Henker mit tausend Gesichtern

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Spanischer Faschismus

Der neue Faschismus

In der Europäischen Union wie auch in vielen anderen Teilen der Welt verfolgen wir einen unaufhörlichen Prozess des politischen Wandels der extremen Rechten. Haben wir es dabei mit Vorboten der Rückkehr des Faschismus zu tun? Wir beobachten fremdenfeindliche, rassistische, frauenfeindliche, sexistische und antibaskische Handlungen, die sich immer häufiger auch im Baskenland selbst ereignen. Sind sie ein Ausdruck der Reaktivierung des Faschismus? Fragen, die wir uns als Linke derzeit stellen müssen.

Der Artikel des ehemaligen Batasuna-Politikers Joseba Alvarez (Gipuzkoa) umreißt eine der aktuellsten und wichtigsten Aufgaben der baskischen Linken: die Frage nach den Hintergründen des starken Aufschwungs ultrarechter und neo-faschistischer Kräfte. Beginn einer Debatte.

Vorbemerkungen

Die ultrarechten und geradeheraus faschistischen Parteien, die im Europa-Parlament vertreten sind, vereinen mehr als 100 Millionen Stimmen auf sich. In den USA bläst ein abgewählter Präsident zum Sturm auf das Parlament, weil er weder seine Abwahl noch die “demokratischen“ Spielregeln anerkennt. In ost-europäischen Staaten wie Ungarn, Rumänien oder Tschechien wird von Seiten der Politik ein offener Anti-Ziganismus propagiert. Der baskische Journalist Pablo Gonzalez ist seit einem Jahr in Polen inhaftiert, ohne Anklage, ohne Rechtsvertretung, ohne Besuche, wegen des angeblichen Verdachts der Spionage für Russland, für den es keinerlei Anhaltspunkte gibt.

In Frankreich sind die “demokratischen Kräfte“ zum vierten Mal in Folge glücklich, dass die neofaschistische Gefahr (Le Pen) abgewehrt werden konnte, mit dem Resultat, dass der neoliberalen Rechten (Chirac, Macron) alle Türen weit geöffnet werden. Marseille wird von einem Faschisten regiert. In Deutschland hat sich eine ultrarechte Kraft installiert (AfD), die zwischen 10 und 25% der Wahlstimmen auf sich zieht. Dasselbe gilt für Spanien mit Vox, auch im Nachbarland Portugal ist eine neofaschistische Kraft auf dem Vormarsch (Chega). In Italien regiert eine ausgewiesene Mussolini-Anhängerin (Meloni) zusammen mit einem erklärten Migrationsfeind.

Bei einem 60-Jahre-Rückblick entdecken wir eine Welt, in der linke oder zumindest progressive Kräfte und Bewegungen eine Hegemonie innehatten: Studierenden-Bewegung, Revolution in Kuba, Befreiung in Algerien, Rote Brigaden, RAF, Tupamaros, Bewegung gegen den Vietnam-Krieg, Black Panther Party, anti-koloniale Befreiungs-Bewegungen. 2023 ist davon wenig übrig, die Rechte, die Ultrarechte und Faschisten haben die Hegemonie übernommen.

Joseba Alvarez

Einige wollen im Namen vermeintlicher historischer Strenge die aktuellen Ereignisse und Tendenzen im faschistischen und faschistoiden Spektrum nicht als "Faschismus" bezeichnen und verwenden andere Begriffe, um jene Prozesse der in der Gesellschaft zu bezeichnen: "extreme Rechte", "ultra-rechts", "neo-faschistische Rechte". Diese Form des Umgangs verschleiert den tatsächlichen Ernst der Tendenz, die sich in den westlichen Gesellschaften abspielt, sie verdeckt die breite, pluralistische und soziale Zusammensetzung des neuen Faschismus. Der Faschismus von heute hat tausend Gesichter. (1)

