “drapeaux BBR”, also “bleu, blanc, rouge” heissen soll, die Farben der französischen Nationalflagge.
[***5] Dell’Umbria verwendet hier “déboulés”, was sowohl “herbeistürmen” bedeutet, als auch “herunterpurzeln”.
[***6] Dell’Umbria verwendet hier “citoyennistes”, also vielleicht eher “die, welche der Ideologie des Staatsbürgers anhängen” oder “Staatsbürger-Fetischisten”
[***7] Dell’Umbria verwendet hier “confusionnisme”, ein Wortspiel mit “confusion” [Verwirrung], und “confucianisme” [Konfuzianismus].
[***8] Zumindest im Subtext hat diese “alltägliche Sklaverei” aber zwei Ebenen: Zum einen die fremdbestimmte, aber doch geregelte Lohnarbeit der Mittelklasse des Westens, darunter aber als Unterbau auch noch das oft völlig unregulierte, oft wirklich Sklaven-gleiche Schuften der Marginalisierten des globalen Südens.
[***9] Alle meine Wörterbücher schlagen mir hier “Rassenfrage” vor, doch was immer der Kontext im Französischen, ist doch dieser Begriff im Deutschen selbst ein rassistischer. Und, nach kurzer Reflektion sollte allen klar sein, dass die “Rassenfrage” letztendlich nichts weiter ist, als die Frage oder vielleicht eher die Problematik des Rassismus.
Fußnoten und Anmerkungen des Lektors:
(a) Adama Traoré starb bei seiner Festnahme durch die Bullen in einem Vorort von Paris. Familienangehörige und Freunde kämpfen seitdem gemeinsam gegen den strukturellen, gewalttätigen Rassismus bei den Bullen. Das Komitee ist mittlerweile in Frankreich sehr bekannt.
© https://www.youtube.com/watch?v=5fRlwjwJ-Do
Mir oblag die undankbare Aufgabe, bei beschränkten Fremdsprachenkenntnissen, die liebevolle Übersetzungsarbeit des Genossen zu lektorieren. Eine besondere Schwierigkeit besteht darin, dass den geneigten Leser*innen die diversen politischen und gesellschaftlichen Ereignisse, auf die sich der Text bezieht, nur zum Teil bekannt sein dürften. Anderseits würde es wenig Sinn machen, alle erwähnten Geschehnisse und Subtexte zu erklären, bzw. zu schildern. Auch dürften weitere in Klammern gesetzte Erläuterungen den Text unlesbar gestalten, bzw. macht es keinen Sinn endlos ausufernde Fußnoten anzuhängen. So muss ein Jeder und eine Jede nun mit dem vorliegenden Kompromiss leben.