“Im Baskenland, wenn auch noch in schwacher Ausprägung, sehen wir jeden Tag Anzeichen dafür, dass dieser neue Faschismus langsam Wurzeln schlägt. Auch hier gibt es immer mehr marginalisierte gesellschaftliche Sektoren, die weder an die herrschende politische Klasse noch an die bekannte klassische Politik (Demokratie) glauben, und zum Nährboden für diese faschistische Bewegung werden“. (1)

“Auch wenn sich die Faschisten im Baskenland noch nicht auf breiter Ebene organisiert haben. Nicht alle Leute aus diesen ultrarechten Sektoren glauben an eine Demokratie, die auf den üblichen politischen Kräften und allgemein bekannten Mechanismen basiert, einschließlich der aktuellen Mitte-Rechts-Parteien und der reformistischen Sozialdemokratie, die keine Lösungen hat für die wirklichen existenziellen Probleme, mit denen sie konfrontiert sind“. (1)

Einwände

(1) Dass die faschistoiden Sektoren nicht an die Demokratie glauben, ist zu kurz gegriffen, denn in Wirklichkeit verachten sie diese Form der Vergesellschaftung. Aber sie haben eine neue Strategie entwickelt: sie spielen die Demokraten und nutzen demokratische Formen und Institutionen für ihre Propaganda und politische Praxis, zumindest so lange, wie sie in der Mehrheit sind, danach wird die Putschisten-Nummer gezogen, wie in USA und Brasilien zu sehen war.

(2) Zum Thema Faschisten in Euskal Herria / Baskenland muss differenziert werden. Diese Differenzierung geht entlang der drei Verwaltungs-Einheiten, in die das Baskenland unterteilt ist: Euskadi, Navarra und Iparralde. In der Region Navarra, das im Spanienkrieg gleich nach dem Militärputsch auf faschistischer Seite stand, gab es in den vergangenen Jahrzehnten immer kleine organisierte Gruppen, die Anschläge, Folter, Entführungen praktizierten und mit Kräften aus dem Staat, der Polizei und dem Militär in Verbindung stehen.

In Euskadi, das im Spanienkrieg auf der republikanischen Seite stand, einschließlich der rechts-katholischen PNV, gab es diese Tendenz nicht. Nicht zuletzt die Präsenz von ETA führte zu einer linken Hegemonie, die bis heute ihre Auswirkungen hat, selbst in der neoliberalen PNV bezeichnen sich einige noch als Linke.

Dritter Bereich ist Iparralde, das französische Baskenland, das zwar Baskenland ist, aber eben doch auch Frankreich mit der neofaschistischen Partei Front National, die sich mittlerweile in Rassemblement National umbenannt hat, um salonfähiger zu werden. Sie erreicht zwar nicht dieselben Stimmenanteile wie in französischen Städten, spielt aber an baskischen Wahlurnen durchaus auch eine Rolle.

Wo also sind im Baskenland Faschisten zu finden? Beileibe nicht nur (wie Joseba Alvarez schreibt) in den marginalisierten Vierteln. Wer Wahlergebnisse nach Stadtteilen studiert stellt fest, dass in großbürgerlichen Stadtteilen ebenfalls viele Anhänger zu finden sind. Vor allem jedoch sticht ins Auge, dass sich die Wohngebiete, in denen sich Militär- oder Guardia-Civil-Kasernen befinden, durch einen extrem hohen faschistischen Stimmenanteil auszeichnen, der die Durchschnittswerte um ein sechsfaches in den schatten stellt. Das dürfte, vielleicht in geringerem Ausmaß, auch für die baskische Ertzaintza-Polizei gelten, die nicht kaserniert ist und deshalb keine derart eindeutigen Werte offenbart. Als Maßstab könnten hier die “Gewerkschaften“ angelegt werden, in denen sich die als Schlägertrupps bekannten Beamten organisieren. Die zeichnen sich durch einen stark rechtslastigen und teilweise ausländerfeindlichen Diskurs aus.

Nicht nur anekdotisch, sondern auch vielsagend ist die Tatsache, dass der Gründer und Chef der Faschisten-Partei Vox (Santiago Abascal) ein Baske aus Amurrio ist, ebenso wie der legendäre PP-Politiker und PP-Rechtsaußen Jaime Mayor Oreja, der einst spanischer Innenminister war und für den Posten des baskischen Ministerpräsidenten kandidierte. JMO hat verschiedene ultrarechte NGOs unter seinen Fittichen und ist einer der wichtigsten spanischen Arbeitgeber im Bereich Sicherheitsdienste. Fehlt nur noch der Hinweis, dass die ultrakatholische Sekte Opus Dei (latein: Werk Gottes) ihren wichtigsten Sitz in Iruñea / Pamplona (Nafarroa) hat und dort eine Universität betreibt, in der neue ultrarechte Generationen ausgebildet werden. Opus Dei betreibt auch Schulen, die über Verträge von den jeweiligen Regionalregierungen ko-finanziert werden. In Euskadi gab es zuletzt (2023) eine Polemik: weil in Opus-Schulen Geschlechter-Trennung unter Kindern praktiziert wird, will die baskische Regierung die Zuschüsse sperren.

Joseba Alvarez (…)

“Was von ebenso großer Bedeutung ist: dass es im Baskenland derzeit keine relevante linke revolutionäre Alternative gibt. Das Baskenland ist somit in Alarmgefahr, wenn wir uns nicht bewegen, werden wir vom Stier erwischt. Der extremen Rechten (im spanische wie im französischen Staat) ist es gelungen, in den sozialen Sektoren, die von der kapitalistischen Krise hart getroffen wurden, Fuß zu fassen. Dabei benutzt sie verschiedene Arten von Populismus und Propaganda“.

“Die Faschisten sind die einzigen Parteien, die auch bei Wahlen stärker werden. Zwar haben sie heute noch keine organisierte faschistische Alternative präsentiert, aber sie sind auf dem Weg dorthin. Mit ihrer Tagesordnung haben sie sich über die Themen Migration, Sicherheit, Identität, Religion, Vielfalt zur ‘Stimme der Stimmlosen‘ gemacht“.

“All dies nährt den faschistischen Prozess, der im Untergrund immer stärker wird. Die extreme Rechte bestimmt zunehmend die politische, wirtschaftliche, kulturelle, wahlpolitische und auch die soziale Agenda der Gesellschaft. In der Europäischen Union, und früher oder später auch im Baskenland, wird die Trennung zwischen der Rechten, der extremen Rechten, den Ultras und der faschistischen Bewegung zunehmend verschwimmen. Im öffentlichen baskischen Fernsehen EITB, in der Ertzaintza-Polizei und auf unseren Fußballplätzen beispielsweise wächst bereits die Toleranz gegenüber faschistischen Symbolen. Auch faschistische Graffitis und immer zahlreicher werden Anschläge, werden langsam zur Normalität. Politische Kräfte wie Vox genießen im gesamten Baskenland die volle rechtliche, politische und polizeiliche Unterstützung“.

“Jene Kultur und Ideologie, die derzeit immer stärker wird, artikuliert sich in der gesamten Europäischen Union um die Säulen der faschistischen Bewegung und, zwar etwas langsamer, auch in Euskal Herria. Was wir jeden Tag erleben, ist keine Schwächung der faschistischen Bewegung und ihrer Tagesordnung, sondern das Gegenteil“.

“Aus diesen Gründen sind zwei Schritte wichtig. Der erste ist die Stärkung der antifaschistischen Bewegung. Und zweitens geht es darum, eine breite revolutionäre und antikapitalistische Linke aufzubauen, die den Faschisten eine soziale, wirtschaftliche, politische und kulturelle Alternative entgegensetzt und die alle von der Krise betroffenen Sektoren zusammenführt. Wir wollen frei leben“. (1)

Fazit

Was faschistische Umtriebe anbelangt, steht das Baskenland nördlich und südlich der Pyrenäen momentan noch relativ gut da, das Erbe der republikanisch-linken Tradition ist noch nicht aufgebraucht. Im Parlament in Navarra sind bislang keine Faschisten vertreten, in Euskadi hat Vox einen Sitz. Praktiziert wird hier eine Art von kommunikativem Ausschluss gegenüber Vox, das heißt, die Beiträge der faschistischen Abgeordneten werden nicht beantwortet, um keine Schlagzeilen zu liefern. Auch das öffentliche Fernsehen hält sich an die Marginalisierung der Partei. Doch steht das alles auf wackligen Beinen und kann schnell kippen. Denn eine real antifaschistische Stimme ist im Parlament nicht vertreten.

Die Kommunalwahlen im Mai werden zeigen, wie die Nadel im Trendmesser ausschlägt. Bei den letzten Kommunalwahlen in Euskadi und Navarra kam Vox nicht über ein Prozent hinaus, Tendenz allerdings aufsteigend. Die Faschisten führen im Übrigen einen anderen Wahlkampf als die übrigen Parteien: sie präsentieren ihre Infotische nicht in ihren “Hochburgen“, sondern bevorzugt in den marginalisierten Arbeitervierteln, die traditionell als links bekannt sind und in denen die baskische Linke die stärkste Kraft ist. Diese Provokationen sorgen für mehr Schlagzeilen, weil sie von Polizei-Hundertschaften begleitet werden und sich Dutzende von Journalisten einfinden auf der Suche nach dem Steinwurf.

Tausend Gesichter

Was Joseba Alvarez trotz seiner Überschrift “Der Faschismus hat tausend Gesichter“ nicht erläutert, sind die neuen Erscheinungsformen des parlamentarischen Faschismus: nicht mehr mit antisemitischen Hetzreden, Holocaust-Leugnung und blauen oder braunen Hemden, sondern leger ohne Krawatte (wie Abascal), als der Nachbar von nebenan, mit denselben (willentlich geschürten) Ängsten und Problemen. Die neuen Faschisten (zumindest im spanischen Staat) arbeiten mit einem Heer von Anwälten, die alle politischen Entscheidungen und Gesetze juristisch anfechten, egal ob auf staatlicher oder regionaler Ebene. Wenn es sein muss bis zum Verfassungsgericht, weil dort besonders große Chancen auf Erfolg bestehen. Die manchmal fließenden Grenzen und Überlappungen zwischen faschistischer Propaganda und rechtem Populismus werden bis zum Exzess ausgereizt.

Die Faschisten nutzen (neben den Parlamenten als propagandistische Bühne) alle Instrumente des bürgerlich-demokratischen Staates. Vox will die Autonomien und Provinz-Regierungen im spanischen Staat abschaffen. Man will nicht nur die baskische Linke als “Erben des Terrorismus“ verbieten lassen, sondern die baskische Rechte (PNV) gleich mit. Und die katalanischen Unabhängigkeits-Parteien ebenfalls. Offener Totalitarismus. In Madrid regiere eine “kommunistische Horde“, so die strammen Postfranquisten. “Führer“ Abascal hebt bei der Kundgebung nicht die Hand zum Führergruß, das überlässt er den Dümmlingen auf der Straße (siehe Titelbild). Was er sich nicht nehmen lässt: in weißem Hemd den Massenmörder Franco und dessen Heldentaten in den Himmel zu loben. Dagegen hat die spanische “Demokratie“ noch keine Mittel gefunden – was für eine “Demokratie“.

(1) Originaltitel: “Borreroak baditu milaka aurpegi“ (Der Henker hat tausend Gesichter), Autor: Joseba Alvarez, publiziert bei Sare Antifaxista, 2022-12-04

https://sareantifaxista.blogspot.com/2022/12/verderos.html

Veröffentlicht bei:

www.baskultur.info/politik/antifa/924-faschismus

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